Neuer Wind für unsere Welt

Hochfest von Pfingsten: Röm 8,8–17 oder 1 Kor 12,3b–7.12–13 (Apg 2,1–11; Joh 20,19–23 oder Joh 14,15–16.23b–26)

Hinweis: Die alternative Lesung 1 Kor 12, 3b– 7.12–13 wurde am 2. Sonntag im Jahreskreis bereits kommentiert.

Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Aber wer ist der Heilige Geist? Selbst für gläubige und religiös informierte Menschen ist er der grosse Unbekannte in der dreifaltigen Gottheit. Als Epistel sieht die Liturgie für Pfingsten Röm 8,8–17 vor, der dichteste Paulus- Text über den Heiligen Geist – so dicht, dass auch er sich nur schwer erschliesst.

Der Geist Gottes im jüdischen Kontext

Das hebräische (alttestamentliche) ruach kann sowohl «Wind» wie «Atem», «Leben» oder eben «Geist» bedeuten – das griechische (neutestamentliche) pneuma übrigens genau so. Die ruach ist im AT einerseits eine auf Gott bezogene Grösse, andererseits aber auch dem Menschen ganz innerlich. Am Anfang, so berichtet die Schöpfungserzählung in Gen 1,2, schwebte die ruach Gottes über der Urflut (Gen 1,2). Sie stellt für den Erzähler offenbar die Schöpfermacht Gottes dar. Nach Gen 2,7 macht der schöpferische Atem Gottes (das Wort ruach wird hier allerdings nicht verwendet) den Menschen lebendig. So ist es denn auch verständlich, dass ruach zur Konstitution des Menschen gehört, sein innerstes Lebensprinzip, sein Gemüt, eben seinen Geist, bezeichnen kann. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass der Mensch von seiner Herkunft her und in seinem Innersten auf Gott bezogen ist. Aber der Geist verbindet nicht nur den Einzelnen zutiefst mit Gott. Er ist es auch, der in der Geschichte Israels wirkt. Er kommt über die führenden Gestalten des Volkes Gottes und treibt sie an. Das Gotteswort an Mose in Num 11,17 spricht das in prägnanter Weise aus: «Ich nehme etwas von dem Geist, der auf dir ruht und lege ihn auf sie [die Ältesten Israels]. So können sie mit dir zusammen an der Last des Volkes tragen.» Vor seinem Tod legt Mose seinem Nachfolger Josua die Hände auf und gibt ihm den Geist weiter (Dtn 34,9). Später sind es die Richter, die Könige und die Propheten, durch die der Geist Gottes an Israel wirkt. Immer wieder sprechen die Propheten vom Wirken des Geistes in der messianischen Heilszeit. Der Messias selbst wird Geistträger sein (vgl. bes. Jes 11,1–3). Aber auch an ganz Israel wird der Geist wirken. In der Vision Ezechiels (37,1–14) bringt die ruach Gottes die toten Gebeine Israels wieder zum Leben. Bekannt ist auch die Verheissung in Ez 36,26: «Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.» Einen Schritt weiter geht Joel 3,1 (zitiert in Apg 2,17), wo die Ausgiessung des Geistes nicht nur über Israel, sondern «über alles Fleisch» verheissen wird. Dass dieser Glaube an das endzeitliche Wirken des Geistes auch später im Judentum lebendig bleibt, bezeugt vor allem die Qumran-Literatur (z.B. 1QS 4,20-23), aber auch andere jüdische Schriften wie das Jubiläen-Buch (1,23–25).

Paulus nimmt diese Fäden alttestamentlich- jüdischen Glaubens an das gegenwärtige und zukünftige Wirken des Geistes auf und verknüpft sie mit seinem Christusglauben. Er teilt den gemeinsamen Glauben der Urkirche, dass im Christusereignis die verheissene endzeitliche Ausgiessung des Geistes Gottes Wirklichkeit geworden ist, wie es die Pfingsterzählung (Apg 2,–13) bildstark zum Ausdruck bringt. Auch für Paulus ist die Gegenwart des Geistes in der Gemeinde eine zentrale Gegebenheit, auf die er immer wieder zu sprechen kommt. In Röm 8 nun betont er – in Kontinuität mit dem alttestamentlichen Glauben an die Leben schaffende Kraft des Geistes –, dass es der «Geist Gottes» ist, der Jesus von den Toten erweckt hat (8,11). Das beinhaltet nicht nur die Verheissung, dass er auch «euren sterblichen Leib lebendig machen» (8,11) wird; er ist auch der Geist, der jetzt schon «in euch wohnt» (8,11). Der Geist Gottes wirkt also nicht nur an den Glaubenden, sondern ist ihnen ganz innerlich. Er verbindet sie so eng mit Christus, dass sie – wie er – zu Söhnen und Töchtern Gottes werden. Und damit ist die Gewissheit verbunden, dass sie Miterben Christi sind (8,14–17), d. h., mit ihm das Leben und das Reich Gottes erben.

Röm 8 betont auch die Konsequenzen, die das Geschenk des Geistes für das Leben der Beschenkten hat. Er ist «das Prinzip einer erneuerten, heilen Lebenspraxis». Wenn Paulus so eindringlich davor warnt, sich in seinem Leben nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmen zu lassen, dann meint er das nicht einfach als Verpflichtung, sondern versteht es als Befreiung von der Sklaverei der Sünde, die er in Röm 6–7 so eindrücklich beschrieben hat. «Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, so dass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen [Töchtern] macht ...» (8,15). Das Leben von Sklaven ist durch Gehorsam und Furcht bestimmt, das von Töchtern und Söhnen hingegen durch die Liebe des Vaters und zum Vater.

Heute mit Röm 7,8–17 im Gespräch

Ist dieses Reden vom Heiligen Geist in unserer heutigen Welt nicht etwas zu entrückt, um noch zu bewegen? Bei näherem Hinsehen scheint mir daran manches durchaus vermittelbar zu sein. Wer von uns erfährt unsern heutigen Weltbetrieb nicht manchmal als geistlos und oberflächlich? Das gilt auch, wenn man nicht mit gewissen kirchlichen Kreise die heutige Welt generell als dekadent oder gar als böse ansieht. Und erfährt man nicht selten auch die Kirche heute als geistlos, wenn sie Strukturen und Gesetze scheinbar über die Liebe und das Verständnis für Menschen in schwierigen Lebenssituationen stellt (Bsp.: wiederverheiratete Geschiedene). Da ist der Geist, von dem es heisst, dass er das Angesicht der Erde erneuert, ein wirkliches Anliegen. Was könnte das von Röm 8,8–17 her konkret heissen?

1 Der Heilige Geist ist die Lebenskraft Gottes, die hinter allem Leben steht, das heute so vielfach missachtet wird. Er steht auch hinter dem Leben der Menschen, die im syrischen Bürgerkrieg sinnlos gemordet werden, hinter dem Leben der Vertriebenen, die oft keine Gastfreundschaft finden, hinter dem Leben behinderter, armer oder einfach hilfloser Menschen, die Fürsorge brauchen. Er steht auch hinter dem Leben der Schöpfung, die so vielfach gefährdet ist und unserer bewahrenden Rücksicht bedarf. An das Leben zu glauben und dem Leben zu dienen in all seinen Formen ist Leben nach dem Geist.

2 Der Heilige Geist schenkt uns die «Sohnschaft» und damit Befreiung von der Sklaverei und der Furcht. Er lässt uns frei und freimütig aufzutreten, wenn in unserer Umwelt Repression und Furcht (auch Menschenfurcht) herrscht und sich Geistlosigkeit breit macht. Das ist gesellschaftlich und politisch nicht immer bequem, aber heilsam und notwendig. Auch in der Kirche gilt das, die zu häufig mit Autorität und Gehorsam funktioniert, statt mit Freimut, gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit. Leben nach dem Geist macht frei von Sklavenhaltung und unguten Zwängen.

3 Der Heilige Geist ist der Geist Christi. Ihn ernst zu nehmen, heisst die Botschaft Christi ernst zu nehmen, diese Botschaft der Hoffnung und des Lebens für alle, die aber auch dazu aufruft, sich von der Gefangenschaft in der Selbstsucht zu befreien und den Menschen mit Liebe, d. h. mit Respekt, Rücksicht, Verständnis und – wo es nötig ist – auch mit Hilfsbereitschaft zu begegnen. Alles, was in unserer Welt an Einsatz für die Menschen geschieht, ist Wirkung des Geistes.

Papst Johannes Paul II. hat mehrmals formuliert, dass Christen berufen sind, der Welt eine Seele zu geben. Damit sind sie wohl überfordert. Aber der Geist Gottes, der das Angesicht der Erde erneuern kann, macht es möglich, wenn wir ernsthaft versuchen, uns von ihm leiten zu lassen.

1 Vgl. die erste Lesung des Pfingstgottesdienstes.

2 M. Theobald: Römerbrief Kapitel 1–11 (= SKK 6/1). Stuttg art 1992.

3 Mit Fleisch ist hier nicht der Körper gemeint, sondern das der Sünde verhaftete, «unerlöste» Menschsein.

Franz Annen

Franz Annen

Dr. rer. bibl. et lic. phil. et lic. theol. Franz Annen war von 1977 bis 2010 ordentlicher Professor für Neutestamentliche Exegese und von 1999 bis 2007 auch Rektor der Theologischen Hochschule Chur