Neue Sicht auf Oscar Cullmann

Cover

Martin Sallmann, Karlfried Froehlich (Hg.): Zehn Jahre nach Oscar Cullmanns Tod: Rückblick und Ausblick. TVZ-Verlag – BBSHT, Zürich 2012. 219 Seiten, Fr. 38.–.

Der Nachlass des Neutestamentlers wird erforscht und kommentiert. Von Oscar Cullmann existiert bisher keine wissenschaftliche Biographie. Der Sammelband mit unterschiedlichsten Beiträgen liefert neue Erkenntnisse. Es ist seltsam, wie man als junger Mensch irregeleitet werden kann: 1959 begann ich in Zürich mit dem Theologiestudium. Massgebender und von den Studenten bewunderter Neutestamentler (neben Eduard Schweizer) war Hans Conzelmann, ein Vertreter der Bultmann-Schule. Von ihm lernten wir, dass sein Basler Kollege Oscar Cullmann nicht lesenswert sei. Sein Buch «Christus und die Zeit» (1946, später in mehrere Sprachen übersetzt) genüge höheren Ansprüchen nicht. Sein Zeitbegriff sei «naiv». Völlig verfehlt sei seine «Christologie des Neuen Testaments » (1958). Man könne doch nicht die christologischen Würdetitel Jesu wie Perlen auf einer Schnur nebeneinanderreihen: Prophet, Gottesknecht, Hohepriester, Messias, Menschensohn und so weiter. Damals habe ich das unreflektiert übernommen. Über fünfzig Jahre später bietet sich ein anderes Bild: Während Conzelmann nur noch selten zitiert wird, gilt Cullmann (1902 bis 1999) heute als eine der grossen theologischen Gestalten des 20. Jahrhunderts. Sein Lebenswerk war enorm. Bis ins hohe Alter war er produktiv. Mit 92 Jahren publizierte er noch das Buch «Das Gebet im Neuen Testament». Da der aus dem Elsass stammende Cullmann nicht nur in Basel lehrte, sondern auch in Paris und Rom sowie zeitweise am Union Theological Seminary in New York, hatte er eine grosse Ausstrahlung. Er war Brückenbauer zwischen verschiedenen Kulturen. Früh fand er auch die Aufmerksamkeit römisch-katholischer Theologen – besonders seit seinem Petrusbuch von 1952, obwohl er seine Skepsis im Zusammenhang mit dem angeblichen Petrusgrab unter dem Petersdom nicht verschwieg.

Ökumenische Offenheit

Sein heilsgeschichtlicher Ansatz gefiel dem späteren Papst Paul VI. Als persönlicher Gast des Vatikans wurde er ans Zweite Vatikanische Konzil eingeladen. Karl Barth spottete, auf Cullmanns Grabstein müsse es einmal heissen: «O. C. Vertrauensmann dreier Päpste» (Pius XII., Johannes XXIII., Paul VI.). Cullmann korrigierte: Er verstehe sich als Freund, allerdings «nicht im eigentlichen Sinn, ausser bei Paul VI., mit dem mich echte und bis zuletzt in Wort und Tat bezeugte Freundschaft auf der Grundlage einer christozentrischen, biblisch-heilsgeschichtlichen Theologie und des daraus erwachsenden realistischen Ökumenismus der Einheit durch Vielfalt verband.» Die Formulierung zeigt, dass Cullmann bei aller ökumenischen Offenheit ein bewusster Protestant blieb. In seinem Buch «Einheit durch Vielfalt» betonte er, dass jede christliche Kirche «eine unverlierbare Geistesgabe, ein Charisma», habe, «das sie behalten, pflegen, reinigen und vertiefen, und nicht einer Gleichschaltung zuliebe entleeren» sollte. Seine vielen Begegnungen mit Christen anderer Konfessionen und ihren Gottesdiensten hätten ihm «immer wieder bestätigt» und ihn «in der tiefen Überzeugung bestärkt, dass in jeder christlichen Konfession die eine Kirche Christi in besonderer Gestalt als Leib Christi gegenwärtig» sei. Das hier anzuzeigende Buch entstand 2009 aus Anlass der Eingliederung des Nachlasses Oscar Cullmanns in die Universitätsbibliothek Basel. Karlfried Froehlich (Princeton), einer der beiden Herausgeber, nennt ihn einen «der bedeutendsten theologischen Nachlässe des 20. Jahrhunderts».

Briefe und Grundsätzliches

Neben Manuskripten und Druckschriften umfasst der Band mehr als 30 000 Briefe! Cullmann habe praktisch keine erhaltene Post fortgeworfen. Aus Anlass der Eingliederung dieser gewaltigen Bestände in die Universitätsbibliothek, wo sie jetzt der Forschung zur Verfügung stehen, wurde ein wissenschaftliches Symposium durchgeführt, das in diesem Band fast lückenlos dokumentiert ist. Ein Teil der Beiträge befasst sich mit dem Nachlass im engeren Sinn, teilt vorläufige Forschungsresultate mit und regt zu weiteren Studien an, etwa wenn Wolfgang Lienemann über «Forschungsdesiderate im Hinblick auf die Ökumene » spricht. Andere Beiträge sind grundsätzlicher Natur, besonders anregend und tiefschürfend, aber auch schwierig ist der Vortrag des Berliner Systematikers Dietrich Braun über Cullmanns Konzept einer heilsgeschichtlichen Theologie. Der Sammelband ersetzt nicht eine wissenschaftliche Biographie Oscar Cullmanns, die erst noch geschrieben werden muss. Er liefert aber wichtige Impulse.

Frank Jehle

Frank Jehle

Dr. theol. Frank Jehle lebt als Universitätspfarrer und Dozent für evangelische Theologie im Ruhestand in St. Gallen.