Neue Liquidationsmasse in Sicht?

Befindet sich das Gottesvolk des Bistums Chur in einer Identitätskrise? Wo der Bischof sein und bleiben soll, ist nicht unwichtig. Wer aber zu dieser Ortskirche gehören soll, scheint ungleich wichtiger. – Darum ist der Artikel von Martin Grichting in der SKZ 24/2016 zu ergänzen, und zwar aus der Sicht der Urschweiz. Denn von ihr ist so gut wie nicht die Rede. Dafür vom Antagonismus Chur–Zürich. Das kommt zugespitzt daher, und nicht ganz zweckfrei. Die Fixierung auf eine solche Problemstellung lässt paradoxerweise eine Achse Zürich–Chur ins Bild kommen, auf die das gegenwärtige Bistum Chur reduziert wird. Kaum beachtet wird, dass das Bistum Chur seit jenem Jahr 1819, als das Konstanzer Bistum zu liquidieren war, aus einem dritten Partner besteht, der Urschweiz. Mir scheint, sowohl Zürich wie Chur tun sich mit diesem «tertium quid» schwer. Die Urschweiz liegt seitab. Die Diskussion um ein Bistum Zürich aber gerät auf Abwege, wenn nicht das ganze Bistum im Blick bleibt.

Die Urschweiz hat sich bei der kürzlichen Umfrage und anderswo deutlich gegen eine Lostrennung Zürichs vom Churer Bistumsverband ausgesprochen. Denn aus der Sicht der Urkantone besteht kaum eine andere Lösung, als in dem vor 200 Jahren so zufällig zusammengewürfelten Bistumsverband zu bleiben. – Auch das neue Basler Bistum verdankt sich wesentlich der eher willkürlich aufgeteilten Konkursmasse aus dem Bistum Konstanz. – In Basel und in Chur haben diese «Konglomerate» in den vergangenen zwei Jahrhunderten erstaunlich gut funktioniert, unter je verschiedenen Vorzeichen. In Chur, indem drei sehr unterschiedliche Bistumsregionen sich bei jeweils wechselnden Rollen geradezu providentiell gut ergänzt haben. Mit viel Solidarität standen sie einander bei. Das räumt auch Martin Grichting ein.

Nehmen wir einmal an, Zürich würde selbständiges Bistum. Dann bliebe die Kardinalfrage: Was geschähe mit der Restmasse? Martin Grichting nimmt an, der ganze Rest bliebe bei Chur. Wunschdenken? Bedenken wir, dass nach dem Wiener Kongress das heutige rhätische Bistumsgebiet seinerseits als Rest erhalten blieb. Gehen wir davon aus, dass nach einer Dezimierung des damals neu gebildeten Bistums Chur der altehrwürdige Bischofssitz trotzdem weiter bestünde. Dass aber die Urschweiz in diesem Fall mit Graubünden verbunden bliebe, ist sehr offen, selbst, wenn Schwyz seit dem frühen 19. Jahrhundert via Konkordat mit dem Bistum Chur vereint ist.

Die beiden Teile Graubünden und Urschweiz sind nach meiner Erfahrung zu unterschiedlich, als dass daraus – ohne die Klammer von Zürich – eine sinnvolle Einheit werden könnte. Diese beiden Partner brauchen den dritten, eben Zürich. Eine «duale» Situation ist zu unstabil. – Uri (ausser Ursern), Nidwalden und Obwalden sind, genau wie Zürich und Glarus, bis heute bloss Administrationsgebiete. Chur ist für die Urschweiz weit weg, ohne geografischen und historischen Zusammenhang. – Da spielt die Achse Chur–Zürich viel eher! Auch kulturell und bezüglich der Mentalität sind die Unterschiede grösser, als man auf einen ersten Blick denken könnte. – Die Spannungen im Bistum haben gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen Chur und beispielsweise Nidwalden und Obwalden sehr fragil ist. Darum sollte man vom Gedanken an eine Achse Chur–Urschweiz ablassen.

Zu meinen, wenn Zürich einmal eigene Wege gehe, dann könne man aus dem Rest schon etwas Passendes machen, scheint mir riskant. Die Aussage der Urkantone lautet: mit Graubünden und Zürich ja, mit Graubünden allein nicht. Dies ist vielfach zu belegen, auch ohne Umfrage. Daraus wäre logischerweise zu schliessen: Wenn in Tat und Wahrheit ein Bistum Zürich kommen soll, dann zwingend auch ein Bistum Urschweiz. Weil die Urschweiz sich nie als Anhängsel von Chur wird verstehen können. – In einer ersten Auswertung der Umfrage hat Chur nun verlauten lassen, der Gedanke an ein Bistum Urschweiz könne als obsolet erachtet werden. Zu sagen ist: Die Urschweizer selber streben ein eigenes Bistum nicht an. Wenn hingegen die Verbindung zu Zürich entfällt, scheint die kirchliche Eigenständigkeit der Urkantone vorgezeichnet. – Undenkbar ist sie nicht: Die aktuellen Bistumsbeiträge der Urkantone würden eine schlanke Führung erlauben. In der Urschweiz bräuchte man keine bischöflichen Schlösser oder Mini-Vatikane wie in Chur oder Zürich. Alles ist viel direkter und näher. Auch der Bischof wäre es, mit allen guten Folgen. Ein interessantes Experiment einer Kirche mit minimal wenig Ballast! Zumal Synergien mit andern Bistümern in vielen Bereichen, etwa in der Ausbildung, ohnehin angezeigt sind. Einziges echtes, und schwerwiegendes Problem bliebe das Personal, wie überall.

Doch, wie gesagt, das muss nicht angestrebt werden: Das Bistum Chur war zweihundert Jahre lang eine Schicksalsgemeinschaft aus sehr unterschiedlichen Teilen, die sich alles in allem bewährt hat, weil die gegenseitige Ergänzung zu einer Solidargemeinschaft führte. Daran könnte weitergebaut werden – im gegenseitigen Vertrauen der unterschiedlichen Teile und durch eine Vertrauen schenkende Führung des Ganzen. Anzumerken ist hier auch, was ich bei meinen täglichen Besuchen in den Pfarreien der Urschweiz fast unzählige Male gehört habe: Uns interessiert nicht die Neugründung von Bistümern, sondern das Leben dieses unseres aktuellen Bistums und des Bistumsvolks. Da hoffen wir auf einen baldigen guten Neubeginn. Um den müsste es allen gehen, in Chur, in Zürich, in der Urschweiz, in Rom. 

Martin Kopp |zvg

Martin Kopp

Dr. theol. Martin Kopp ist regionaler Generalvikar des Bistums Chur für die Urschweiz und Präsident der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz.