Neue Erkenntnisse zum Thema Homosexualität

Stephan Goertz (Hrsg.): «Wer bin ich, ihn zu verurteilen?» Homosexualität und katholische Kirche (Reihe Katholizismus im Umbruch, Band 3). Freiburg i. Br.-Basel-Wien 2015, 446 S.

Einer der profiliertesten katholischen Moraltheologen, Prof. Dr. Stephan Goertz (*1964) von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz, hat einen umfassenden Sammelband zum Thema «Homosexualität und katholische Kirche» herausgegeben und darin neue Erkenntnisse der Anthropologie, der Sexualmedizin und der Theologie verarbeitet. Vergleichbar mit der «Judenfrage» vor fünfzig Jahren und mit der «Islamfrage» seit Ende des 20. Jahrhunderts bahnt sich in der Beurteilung der Homosexualität sowohl gesellschaftlich wie auch kirchlich ein Paradigmenwechsel an, der alle einschlägigen Bereiche erfasst und keinen Stein auf dem anderen lässt. Sowohl die medizinischen und anthropologischen Grundlagen wie auch die biblischen Argumentationslinien und erst recht die naturrechtlichen Sichtweisen sind brüchig geworden und müssen neuen Sichtweisen der Sexualität als mehrdimensionales Beziehungsgeschehen im Blick auf die Menschenwürde Platz machen. Auch die Familiensynode 2014/2015 in Rom kann sich diesem tiefgreifenden Wandel nicht verschliessen. Der Titel «Wer bin ich, ihn zu verurteilen?» dürfte ein abgewandeltes Zitat aus dem Gespräch Jesu mit der Ehebrecherin (Joh 8,2–11) sein; Jesus verurteilt nicht, sondern eröffnet neues Leben. Auch Papst Franziskus will die «sozial verwundeten Personen guten Willens» (S. 9) nicht verurteilen, denn «Gott hat uns in der Schöpfung frei gemacht» (ebd.). Anstelle der «Logik der Ausgrenzung» soll eine «Logik der Eingliederung» (ebd.) treten, denn im Homosexuellen begegnet Glaubenden letztlich Christus (10). Aus den zwölf Beiträgen des Bandes können in dieser Rezension lediglich ein paar elementare Erkenntnisse herausgegriffen und nachgezeichnet werden. Anstelle der Rede von der stets gleichbleibenden Lehre der Kirche muss der «Wandel der Normen» (Johannes Gründel) anerkannt werden, gilt doch: «Die Tradition der Kirche versteht sich als lebendige Überlieferung des Wortes Gottes in je neue Gegenwarten hinein» (13).

Was ist Homosexualität?

Homosexualität ist nach dem Sexualmediziner Hartmut A. G. Bosinski (91–130) eine eigene sexuelle Orientierung innerhalb eines Spektrums verschiedener sexueller Orientierungen, eine «Normvariante menschlicher Beziehungsfähigkeit» (91), charakterisiert durch das Angezogen-Werden (Attraktion) von Personen desselben Geschlechts. Bosinski zweifelt nicht an einer genetischen Prädisposition der sexuellen Orientierungen, doch müssen weitere ermöglichende Erfahrungsfaktoren durch die Umwelt hinzukommen, um eine sexuelle Identität auszubilden. Jedenfalls ist eine homosexuelle Orientierung keine Krankheit und keine Sünde (127). Sie ist nicht «widernatürlich» und «nicht therapierbar», sondern – wie die Heterosexualität und die Bisexualität – eine ganzheitliche Grunddimension des Menschen (125–127). Mit Ausnahme der Reproduktivität kommen ihr alle Aspekte zu, die Sexualität ausmachen: Identitätsfindung, Beziehung, Kommunikation, Lust und Transzendenz. Erfüllte Sexualität befriedigt menschliche Grundbedürfnisse nach Nähe, Hautkontakt, Geborgenheit und Liebe. Jugendlichen gilt es zu helfen, «ihre je eigene sexuelle Orientierung zu finden, zu akzeptieren und verantwortlich zu leben» (130). Schöpfungstheologisch ist auch Homosexualität wie jede andere sexuelle Orientierung eine gute Gabe Gottes, die in das Innere des Menschen eingesenkt ist und die von Gott gewollt und bejaht ist.

Wie sind die alttestamentlichen Stellen zu beurteilen?

Der Alttestamentler Thomas Hieke, Mainz (19–52), hat alle alttestamentlichen Stellen untersucht, an denen homosexuelle Tatbestände angesprochen werden, darunter Gen 19 und Lev 18–20, doch musste er feststellen, dass nirgends ein mit heute vergleichbares personales und vieldimensionales Verständnis von Sexualität bzw. Homosexualität zu finden ist. In Lev 18,22 geht es eher um mit Macht ausgeübte Genitalität fernab von einem Geschehen, das in eine Beziehung der Liebe eingebettet ist. Die Stelle Lev 20,13 «Sie werden gewiss getötet werden» lässt nicht auf die Todesstrafe für derlei Vergehen schliessen, da die Äusserung in ermahnendem (paränetischem) Stil geschrieben ist. Lev 18–20 soll insgesamt gegen egoistische Verhaltensweisen angehen, die das Wohl der Gemeinschaft missachten. Und endlich lässt sich die Beziehung zwischen David und Jonatan durchaus als tiefinnige Freundschaft verstehen, doch fehlen explizite Hinweise auf eine homosexuelle Beziehung.

Paulus und das Thema der Homosexualität

Und wie sind die paulinischen Aussagen zur Gleichgeschlechtlichkeit einzuschätzen, allen voran Röm 1,24–28; 1 Kor 6,9 und 1 Tim 1,9 f.? Die angesprochene «Knabenliebe» jedenfalls wird im Kontext eines heutigen Pädophilieverständnisses heute ganz anders bewertet. Michael Theobald, Tübingen (59–88), der u. a. Wolfgang Stegemann folgt, gibt zu bedenken, dass die kulturgeschichtliche Prägung des Textes nicht zu übersehen ist. Paulus argumentiere von einem ganz anderen System kultureller Werte her, als es heute in westlichen Gesellschaften geschieht. Der anthropologische Wissensstand ist ein ganz anderer, so dass die biblischen Texte nicht einfach auf heute übertragbar sind. Vielmehr sind ethische Perspektiven im Licht des Glaubens und im Gespräch mit den Humanwissenschaften zu gestalten und zu verantworten. «Fundamentalistische Bezugnahmen auf die Heilige Schrift widersprechen der ureigenen katholischen Hermeneutik» (88). Schon etymologisch gilt es zu beachten, dass die Termini «Homosexualität» und «homosexuell» erst Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch kamen (55). Von «lesbischer Liebe» ist weder im Alten noch im Neuen Testament die Rede (54). Die Mitte paulinischer Ethik ist die Erfüllung des Liebesgebots (Röm 13,10; Gal 5,6). Paulus’ Aussagen sind jüdisch-hellenistisch geprägt und stehen unter dem Vorzeichen der Agape.

Was sagen die Katechismen?

Der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK, 1992/2003) behandelt Homosexualität unter den Nummern 2357 bis 2359 sowie 2396. Leider werden homosexuelle Praktiken auf dieselbe Ebene wie Unzucht (ausserehelicher Geschlechtsverkehr), Masturbation und Pornographie gestellt und pauschal als schwere Verstösse gegen die Keuschheit bezeichnet. Der KKK will homosexuelle Menschen nicht verurteilen, doch bezeichnet er ihre sexuelle Orientierung als «schlimme Abirrung», die «in sich nicht in Ordnung ist» (Nr. 2357). Nach Hieke hat der Aufruf zur Keuschheit homosexueller Menschen in der Bibel «keinen Anhalt» (49). Und Theobald fordert «eine tiefgreifende Revision des KKK» (88).

In den weiteren Beiträgen entwerfen Melanie C. Steffens und Claudia Niedlich eine sozialwissenschaftliche Sichtweise (131– 160) «zwischen Akzeptanz und Diskriminierung». Josef Römelt handelt über (gleichgeschlechtliche) Liebe und Lebenspartnerschaft (325–350), nicht aber von Ehen Schwuler oder Lesben. Alberto Bondolfi äussert sich zu rechtlichen Regulierungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Europa (351–368), und Michael Brinkschröder wirft einen Blick voraus auf das Thema an der Familiensynode (413–444). Wie sehr der Eindruck eines grossen Abstandes zwischen wissenschaftlicher Forschung mit neuen Erkenntnissen und offiziellen kirchlichen Verlautbarungen bleibt, Sexualität wird nicht mehr allein im Zusammenhang mit der Zeugung gesehen, und Homosexualität als Normvariante und als Beziehungsgeschehen. Die Aufgabe bleibt für alle, die Beziehung verantwortungsvoll zu gestalten.

 

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.