Nelly Schenker in Paris, 17. Oktober 1987

Nelly Schenker war bei der Versammlung vom 17. Oktober 1987 in Paris dabei. In ihrer Autobiographie erklärt sie, was dieser Tag jedes Jahr für die Armutsbetroffenen bedeutet.

«Ich lebe»
Ein Regenbogen
hat sich entzündet in mir
Eine Flamme ist in mir aufgegangen
voller Liebe und Zufriedenheit

Ja, was so ein Tag wie dieser 17. Oktober 1987 alles auslösen kann. Natürlich nimmt am nächsten Tag das tägliche Leben doch wieder seinen Lauf. Aber mit einem Unterschied: Es gibt seitdem einen Tag im Jahr, auf den man hinarbeiten kann, weil der Ärmste da endlich seinen Platz findet, um sich vor allen anderen zu äussern über sein Leben.

Alles, worüber Menschen, die keine Armut kennen, vielleicht noch nie nachgedacht haben, darf da zur Sprache kommen, alle Fragen, alle Zwänge, alle Ängste und Schmerzen: ‹Soll ich jetzt Schuhe für meine Kleine kaufen, damit sie in die Schule gehen kann, oder doch eher die Krankenkasse bezahlen, wenn das verfluchte Geld für beides nicht reicht? Oder lieber die Miete nicht bezahlen, und dafür etwas zu essen kaufen?› Immer die gleiche Frage: ‹Wo hole ich bloss das Geld her? Soll ich arbeiten gehen, wo doch das Kind krank zu Hause ist – oder jag ich das Kind mit Fieber in die Schule?!› So kannst du es nie recht machen, was du auch tust, es ist doch immer verkehrt.

Und dann heisst es zudem andauernd: ‹Ja es sind halt wirklich «fuuli Sieche» – sie sollen doch endlich arbeiten gehen!› Und gleich darauf, wenn du dich vorstellen gehst: ‹Aber Sie sind doch schon viel zu lange weg vom Fenster! Sie haben zu lange keine Arbeit mehr gehabt!› Es ist ein Misstrauen nach dem anderen, dem du da begegnest. Und man kommt sich dann so unnütz vor. Schlimmer – wie ein Niemand. Wie sollen sich Menschen, die nicht selbst von Armut betroffen sind, vorstellen können, wie das ist, sich ewig neu demütigen zu lassen.

Das alles muss man wissen, um zu verstehen, was der 17. Oktober seither jedes Jahr bedeutet. Wir können all das nun endlich publik machen, auch über die Medien. Und das wollte ich jetzt auch tun.»

Nelly Schenker: «Es langs, langs Warteli für es goldigs Nüteli». Meine Erinnerungen. Basel 2014, 208 f.