«Musik ist in Klang gegossenes Gebet»

Martin Schleske baut seit seinem 17. Lebensjahr Geigen. Musiker und ihre Instrumente sind für ihn ein Gleichnis für das Zusammenspiel von Gott und Mensch.

Martin Schleske (Jg. 1965) ist Geigenbauer, Physiker und Schriftsteller. Informationen zu seiner Person und zu seinem Meisteratelier für Geigenbau unter www.schleske.de. (Bild: rs)

 

SKZ: Was fasziniert Sie am Beruf des Geigenbauers?
Martin Schleske: Die Arbeit verlangt nicht einseitig nur den Kopf oder nur die Hände, sondern den ganzen Menschen. Die Grundlage des Handwerks ist natürlich das Erspüren, das Ergreifen des Holzes und daraus das Begreifen, was entstehen muss. Gleichzeitig aber ist das Ziel nicht nur ein schöner Holzkörper, sondern auch der Klang. Was mich berührt, ist der Klang, nicht das Holz. Eine Geige, die bei uns liegt, ist ein Holzkörper. Aber in dem Moment, in dem sie in Schwingung versetzt wird, ist sie eine Geige. 

Später haben Sie noch Physik studiert.
Der Klangkörper ist ein akustisches Phänomen, d. h. die Schwingungsformen sind Akustik. Wenn sie als Schallwellen das Trommelfell berühren, entsteht eine psychoakustische, emotionale Skulptur, also eine Empfindung: Der Klang, der mich trösten, der mich aufwühlen kann. Der Klang hat eine Kraft, eine Vollmacht. Das Neue Testament nennt sie Exousia, das Recht etwas zu tun. Ein Instrument hat Exousia, wenn es gespielt wird. Und das ist das Schöne: dass das Instrument das Recht hat, eine Seele zu berühren, aufzurichten, zu trösten. 

Als Geigenbauer sind Sie nur beim ersten Schritt dabei, nicht mehr beim Resultat.
Ich habe einen dienenden Beruf. Ich gebe einem Menschen seine Stimme, denn eine Geige ist für die Musizierenden ihre Stimme, die Stimme der Seele. Und gleichzeitig auch Ausdruck der Seele. Im Konzertsaal kann jedes Instrument in Verbindung mit der Musikerin oder dem Musiker zu Gesang werden. Und dann berührt die Seele die anderen Seelen. Mit ihrem Klang segnen Musikschaffende den Menschen. Ich glaube, es ist das grösste Glück, das ein Mensch empfinden kann, wenn seine Seele Ausdruck findet. Ich glaube auch, dass dies der Grund ist, warum wir in diese Welt geschickt sind: Damit unsere Seele Ausdruck findet und Vertrauen lernt. So wie der Weinstock und die Reben zusammengehören, so auch der Musiker und seine Geige; das Instrument ganz in der Hand des Musikers und der Musiker ganz in der Stimme des Instrumentes. Das ist das tiefste Geheimnis von Einheit. Man kann die beiden nicht mehr trennen. Wenn ich sie höre, kann ich nicht sagen: «Das ist jetzt der Musiker und das ist die Geige.» Die Geige klingt nicht ohne den Musiker und der Musiker nicht ohne die Geige. Und so klingt Gott nicht ohne uns in dieser Welt. Wir sind durch den Glauben seine Instrumente, die er zum Klingen bringt. So wird unser Leben zu einer gewaltigen göttlichen Komposition. 

Könnten Sie diesen Gedanken weiter ausführen?
Seit zwei Jahren denke ich fast jeden Tag über einen einzigen Bibelvers nach. In meiner Sprache als Geigenbauer könnte man es vielleicht so sagen: «Die Gnade möchte unseren Glauben spielen wie ein Musiker sein Instrument.» Damit ist für mich alles gesagt. Der Glaube muss sich nicht selbst spielen. Wir müssen wegkommen von diesem verkrampften Denken, dass wir ständig etwas tun müssen – das ist geistlos. Gleichzeitig müssen wir auch wegkommen von dem Gedanken: Gott kann alles tun, er ist ja Gott. Nein, das ist ein borniertes, primitives Verständnis von Allmacht, das nicht biblisch ist und auch unserer Welt nicht entspricht. Denn die Gnade, die keinen Glauben findet, kann nichts tun. Deshalb sage ich meinen Kundinnen und Kunden: «Die Geige ist deine grösste Lehrerin. Die Geige zeigt dir, wie du singen kannst. Du musst nichts machen. In dem Moment, wo es richtig ist, wirst du gespielt von der Geige. Du wirst durch die Geige zur Musikerin, zum Musiker gemacht. Du spielst nicht die Geige, sondern sie spielt dich.» Und das ist das Gleichnis von Gnade und Glaube. Ich bin überzeugt, Gott ist glücklich, wenn er Glauben findet und ein gemeinsamer Klang entstehen kann. Der gottloseste Satz ist: «Gott kann es tun.» Nein, Gott tut in jedem Augenblick alles, was er tun kann. Es gibt keinen Augenblick, wo Gott etwas tun könnte, es aber nicht tut, weil er beleidigt oder zornig oder abwesend wäre. Wenn Gott etwas tun kann, dann tut er es, denn er ist die vollkommene Liebe. Doch die Kräfte der Gnade suchen den Glauben, durch den sie wirksam werden können.

Es fällt auf, dass Sie von einem personalen Gott sprechen.
Wir sollen den Glauben verinnerlichen. Aber das Ziel ist «Christus in euch» sagt Paulus. Es braucht dieses persönliche Du. Martin Buber hat darüber intensiv mit C. G. Jung gestritten. Für Jung ist Gott ein Teil der Psyche, ist das wahre Selbst. Bei diesem Begriff des Selbst sträuben sich mir die Nackenhaare – als ob Gott ein Teil von mir wäre. Buber sagt: Gott ist immer das Du, das Gegenüber. Das Instrument ist nicht der Musiker, das Pferd ist nicht der Reiter. Es ist ein kategorialer Unterschied. Es geht nicht darum, dass Gott ein Teil von mir ist. Es geht um das Einswerden mit dem Du Gottes. Dazu sind wir berufen. Wer den Menschen als Person erschaffen hat, sollte der nicht mindestens Person sein? Gott ist keine Person in meinem Personenbegriff. Aber das, was ich bin, ist in Gott integriert. Wie kann ich jemals an einen unpersönlichen Gott glauben, wenn ich Person bin? Und er zeigt sich uns in der Person Jesus, im vollkommenen Abbild Gottes. Das ist für mich ganz wichtig. 

Wir sprechen heute oft von einer gottlosen oder gottfernen Zeit.
Unsere Zeit hat kein Problem, sondern die Kirche1 hat ein Problem. Sie ist nicht mehr bereit, wie Paulus sagt, den Griechen ein Grieche, den Juden ein Jude zu werden, sondern verlangt, dass die Menschen kirchlich werden. Die Menschen haben eine grosse Sehnsucht nach Gott, doch gleichzeitig eine grosse Skepsis gegenüber der Kirche. Diese ist zum Teil berechtigt, da die Kirche oft die Gotteserfahrung verdunkelt. Ich würde mir wünschen, dass die Kirche selbstkritisch fragt, wie sie so unfassbar religiös geworden ist und die Lebendigkeit der Gotteserfahrung verloren hat. Nicht die Menschen müssen sich ändern, sondern die Kirche. Sie hat zu fragen, wie sie den Menschen heute das sein kann, was Gotteserfahrung sein will.

Wäre Musik ein Weg, um die Menschen wieder zu Gott zu führen?
Das glaube ich auf jeden Fall. Musik ist eine Sprache der Seele und letztendlich in Klang gegossenes Gebet. Menschen haben vermutlich über die Musik leichter Zugang zu ihrer Seele und können durch die Musik Gott zulassen. Musik ist das, was ich nicht begreife, aber mich ergreift. So wie Meister Eckhart sagte: «Lass dich und überlass dich Gott.» In der Musik überlasse ich mich dem Klang. Das ist ein ungeheuer sinnliches Gleichnis dafür, was es heisst, sich Gott zu überlassen.

Wann ist Ihnen die Verbindung von Klang und Glaube bewusst geworden?
Unmittelbar als ich mit dem Geigenbauen angefangen habe. Da habe ich während der Arbeitsgänge in der Lehrwerkstatt gespürt, dass ich das, was hier gerade passiert, aus der Bibel kenne. Als ich die Wölbung gehobelt habe, realisierte ich: Das ist das achte Kapitel des Römerbriefs! Dass nicht das Holz mir gerecht werden muss, sondern ich als Meister werde dem Holz gerecht. So wie ich als Meister das Holz trotz seiner ganzen Fehler und Abhölzigkeiten zum Klingen bringe, so sucht der Heilige Geist in uns, wie er uns zum Klingen bringen kann. Er wird uns gerecht und wir sind Holz in seinen Händen. Es ist das Gleiche, ob ich eine Geige baue oder die Bibel lese. Die Urwahrheiten des Lebens zeigen sich überall, wo wir das lieben, was wir tun. Und da ist es für mich ganz klar geworden, diese tiefe Gemeinsamkeit von Glauben, Musik und Klang.
 
Interview: Rosmarie Schärer

 

 

1 Für Martin Schleske gibt es nur die eine Kirche, bestehend aus allen Denominationen und Konfessionen.

Buchempfehlungen

  • «Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens». Von Martin Schleske. München 2010. ISBN 978-3-466-36883-9, CHF 37.90. www.koesel.de
  • «Herztöne. Lauschen auf den Klang des Lebens». Von Martin Schleske. Asslar 2016. ISBN 978-3-86334-076-6, CHF 33.90. www.adeo-verlag.de

 

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