«Dein Geist bewegt die Herzen …»

Liturgie und Spiritualität stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Damit sie fruchtbar werden kann, braucht es die «Ecclesia orans».

Das Zitat im Titel, das dem Hochgebet «Versöhnung» entnommen ist, thematisiert das Handeln des Geistes Gottes in dieser Welt insgesamt. Es lässt sich genauso auf die Liturgie beziehen, insofern diese in der nachösterlichen Situation der Kirche nur in der Kraft des Heiligen Geistes möglich ist und die Verwandlung des Menschen erstrebt. Ähnliches gilt für jede Form christlicher Spiritualität: Auch diese ist Frucht des Wirkens des Geistes im Leben der Menschen. Wie aber verhalten sich Liturgie und Spiritualität zueinander?

Vertiefung des geistlichen Lebens

Spiritualität, beinahe ein Modewort der Gegenwart, mit dem die Suche nach Sinn und Orientierung und eine daraus folgende Lebenspraxis beschrieben werden, besteht heute in vielen Varianten und greift Einflüsse unterschiedlichster Herkunft auf. Eine spezifisch christliche Spiritualität geht darüber hinaus vom Getauftsein der Betreffenden aus und erfasst alle Dimensionen der individuellen Existenz. Zudem hat sie ihren Platz im Raum der Kirche als Volk Gottes, gründet auf dem Wort Gottes und strebt eine dem Evangelium besonders entsprechende Lebensweise an. Dabei hat die Liturgie, in der es um das dialogische Geschehen zwischen Gott und Mensch in Verkündigung, Gesang und Gebet, in ritueller Verdichtung und unter sakramentalen Zeichen geht, einen besonderen Rang unter den kirchlichen Lebensvollzügen. Vor allem mit der Liturgischen Bewegung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich dieses theologische Konzept Bahn gebrochen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat es aufgegriffen, vor allem in der Liturgiekonstitution, wenn diese die Liturgie als Quelle und Höhepunkt bezeichnet, von der alles Leben der Kirche sowie das individuelle christliche Dasein ausgehen und zu der sie wieder zurückführen (vgl. SC 10). Was wie ein liturgischer Superlativ erscheinen mag, verfolgt letztlich ein geistliches Ziel, nämlich das Leben der Gläubigen aus der Liturgie heraus immer mehr zu vertiefen, wie es schon der erste Satz des Konzils als vorrangiges Ziel aller Liturgiereform programmatisch formuliert (vgl. SC 1). Auf der Grundlage eines erneuerten theologischen Fundaments sollten Liturgie und Spiritualität wieder enger zusammenfinden.

Liturgische Spiritualität

Doch um welche Spiritualität geht es eigentlich im Kontext der Liturgie? Der Begriff «Spiritualität» ist im Wesentlichen eine Wortschöpfung des 20. Jahrhunderts; zuvor sprach man meistens von «Askese» oder «Mystik». Spiritualität ist aber ganzheitlicher angelegt und konzentriert sich nicht allein auf das individuelle Bemühen. Für das Verhältnis von Liturgie und Spiritualität ist ein Spiritualitätsbegriff zugrunde zu legen, der auf biblischem Fundament das Wirken des Geistes (spiritus) voraussetzt, der die gesamte gläubige Existenz des Menschen einbezieht, der die 
ekklesiale Einbindung impliziert und dies alles in geschichtlich bedingten Konkretionen verwirklicht sieht. Es geht also um weitaus mehr als um eine individuell definierte sowie praktizierte Sinnsuche und Lebensorientierung, nämlich um das, was die Kirchen- und Theologiegeschichte als die «Ecclesia orans» kennt, die «betende Kirche», die den «betenden Menschen» voraussetzt und in ständiger Wechselwirkung mit ihm steht. Privatgebet und öffentliches, gemeinsames Beten und Feiern der Kirche, an dem alle Getauften umfassend teilnehmen und das sie wesensmässig mittragen, bedingen einander.

Dasselbe gilt für die Begegnung mit der Heiligen Schrift als einer Grundlage von Spiritualität wie auch von Liturgie: Wer das Wort Gottes in der Liturgie verständig hören, fruchtbar in sich aufnehmen und daraus sein Leben gestalten will, wird in seinem geistlichen Leben auch sonst die Lesung und Vertiefung der Heiligen Schrift suchen müssen. Diese Problematik betrifft im Grunde alle Bereiche der Liturgie: Diese erschliesst sich nur dann umfassend und kann nur dann zur geistlichen Nahrung und Quelle werden, wenn auch ausserhalb der Liturgie die vorausgesetzten menschlichen Grundhaltungen geübt und gepflegt werden. Ein geistliches Leben ist nicht nur eine freie Wahl (und manchmal auch eine Verpflichtung) aufgrund eines kirchlichen Berufs oder besonderen Lebensstandes, sondern ebenso Kontinuum für alle Getauften. Die Klassiker der Liturgischen Bewegung, im deutschen Sprachgebiet allen voran Romano Guardini, haben sich bemüht, gerade dies zu vermitteln. Ihr Anliegen ist auch unter gewandelten Bedingungen unverändert gültig.

Vertrauen in die Liturgie

Damit dies gelingen kann, braucht es Vertrauen in die Liturgie als ein Handeln der Kirche, das die einzelnen Teilnehmenden genauso wie die Vorsteherinnen und Vorsteher sowie andere verantwortlich Mitwirkende nicht beständig neu erfinden müssen, sondern das ihnen gewissermassen vorausgeht. Entscheidend ist dabei nicht die Erfüllung ritueller Vorschriften, sondern dass die Liturgie die ihr eigene Dynamik entfalten kann. Dazu muss sie je neu in die Zeit und Situation hinein «gelebt» werden, darauf hoffend, dass der Geist Gottes in ihr wirkt, dass er es ist, der je neu Kirche konstituiert und dem Leben der Einzelnen Richtung gibt.

Eine Spiritualität, die in enger Verbindung mit der Liturgie steht und aus ihr schöpft, bedarf der Beständigkeit und Regelmässigkeit liturgischer Praxis. Nur so wird sich auch ein geistlicher Weg vollziehen können, denn Spiritualität ist nicht ein- für allemal gewonnen, sondern kennt Entwicklung und Wandel. Angesichts des heutigen Teilnahmeverhaltens vieler Glieder der Kirche liegt hier eine der grössten Schwierigkeiten und Herausforderungen für ein fruchtbringendes Verhältnis von Liturgie und Spiritualität. Soweit Verantwortliche für die Liturgie davon betroffen sind, geht es nicht zuletzt um deren Glaubwürdigkeit.

Konkretionen

Der zentrale Platz der Eucharistiefeier ist unbestritten; allerdings erlaubt die pastorale Situation längst nicht mehr überall, diese seit neutestamentlicher Zeit verankerte Überzeugung umzusetzen. Daneben braucht es andere regelmässige Gottesdienste, mit deren Hilfe die Lebenszeit strukturiert wird. Frühere Generationen kannten meistens einfachere Andachten, die eher selten geworden sind. Die Tagzeitenliturgie, je nach Kontext in angepassten Formen, eignet sich ausgezeichnet für den regelmässigen Gottesdienst sowohl am Sonntag als auch in der Woche. Sie stellt an die Mitfeiernden gewisse Anforderungen, verlangt nach Einführung und Einübung. Doch zeigen viele gute Beispiele den hohen Wert dieser Gottesdienstform auch auf der Ebene der Pfarrei. Es ist ein enormer geistlicher Schaden, dass es nach wie vor nicht gelungen ist, Feiern wie Laudes, Vesper oder Komplet je nach Situation breit im liturgischen Leben zu verankern. Niederschwellige Gottesdienste zu bestimmten Anlässen können eine Hilfe gerade für jene sein, die weniger mit den komplexeren Formen der Liturgie vertraut sind oder in einer gewissen Distanz zur Kirche leben; doch um einen spirituellen Prozess in Verbindung mit der Liturgie zu initiieren, reichen nur vereinzelte Berührungen mit dem Gottesdienst nicht aus. 

Schliesslich müssen die bestehenden Gottesdienste stärker zu Orten der Spiritualität werden. Dazu braucht es eine gestalterisch hochstehende und theologisch-geistlich geprägte Liturgie; Inhalt und Vollzug des Betens, überzeugende Verkündigung, Leben und Glauben deutende Gesänge und Riten tragen in sich ein enormes geistliches Potenzial, das zu oft nicht ausgeschöpft oder das sogar verschleudert wird. Verantwortliche, die immer nur Angst haben, dass «die Leute» dieses oder jenes nicht verstehen, werden dem Gottesdienst kaum eine tiefere geistliche Prägung verleihen können. In der Liturgie und mit der Liturgie zu leben, ist ein geistlicher Weg, den die Liturgieverantwortlichen selbst glaubwürdig gehen müssen und auf dem sie dann auch die anderen Mitfeiernden fordern dürfen, damit lähmender Stillstand überwunden wird und ein echtes Voranschreiten gelingt, bei dem der Geist die Herzen der Menschen bewegt.

Martin Klöckener

 


Martin Klöckener

Prof. Martin Klöckener (Jg. 1955) studierte Theologie, Philosophie, Latinistik und Pädagogik in Paderborn, Würzburg und Bielefeld. Seit 1994 ist er Professor für Liturgiewissenschaft und Leiter des Instituts für Liturgiewissenschaft der Universität Freiburg i. Ue.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente