«Mon Père, je vous pardonne»

Das Buch von Daniel Pittet veranlasst zu persönlicher Reflexion. Als Fachautor nimmt Stephan Leimgruber Stellung aus religionspädagogischer Sicht.1 Siehe auch «Amtliche Mitteilungen».

Mit pochendem Herzen las ich in der Schweizer Presse und erfuhr Betrübliches aus den Jahren 1968–1972 über Pater XY. Papst Franziskus hat das Enthüllungsbuch mit seinem Vorwort geschmückt und das Missbrauchsopfer D. Pittet zur Veröffentlichung ermutigt. Dies war mir Signal für eine eingehendere Auseinandersetzung. Ob allerdings mit einem Buch Taten vergeben werden können, ist zu bezweifeln. Noch bin ich schockiert, traurig und wütend über die perfide Art des Ordensmannes, Ministranten zu sich nach Hause einzuladen, sie zu hartem Sex zu zwingen, und dies über Jahre hinweg und mit Befehl des Verschweigens.

Wie lebenslange Verletzungen ein solches Verhalten bei Kindern hinterlässt, demonstriert das Buch. Kinder reagieren in solchen Situationen verstört. Sie können das nicht verstehen, sind oft nicht in der Lage, sich zu wehren. Sie spüren das Vertrauen des Priesters, der seinerseits das in ihn gesetzte Vertrauen aufs Schwerste missbraucht. Da kommt mir das scharfe Wort des sonst barmherzigen Jesus mit dem Mühlstein in den Sinn (Mk 9,42; Lk 17,1f). Die Aufarbeitung ist für viele ein Leben lang schwierig, weil sie mit Gefühlen der Angst, Scham und Schande nicht fertig werden. Pittet spricht von «zerstörtem Leben».

Es versteht sich von selbst: Die Kirche ist geschädigt und der Ruf des Ordens zertrümmert, obwohl der Täter bis jetzt keine spürbare Strafe absitzen musste. Nicht entschuldbar, aber mildernd könnte erwähnt werden, dass die europäische Öffentlichkeit seit 2010 solche Vergehen an Kindern neu beurteilt, im Vergleich zu früheren Zeiten als deutlich schwerwiegender bewertet. Zu lange wurden die Leiden der Kinder verharmlost, die Täter geschützt, versetzt und das Ganze heruntergespielt. Die Reformpädagogik (z. B. Odenwaldschule) machte mit, und Politiker traten für die Straffreiheit von pädophilen Schandtaten ein, dies auf dem Hintergrund tolerierter allgemeiner Gewalthandlungen (z. B. Ohrfeigen), wie ich sie auch erfahren musste. Die Würde und die Rechte der Kinder wurden viel zu wenig beachtet.

Zudem standen die 1968er-Jahre im Zeichen der sexuellen Revolution. Viele wechselten von einer bevormundenden zur antiautoritären Erziehung. Leider muss zugegeben werden, dass die christlichen Kirchen bis dahin eine leibfeindliche Grundhaltung einnahmen und kein gesundes Verhältnis zur Sexualität fanden. Unter den Einflüssen von Platon und Augustinus stand Sexualität bis zum Zweiten Weltkrieg primär unter dem Aspekt der Fortpflanzung und kaum unter dem Aspekt der Liebe.

Bitte keinen Generalverdacht!

Einige Kommentare sehen in den Verfehlungen des Ordensmannes ein gefundenes Fressen für eine prickelnde Berichterstattung oder den Beweis für die ewiggestrige Kirche und die Unmöglichkeit der zölibatären Lebensform. Viele repetieren, es sei gar nicht möglich, ein Leben ohne erfüllte Sexualität zu führen. Entweder seien Priester und Ordensleute psychisch krank, oder sie unterhielten eine geheime Beziehung, sie seien homophil oder pädophil.

Für derartige pauschale Verdächtigungen bedanke ich mich. Ein Priester braucht gute Beziehungen mit Frauen und Männern, Kindern und Jugendlichen, damit sein Lebensentwurf gelingt. Aus einer Familie stammend, braucht er Familien und Kollegschaften, welche ihm die Erfahrung vermitteln, erwünscht und anerkannt zu sein, ohne sich auf sexuelle Beziehungen einzulassen. Er muss sein Leben zu gestalten wissen, geistlich verlebendigen und einen kultivierten Lebensstil pflegen.

In der Tat geschieht der grössere Teil der Missbräuche in familiären Umfeldern, Sportverbänden und Wohngemeinschaften, auch wenn sie weniger offengelegt und geahndet werden. Des Weiteren ist bekannt, dass viele Kinder untereinander übergriffiges Verhalten an den Tag legen. Ferner ist zu erwähnen, dass für viele (Ordens-)Frauen Zärtlichkeit und Begegnung wichtiger sind als Sexualität und dass Selbstbefriedigung von Männern und Frauen neu bewertet worden sind, nicht zuletzt von den Kirchen. Gleichwohl muss zugegeben werden, dass das Leben und insbesondere die Verwirklichung der sexuellen Dimension für Priester und Ordensleute (alle Menschen, die vielen Singles inklusive) eine bleibende hohe Anforderung stellt. Sexualität ist im Kontext von Beziehungen in ihrer Offenheit und ihrem Geschenkcharakter zu sehen. Sie geht alle an. Missbräuche sind zu bekämpfen, wohl aber, solange es Menschen gibt, nicht auszurotten.

Die verpflichtenden Bildungsprogramme in Kirchen und Schulen zu «Nähe und Distanz» sind unverzichtbar. Vielleicht habe ich erst jetzt den Sinn der Versöhnungsliturgie der Schweizer Bischöfe in Sion (Dez. 2016) kapiert. Sie kannten vermutlich den Inhalt des Buches bereits. Von allen in erzieherischen Berufen ist ein verantwortlicher Umgang mit Kindern gefordert. Kinder sind in ihrer Würde um jeden Preis zu achten. Echte Zuwendung genügt.

 

1 Stephan Leimgruber, Christliche Sexualpädagogik, München 2011. Andreas Illa / Stephan Leimgruber: Von der Kirche im Stich gelassen? Aspekte einer neuen Sexualpädagogik, Kevelaer 2010.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.