Mit Gitarre und Gesang

Szene aus «De Spion im Hotel Seeblick» mit Helen Sennhauser, Marlene Silvestri und Margrit Meile (v. l.). (Bild: Monika Sutter)

 

Bazenheid ist ein Dorf im unteren Toggenburg, in der Nähe von Wil. Hier arbeitet Marlene Silvestri bereits seit 18 Jahren als Pfarreisekretärin. Gesucht hat sie diese Aufgabe nicht. Als der damalige Pfarrer in den Ruhestand ging, wurde klar, dass mit einer Pfarrvakanz zu rechnen war. So beschloss der Kirchgemeinderat, ein Pfarreisekretariat einzurichten. Der damalige Präsident kam auf sie zu und fragte, ob nicht sie diese neu geschaffene Stelle übernehmen wolle. Warum er ausgerechnet sie ansprach, weiss sie bis heute nicht.

Herausfordernd und vielfältig

Obwohl sie eine kaufmännische Ausbildung hatte, war ihr am Anfang ein wenig flau im Magen. Sie hatte keine Ahnung, welche Arbeit sie erwartete, und war sich auch nicht sicher, ob sie diese gut ausführen könne. Inzwischen sind einige Jahre vergangen und die Arbeit ist ihr vertraut. Sie liebt die Abwechslung, die diese Tätigkeit mit sich bringt, z. B. die Agenda führen, die Angaben für das Pfarreiforum liefern, die Buchhaltung führen oder Arbeiten für den Pfarrer erledigen (der zum Glück rasch gefunden werden konnte). Oft ist sie die erste Anlaufstelle, wenn Menschen auf das Pfarramt kommen. Da gibt es schöne Begegnungen, z. B. wenn eine Frau vorbeikommt, um ihr Kind für die Taufe anzumelden. Anspruchsvoll sind Gespräche mit Trauerfamilien. Einmal stand ein Mann vor der Tür, der ihr erzählte, dass soeben seine Frau gestorben sei. Der Pfarrer war gerade unterwegs. «Ich konnte doch nicht sagen: ‹Kommen Sie in zwei Stunden wieder.›» So bat sie ihn herein und nahm sich Zeit für ihn. Solche Gespräche seien eine wirkliche Herausforderung, doch letztlich auch sehr schön, meint sie.

Das Einzige, was ihr in ihrer Tätigkeit als Pfarreisekretärin wirklich Mühe macht, sind die vielen Bettler, die an die Pfarrhaustür klopfen. Am Anfang glaubte sie noch alles, was diese ihr erzählten, und hatte schlaflose Nächte, so sehr beschäftigten sie diese angeblichen Schicksale. Mit der Zeit merkte sie, dass viele dieser Geschichten frei erfunden waren. Um sich zu schützen, traf sie mit dem Pfarrer die Abmachung, dass sie sagen dürfe, sie habe keine Kompetenz, Geld aus der Pfarreikasse zu geben. Dies hatte einmal beinahe fatale Folgen: Wieder kam ein Mann zum Pfarrhaus und bat um Geld. Sie erwiderte ihm wahrheitsgemäss, dass der Pfarrer erst nach Neujahr aus den Ferien zurückkomme und sie keine Kompetenz habe, Geld zu geben. Daraufhin drohte ihr der Mann mit den Worten: «An Neujahr wirst du nicht mehr leben!» Danach hatte sie die Idee, Geschenkkarten eines Grossverteilers abzugeben, der weder Alkohol noch Tabakwaren im Sortiment hat. Seitdem hat sich die Spreu vom Weizen getrennt und es kommen mehrheitlich nur noch jene Menschen zum Pfarrhaus, die wirklich in Not sind.

Gemeinsamer Glaube

Dass Marlene Silvestri heute in der Kirche arbeitet, erstaunt eigentlich nicht, ging sie doch schon als Kind gerne in die Kirche. Oftmals war sie die Einzige der Familie, die den Sonntagsgottesdienst besuchte. Ihre Freude an der Heiligen Messe kann sie nicht erklären. «Mich haben die Kirchenglocken fasziniert. Irgendwie haben sie mich gerufen», erinnert sie sich. Auch heute noch liebt sie den Klang der Glocken. Als sie später selber Kinder hatte, ging sie auch gerne in den Gottesdienst, um einmal eine Stunde «für sich» zu haben. Sie feiert noch immer mit Freude die Messe mit – sonntags in der Pfarrei, unter der Woche auf der Iddaburg, einem Wallfahrtsort in der Nähe. «Der Besuch der Messe gibt mir viel Kraft. Während der Wandlung lege ich alles, was mich beschäftigt, gedanklich auf den Altar. Ich spüre dann, dass Gott mir hilft, mit schwierigen Situationen umzugehen oder im Moment nicht lösbare Probleme zu ertragen.»

Der Sonntagsgottesdienst ist ihr auch aus einem anderen Grund wichtig: Hier erlebt sie Gemeinschaft. «In Bazenheid ist die Gemeinschaft spürbar», sagt sie. «Du siehst die anderen aus dem Dorf, redest nach dem Gottesdienst mit ihnen. Durch den gemeinsamen Glauben, der uns wichtig ist, entsteht eine Verbundenheit.»

Eine Gitarre zu Weihnachten

Dieser Sinn für Gemeinschaft hat auch dazu geführt, dass sie immer wieder in Gottesdiensten singt. Angefangen hat es mit Mai- und Bittandachten. Für die Maiandachten wurden keine Organisten eingeteilt und für die Bittgottesdienste auf freiem Feld war sowieso keine Orgel vorhanden. Um den gemeinschaftlichen Gesang zu unterstützen, nahm Silvestri die Gitarre mit und stimmte die Lieder auch gleich an. Dabei wurde man auf ihre gute Stimme aufmerksam und fragte sie an, ob sie die Gottesdienste nicht mit einigen Liedern mitgestalten wolle.

Schon als Kind sang sie gerne. An einem Weihnachtsfest erhielt sie eine Gitarre als Geschenk. «Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mir eine Gitarre gewünscht hätte», lacht sie. «Es musste wohl so sein.» Danach nahm sie die Gitarre überallhin mit, wo gesungen wurde. Das musikalische Gen hat sie ihren vier Söhnen weitergegeben: Diese spielen Saxofon, Klarinette, Keyboard und Klavier. Ein sehr schönes Erlebnis war für sie, als sie zusammen mit allen vier Söhnen einen Behindertengottesdienst mitgestalten durfte. Ein kleines Mädchen von vielleicht drei Jahren mit  Down-Syndrom, stellte sich vor sie hin und beobachtete sie beim Singen. «Ich sehe sie noch immer vor mir. Sie hatte Zöpfe wie das Heidi aus dem Film und machte alles nach, was ich tat – jede Mundbewegung, jede Geste.»

Die Freude, die sie während dieses Gottesdienstes in den Gesichtern der Gläubigen sah, ist ihr sehr nahegegangen. Sie bemüht sich, Lieder nicht einfach zu singen, sondern den Inhalt den Zuhörern zu vermitteln. «Das, was ich singe, soll glaubwürdig sein und Freude und Stärkung bringen.» Sie hat Lieblingslieder wie «Königin des Friedens» oder «Jesus, dir leb ich». Manchmal gefällt ihr aber auch ein weltliches Lied gut; dann schreibt sie den Text um. So gehört z. B. «Die Rose» von Bette Midler – inhaltlich auf Maria umgetextet – zu jeder Maiandacht, die sie musikalisch mitgestaltet. Sie singt aber nicht nur solo im Gottesdienst, sondern seit 24 Jahren auch im Kirchenchor. Seit einigen Jahren teilt ihr Mann diese Leidenschaft.

Eintauchen in eine andere Welt

Durch das Singen kam Marlene Silvestri auch zu den «Theaterladies», einer Gruppe, die während 21 Jahren Theater mit Gesangseinlagen aufführte und dieses Jahr damit aufhörte. Was als Theater für die Hauptversammlung der Frauengemeinschaft begonnen hatte, entwickelte sich zu einem riesigen Erfolg. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurden im ganzen Kanton und darüber hinaus bekannt und engagiert. Das letzte Stück haben sie in den vergangenen drei Jahren 60 Mal aufgeführt, von Volketswil ZH über Weinfelden TG bis Sevelen und St. Margrethen SG. Dies bedeutete für die sechs Frauen viel Aufwand an Zeit und Kraft. Hinfahren, Bühne einrichten, Maske anlegen, spielen, alles zusammenräumen, zurückfahren – da war gleich der ganze Nachmittag weg.

Manchmal dachte sie schon, dass sie eigentlich dafür keine Zeit habe. «Doch im Saal sah ich dann die Menschen vor mir, wie sie für kurze Zeit in eine andere Welt versanken. Sie waren glücklich und strahlten. Das war Balsam für die Seele – sowohl für sie wie auch für mich», sagt sie und lächelt dabei.

Die Zeit mit den «Theaterladies» ist vorbei, doch Marlene Silvestri wird bestimmt neue Wege finden, um anderen Menschen Freude zu bereiten.

Rosmarie Schärer


Die porträtierte Marlene Silvestri

Marlene Silvestri (Jg. 1959) ist gerne für andere da. (Foto: André Silvestri)