Internet-Seelsorge: Nähe im Netz

Seit zwanzig Jahren begleiten Seelsorger der beiden Landeskirchen im Internet Menschen in seelischen Nöten. Seit 2013 ist «Seelsorge.net» stärker gefragt denn je.«Ich stehe vor dem Zivildienst. Kurz vor der Matura ist mir bewusst geworden, dass die Schulzeit für immer zu Ende geht, ja, dass eigentlich alles einmal irgendwann aufhört. Drei Menschen aus meiner näheren Umgebung sind in den letzten Jahren verstorben. Ich habe richtiggehend Angst vor dem Tod. Ich kann den Gedanken an das Unbekannte nicht ertragen. Was ist der Sinn im Leben? Ich würde gerne an Gott glauben, der uns erschaffen hat; aber es fällt mir schwer. Alles, was ich im Internet gelesen habe, macht mich noch skeptischer. Habt ihr mir einen Rat?»

Dies die Worte eines jungen Mannes, der sich in seiner seelischen Not an www.seelsorge.net wendet und Hilfe erwartet. Solche sinnsuchenden Mails erreicht die Internet-Seelsorge nicht gerade täglich, aber doch wöchentlich. Die meisten Anfragen – zwei bis fünf pro Tag – beziehen sich vornehmlich auf Beziehungsprobleme, auf Fragen der psychischen und physischen Gesundheit, auf Fragen am Arbeitsplatz und finanzielle Probleme. Und immer wieder klingt da die Sinnfrage an; manchmal wird sie sogar konkret mit der bekannten Frage an Gott verwoben, wie Gott dies oder jenes zulassen kann. Dem Rat suchenden User bzw. der Userin, nennen wir ihn Simon, steht wohl das weltweite Netz zur Verfügung, doch mancher verliert sich in der Fülle der Links und Themen. Viele fühlen sich mit ihren Fragen alleingelassen.

Pionierleistung

Mit der Absicht, dass Menschen im neu entstandenen und rasch wachsenden Internet nicht alleingelassen bleiben, gründete vor bereits 20 Jahren der reformierte Pfarrer Jakob Vetsch aus dem kleinen Dörfchen Gretschins (SG) die Internet-Seelsorge. Die Dienstleistung stiess rasch auf Resonanz, insgesamt haben sie in den vergangenen 20 Jahren über 18 000 Personen genutzt. Dabei haben viele Ratsuchende mit der Kirche wenig Berührung. Der Begriff «Seelsorge» ergibt indes einen spürbaren Vertrauensbonus für das kirchliche Angebot.

Heute kümmern sich aktuell 18 katholische und reformierte Pfarrerinnen, Pastoralassistenten oder Psychotherapeutinnen um die Menschen, die sich an die Internet-Seelsorge wenden. Sie zehren von ihrem professionellen Hintergrund, arbeiten aber unentgeltlich. Zwei Mailmaster nehmen wechselweise die Mails entgegen, sichten sie und leiten sie an den oder die Seelsorgerin weiter, deren Schwerpunktthema der Anfrage entspricht und die Kapazitäten frei hat, um zu antworten. Die Mehrzahl der Personen bleibt anonym, was überraschenderweise Nähe und persönliche Offenheit schafft – eine der wichtigsten Vorteile, aufgrund der Internet-Seelsorge überhaupt möglich ist.

Sinnfrage in sprachlosen Zeiten

So wagt Simon, konkret über Dinge im Leben zu schreiben, die er nur mit grosser Scham oder Hemmungen einer anderen Person anvertrauen würde. Vielleicht hätte er diesen Schritt letztlich gar nicht gewagt. Die Mitarbeiter von «Seelsorge.net» haben sich auf die Fahne geschrieben, hinzuhören – respektive «hinzulesen» – ohne zu bewerten.

Simon gegenüber gibt der Berater zu verstehen, dass er mit seinen Fragen nicht alleine ist und viele Menschen sich dieselben Fragen stellen. Die Berater sehen sich nicht in der Position des Experten, sondern gehen davon aus, dass jeder User selber Experte für sein Leben ist. Das Leben befindet sich in einer Bewegung. Diesen Prozess versucht der Berater einfühlsam zu begleiten, indem er zum Beispiel Simon mit Rückfragen hilft, seine derzeitige Lebenssituation zu verorten. Lebensabschnitte erzeugen oft Verunsicherung, und wir reagieren dann besonders sensibel auf unsere Umwelt und nehmen die Geschehnisse um uns bewusster wahr. Sie sind Einbruchstellen für die Sinnfrage. Andererseits erlebt Simon die Sprachlosigkeit und das Desinteresse des gesellschaftlichen Mainstreams zu diesen Fragen.

Verwurzelt im Christentum

In einer solchen Situation fällt der Internet-Seelsorgerin die schöne Aufgabe zu, mit Simon in einen Dialog einzutreten, der zur Sprache bringt, was im Alltag oft unausgesprochen bleibt, auszuhalten, worauf wir keine Antwort haben, und doch Red und Antwort zu stehen, was uns an Hoffnung erfüllt. Die Internet-Seelsorge versteht sich verwurzelt in der christlichen Botschaft und lässt diese vorsichtig einfliessen, wenn das Bedürfnis danach genannt wird; ansonsten bleibt sie unausgesprochen der Boden, auf dem jeder Berater seine Aufgabe erfüllt.

Regelmässige Supervision gehört zur Qualitätssicherung der Internet-Seelsorge. Die Beraterin begleitet eine Person so lange, bis sich eine Lösung zeigt, ein weiterer Schritt in Angriff genommen werden konnte oder eine entsprechende Adresse gefunden wurde. Oft und erfreulicherweise endet eine intensive Begleitung mit Worten des Dankes. So fielen zum Abschluss des längeren Mailverkehrs mit Simon folgende Worte: «Vielen lieben Dank für diese ausführliche und guttuende Antwort. Ihre Ausführungen waren für mich verständlich und geben einen Grund zur Hoffnung.»

Finanzielle Sorgen

Die Internet-Seelsorge ist nicht mehr aus dem weltweiten Netz wegzudenken. Seit 2013 stellt die Internet-Seelsorge eine Zunahme an Anfragen fest (vgl. Statistik S. 505, unten). Gerade Menschen, die einsam und hilflos sind und nicht wissen, an wen sie sich wenden können, finden in ihr eine wichtige Anlaufstelle. Gibt es etwas Schöneres festzustellen, als dass es die Kirche ist, die die Menschen willkommen heisst?

Um diese Bedeutung wissen viele kirchliche Institutionen: Es sind vor allem städtische und kantonale Körperschaften im Raum Zürich, die «Seelsorge.net» mit namhaften Beiträgen unterstützen, wobei die reformierte Seite derzeit einen grösseren Anteil beiträgt. Insgesamt kostete die Internet-Seelsorge im Jahre 2014 bescheidene 180 000 Franken. Die grössten Ausgabeposten waren die Administra-tion und die Werbung. Bis im vorletzten Jahr hat auch die Römisch-Katholische Zentralkonferenz (RKZ) einen wichtigen Beitrag an die gesamtschweizerische, ökumenische Internet-Seelsorge gesprochen. Im Zuge der Neubeurteilung ihrer Finanzen ist die Internet-Seelsorge aus dem Korb gefallen. Dies ist nicht ihr Untergang, verlangt aber von ihr, nach anderen Geldgebern die Augen offen zu halten.

Glaube und Kirche sind nicht die wichtigsten Themen, die die User der Internet-Seelsorge beschäftigen. Doch jeden Tag erfahren sich die schreibenden Seelsorger als «Server», als Diener der Menschen, indem sie sich ihren Fragen, Sorgen und Nöten öffnen. Sie tun dies – Zeichen der Zeit – öfters im Netz als im Pfarrhaus oder im Beichtstuhl. Entscheidend ist nicht wo, sondern dass die Kirche mit der Seelsorge ihre vornehmste Aufgabe weiterführen kann.

Seelsorgegeheimnis und «Big Brother»

Ist das Internet wirklich der geschützte Raum, den sich die Nutzerinnen und Nutzer erhoffen? Zum einen: Ja. Der ganze Mailverkehr läuft anonym. «Seelsorge.net» hält sich strikte an das Seelsorgegeheimnis und gibt keine persönlichen Daten nach aussen. Zum anderen: Nein: «Theoretisch könnte der NSA die E-Mail-Daten mitlesen», sagt Paul Dehli, Internetsicherheitsexperte von «Seelsorge.net». Man habe darüber nachgedacht, die Mails mit komplexen Verschlüsselungen für die Geheimdienste «unattraktiv» zu machen. Schliesslich habe man aber darauf verzichtet, «weil das technische Basiswissen, um den Dienst zu nutzen, möglichst gering sein sollte». Dennoch überlässt «Seelsorge. net» das Feld den Geheimdiensten nicht kampflos: «Unsere Daten sind zentral auf einem Server in Liechtenstein abgespeichert, wo sich die Behörden zum Glück bis heute weigern, mit den Amerikanern zu kooperieren», berichtet Dehli. «Sobald der Mailverkehr aber nach aussen geht, verlieren wir die Kontrolle. Wir bieten aber den Usern Zusatzverschlüsselungen an, wenn sie dies wünschen.»

Bruno Schmid

Bruno Schmid

Bruno Schmid ist Mailmaster bei www.seelsorge.net