Messianische Juden - ebenso interessant wie umstritten

Allein die Pluralität des Judentums in Geschichte und Gegenwart zeigt, dass bereits die Frage «Wer ist Jude?» je nach Kontext unterschiedlich beantwortet wurde und wird.1 Obwohl dies nicht einheitlich bestimmt werden kann, ist eines klar: Nicht jeder, der sich als Jude sieht, wird auch als Jude innerhalb jeder jüdischen Gemeinschaft anerkannt. Die Definition, wer ein messianischer Jude ist, ist naturgemäss noch komplexer und «eine Kategorie mit unklaren Grenzen».2 Innerhalb der messianisch-jüdischen Bewegung finden sich zahlreiche Unterschiede in Theologie und Struktur.3 Eine klare übergeordnete Organisation gibt es nicht. Ihre historischen Wurzeln im Staat Israel liegen selbst in der organisierten Judenmission, die von protestantischen Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert betrieben wurde.4

Immer wieder gab es Juden, die (nicht) freiwillig zum Christentum konvertierten und Mitglied einer christlichen Kirche wurden. Nach strenger Auslegung des jüdischen Rechts (Halacha)5 blieben diese Konvertiten Juden, aber ihr Übertritt bedeutete eine Trennung von der jüdischen Religion. Umstritten ist, dass die messianischen Juden religionsrechtlich, ebenso wie die Konvertiten, Juden bleiben wollen und so ihre Hinwendung zu Jesus als Messias in jüdischer Tradition weiterleben. Sie sehen sich selbst als Juden, die ihr Volk nicht verlassen habe.6 Neu ist, dass sich messianische Juden den eigenen religiösen Bedürfnissen entsprechend nicht mehr oder nur teilweise den etablierten Kirchen anschliessen.7

Mitchristen oder Juden?

Gemeinsam ringen die plurale Welt des religiösen und politischen Judentums und die Kirchen um eine systematische Zuordnung der messianischen Juden, die sich selbst als Teil des Judentums betrachten, aber signifikant christliche Glaubensinhalte teilen. Es handelt sich nicht um eine historische Gruppe – das antike Judenchristentum – sondern um eine junge und auch zeitgenössische Bewegung. Ein nennenswerter Teil der messianischen Juden ist gemäss des jüdischen Gesetzes Jude bzw. Jüdin und glaubt, dass Jesus von Nazareth der (göttliche) Messias ist.8

Von den meisten jüdischen Gemeindevertretern werden messianische Juden nicht als Juden anerkannt, obwohl die Halacha in eine andere Richtung weisen könnte. Der Stein des Anstosses liegt jüdischerseits im Bekenntnis der messianischen Juden zu Jesus als Messias und Sohn Gottes. Die Frage, ob messianische Juden Juden sind, ist daher eine Aufgabe, die innerjüdisch zu klären bleibt. Es gibt keine einheitliche Position durch alle Formen des Judentums hinweg – ausser vielleicht der halachischen –, sodass die Frage nicht von christlicher Seite beantwortet werden kann, sondern von den jüdischen Gemeinden vor Ort selbst zu klären ist.9 «Christinnen und Christen haben in der Geschichte immer wieder gewusst, was Juden falsch machen und besser gewusst, was sie zu sein hätten.»10

Je nachdem, welchen Schwerpunkt man stärker gewichtet, den Glaubensakt, lateinisch «fides qua creditur», oder den Glaubensinhalt, lateinisch «fides quae creditur», sind die messianischen Juden eher im jüdischen oder eher im christlichen Spektrum verortet. Br. Tilbert Moser, Kapuziner in Olten, sieht in den messianischen Juden, «unsere unbekannten Mitchristen», eine Aussage, die insofern stimmt, da die Glaubensinhalte der messianischen Juden eher christlich determiniert sind, wohingegen man auch den persönlichen Glaubensakt berücksichtigen muss, den sie selber als jüdisch bezeichnen. Ob die messianischen Juden als «Mitchristen» bezeichnet werden wollen, steht zur Debatte. Denn die messianischen Juden bezeichnen sich ihrem Selbstverständnis nach als Gruppe innerhalb des Judentums. Auf theologischer Ebene sind sie jedoch eher im christlichen als im jüdischen Spektrum anzusiedeln.

Hebräisch sprechende Katholiken in Israel – Vikariat seit 1955

Im Staat Israel bilden die Hebräisch sprechenden Katholiken (Hebrew Catholics) römisch-katholische Gemeinden. Verantwortlich ist für diese der Generalvikar des Lateinischen Patriachats in Jerusalem: der jüdisch stämmige Jesuit David Neuhaus. Als katholischer Priester ist er für die Gläubigen in seiner Gemeinde bzw. in seinem Vikariat zuständig. Ihrem Selbstverständnis und ihrer Verbindung nach aussen stehen diese katholischen Gemeinden auf anderen als auf rabbinischen Fundamenten. Sie stehen in voller Einheit mit dem Bischof von Rom. Nicht die Tatsache, dass Juden an Jesus glauben, eint die Gläubigen des Vikariats, sondern die hebräische Sprache, in der sich der katholische Glaube artikuliert. Ob jemand jüdischer Herkunft ist oder nicht, spielt keine formale Rolle bei der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde.11

Nach Benjamin Berger, einem messianisch-jüdischen Pastor in Jerusalem, sind alle Personen messianisch-jüdisch, die an Jesus glauben und aus dem jüdischen Volk stammen. Die seliggesprochene Edith Stein, der verstorbene Erzbischof von Paris, Kardinal Jean-Marie Lustiger, oder David Neuhaus SJ sind für Benjamin Berger messianische Juden.12 Diese Zuschreibung ist katholischerseits zurückzuweisen.

So wie die Jerusalemer Urgemeinde an Jesus als den Messias glaubte, so ziehen die messianischen Juden ihre Parallelen zur Urgemeinde. Sich als Christen zu bezeichnen, wie es die hebräischen Katholiken klar und deutlich tun, liegt den messianischen Juden fern, da sie als Teil des Judentums akzeptiert werden wollen.13

Dialog JA – Judenmission NEIN

Die messianisch-jüdischen Gemeinden sind grösstenteils judenmissionarisch14 tätig. Die etablierten Kirchen lehnen aus theologischen und historischen Gründen die institutionelle und personelle forcierte Judenmission ab. In Israel besteht seit 1977 ein staatliches Gesetz, dass christlichen Kirchen die Mission an Juden verbietet.15 Der Bund Gottes mit seinem Volk Israel wurde nie gekündigt, und die belastete Beziehung der Christen zu den Juden ruft die Kirchen zur Verantwortung. Viele Personen, die in den christlich-jüdischen Dialog involviert sind, betrachten die messianischen Juden daher als eine Bedrohung für den gegenseitigen Respekt, der in den letzten Jahrzehnten zwischen Juden und Christen aufgebaut wurde.16 Die messianischen Juden sind daher keine Gesprächspartner innerhalb des jüdisch-christlichen Dialogs.

Einerseits gibt es synkretistische Zuschreibungen gegenüber den messianischen Juden, die oft von jüdischer und christlicher Seite zu beobachten sind. Daher überrascht es nicht, dass sich messianische Juden von Juden und Christen zurückgewiesen und missverstanden fühlen. Andererseits wollen die etablierten Kirchen nichts mit der Judenmission der messianischen Juden zu tun haben, da diese abgelehnt wird.17 Es besteht aber ein Gerüst an semi- offiziellen Dialogen zwischen Hebräisch sprechenden Katholiken und messianischen Juden. David Neuhaus SJ ist in zwei verschiedenen Projekten mit messianischen Juden involviert18, die Roman Catholic – Messianic Jewish Dialogue Group und in der Helsinki Consultation.19

Wie sieht David Neuhaus SJ, der als Sohn deutscher Juden in Südafrika geboren wurde, die Judenmission20 der messianisch-jüdischen Bewegung? Er sagt von sich, dass er Zeugnis für seinen Glauben gibt, aber nicht wie die messianischen Juden. Diesen fehle es an Taktgefühl; auch wenn nicht alle messianischen Juden an einer Strassenkreuzung stehen wie manche evangelikalen Christen, so gebe es doch ähnliche Missionsmethoden. David Neuhaus SJ bemängelt, dass es der messianisch-jüdischen Bewegung mehrheitlich an einem Geschichtsbewusstsein des Christentums fehlt. Die Gemeinde der Hebräisch sprechenden Katholiken versteht sich nicht als eine Art Missionsstation, die einen Proselytismus zur katholischen Kirche betreibt. Sie sieht sich als Gemeinschaft von gläubigen Christen inmitten eines jüdischen Milieus, die sich der jüdischen Wurzel des christlichen Glaubens besonders bewusst ist sowie der Kirchengeschichte, in der das Verhältnis zum Judentum bedauernswerter Weise oft durch offensive Missionierung, Antisemitismus und Antijudaismus geprägt worden ist und auch Mitschuld am katastrophalen Völkermord in der Shoa trug. Dieses allgemeine Kirchengeschichtsbewusstsein macht die hebräischen Katholiken äusserst sensibel, wenn es um Missionierung von Juden geht, so lehnen sie diese strikt ab und distanzieren sich auch von der Praxis judenmissionierender messianisch-jüdischer Gemeinden.21

Für das Heil der Welt

Erwählung und Weltverantwortung gehören für das Volk Israel und damit für das heutige Judentum innerlich zusammen. Die Kirche bezieht sich auf das Volk Israel, daher ist ein Zusammenhang mit diesem gegeben. In der Bibel wird niemand für sich selbst erwählt oder nur metaphysisch erwählt, sondern für die Menschheit beziehungsweise für die kommende Herrschaft Gottes. Es gibt zwischen Christen- und Judentum eine Glaubensdifferenz, aber trotz dieser ist eine Zusammenarbeit gefordert, nicht um ihrer selbst willen, sondern pro mundi salute – für das Heil der Welt. Juden und Christen haben den Ruf Gottes zu hören und konkrete Wege der Gerechtigkeit und des Heils aufzuzeigen und zu bahnen.22 Ein Anliegen, dem jüngst orthodoxe Rabbiner dezidiert zustimmten, die für ein gemeinsames Vorgehen beider Religionen einstehen, ohne die Unterschiede der Religionen zu nivellieren.23 Die theologische Basis des jüdisch-christlichen Verhältnisses bildet der nie gekündigte Bund Gottes mit seinem Volk Israel.24

«Gott rettet ganz Israel» (Röm 11,26)

Eine planmässig institutionell durchgeführte Mission mit dem ausschliesslichen Ziel, Juden zu missionieren, ist strikt abzulehnen – dies muss christlicherseits genauso für messianische Juden gelten. Keinesfalls kann aber jede Form des Lebens- und Glaubenszeugnisses von Christen als Mission25 gedeutet werden. Wenn jemand persönlich in der Begegnung mit Jesus Christus den Entschluss fasst, Christ zu werden, so ist dies als eine individuelle Glaubensentscheidung zur Nachfolge Jesu Christi, wie sie David Neuhaus SJ und andere Jüdinnen und Juden vor ihm wagten, zu akzeptieren. Eine Konversion zum Christentum ist keine theologische Vorgabe, sondern der individuelle Ausdruck des freien Willens einer Person. Für messianische Juden hingegen ist das Ziel ihrer Mission erst dann erfüllt, wenn alle Juden zu Jesus bekehrt wurden. Diesem fundamentalistischen Vorhaben ist mit Paulus zu entgegnen: «Gott rettet ganz Israel» (Röm 11,26).

 

1 Jüdische Identität oder «Wer ist ein Jude?» wird u. a. in biblischer Zeit, im orthodoxen und konservativen Judentum, aber auch im progressiven Judentum, im Zionismus und im Staat Israel unterschiedlich definiert. Vgl. Olmer, C. Heinrich, «Wer ist Jude?». Ein Beitrag zur Diskussion über die Zukunftssicherung der jüdischen Gemeinschaft, Würzburg 2010.

2 Rucks, Hanna, Messianische Juden. Geschichte und Theologie der Bewegung in Israel, Neukirchen Vluyn 2014, 14.

3 Anhand von fünf theologischen Themen: «God’s nature, activity and attributes», «The Messiah», «Torah in theory», «Torah in practice» und «Eschatology», erarbeitet der Amerikaner Richard Harvey acht Typen messianisch-jüdischer Theologie innerhalb der messianisch-jüdischen Bewegung, die eine weitere Auseinandersetzung mit christlicher und jüdischer Theologie ermöglichen. Vgl. Harvey, Richard, Mapping Messianic Jewish Theology. A Constructive Approach, London 2009.

4 Vgl. S. Hermle, Art.: Judenchristen, in: RGG4 4, 608f. Vgl. S. Pfister, Messianische Juden in Deutschland 51,54,59–61.

5 Vgl. mKidd III,12; bKidd 68b; mJev II,5.

6 Vgl. Von der Osten-Sacken, Peter, Ein Empfehlungsbrief Christi. Zur Debatte um Judenmission, Judenchristen und messianische Juden, in: Frankenmölle, Hubert / Wohlmuth, Josef (Hg.), Das Heil der Anderen. Problemfeld: «Judenmission», Freiburg i. Br. 2010, 89.

7 Vgl. Ben-Chorin, Schalom, Messianische Juden. Judenchristen in Israel, in: Ders., Theologia Judaica. Gesammelte Aufsätze, Lenzen, Verena (Hg.), Band 2, Tübingen 1992, 175–178; 176.

8 Von der Osten-Sacken, Peter, Ein Empfehlungsbrief Christi. Zur Debatte um Judenmission, Judenchristen und messianische Juden, in: Frankenmölle, Hubert / Wohlmuth, Josef (Hg.), Das Heil der anderen. Problemfeld: «Judenmission», Freiburg i. Br. 2010, 89.

9 Steiner, Martin, Messianische Juden und hebräisch sprechende Katholiken. Eine Studie über ausgewählte Jerusalemer Gemeinden, Diplomarbeit, Wien 2015, 151.

10 Himmelbauer, Markus, Jude und zugleich Christ sein – geht das? Verschriftlichter Vortrag bei der Tagung des Martin-Luther-Bundes zum Thema «Christentum und Judentum – Kirche und Synagoge», Goersdorf/Frankreich 23. September 2014, 13.

11 Vgl. Neuhaus, David, Opus Sancti Jacobi, unveröffentlichtes Interview vom 20. August 2013 (mit ausdrücklicher Zustimmung von David Neuhaus).

12 Berger, Benjamin, Christ Church, unveröffentlichtes Interview vom 3. Juni 2013 (mit ausdrücklicher Zustimmung von Benjamin Berger).

13 Vgl. ebd.

14 Nicht-missionarisch tätige messianisch-jüdische Gemeinden bilden eine Ausnahme. Der amerikanisch messianische Jude Mark Kinzer appelliert für diese Form des «postmissionarischen messianischen Judentums», die einen toraobservanten Lebensstil fordert, und nimmt in seinem theologischen Konzept Abstand von einer aktiven Judenmission. Vgl. Kinzer, Mark, Postmissionary Messianic Judaism. Redefining Christian Engagement with the Jewish People, Michigan 2005.

15 Knesset Gazette (Gesetzesentwürfe), Nr. 1313 (englische Übersetzung im UCCI-Memo­randum «Penal Code Amendment Law Enticement to Change of Religion»), von der Knesset angenommen am 27. Dezember 1977, zit. in: Kjær-Hansen, Kai / Kvarme, Ole Christian Mælen, Messianische Juden. Judenchristen in Israel (= Erlanger Taschenbücher, Bd.67), übers. v. Moritzen, Niels Peter und Baumann, Arnulf H., Erlangen 1983, 182; siehe auch: http://archives.wcc-coe.org/query/detail.aspx?ID=91110 (Stand: 11. August 2016).

16 Vgl. Kessler, Edward, Art.: Messianic Jews, in: A Dictionary of Jewish Christian Relations, Cambridge 2005, 292f.

17 Vgl. ebd.

18 Vgl. Neuhaus, David, Opus Sancti Jacobi, unveröffentlichtes Interview vom 20. August 2013 (mit ausdrücklicher Zustimmung von David Neuhaus).

19 http://helsinkiconsultation.squarespace.com (Stand: 11. August 2016).

20 Zum Thema Judenmission siehe: Lehmann, Karl, «Judenmission». Hermeneutische und theo­logische Überlegungen zu einer Problemanzeige im jüdisch-christlichen Gespräch, in: Frankenmölle, Hubert / Wohlmuth, Josef (Hgg.), Das Heil der anderen. Problemfeld: «Judenmission», Freiburg i. Br. 2010, 142–167.

21 Vgl. Neuhaus, David, Opus Sancti Jacobi, unveröffentlichtes Interview vom 20. August 2013 (mit ausdrücklicher Zustimmung von David Neuhaus).

22 Vgl. Thoma, Clemens, Die theologischen Beziehungen zwischen Christentum und Judentum, Darmstadt 1982, 27–30.

23 Vgl. Orthodox Rabbinic Statement on Christianity, vom 3. Dezember 2015, URL: http://cjcuc. com/site/2015/12/03/orthodox-rabbinic-statement-on-christianity/ (Stand: 12. August 2016).

24 Vgl. Henrix, Hans Hermann, Der nie gekündete Bund: Basis des christlich-jüdischen Verhältnisses, URL: https://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/theologie-des-dialogs/der-nie-gekuendigte-bund-basis-des-christlich-juedischen-verhaeltnisses (Stand: 16. August 2016).

25 Vgl. Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, «Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt» (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums von «Nostra aetate» (Nr. 4), vom 10. Dezember 2015. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Bonn 2015, 33–35.

Martin Steiner

Mag. Theol. Martin Steiner studierte Religionspädagogik und Katholische Fachtheologie in Wien/Jerusalem/ Fribourg. Er ist Doktorand und Projektmitarbeiter am SNF Forschungsprojekt zum Thema «Die Konferenz von Seelisberg (1947) als ein internationales Gründungsereignis des jüdisch christlichen Dialogs im 20. Jahrhundert» von Prof. Dr. Verena Lenzen am Institut für Jüdisch Christliche Forschung (IJCF) der Universität Luzern.