Es waren die zehn Seelisberger Thesen1, die den Dialog zwischen Juden und Christen ab August 1947 prägnant in Gang brachten und die endgültige Absage des christlichen Antisemitismus anmahnten. 70 Jahre danach zeigt sich, wie «Theologie fortan anders gedacht»2 werden muss(te). Am Seelisberger Ereignis nehmen die Beiträge dieser Ausgabe der theologischen Berichte Mass. Daraus ist ein kenntnisreiches Kompendium geworden, welches nicht nur festhält, wie bedeutend kleine und grössere Schritte im neu geforderten Miteinander von Juden und Christen wurden. Wo missionarische Absichten vorlagen, waren diese für den Dialog nicht förderlich
Zur Entstehung des Antisemitismus
Wie Verena Lenzen zeigt, hatte Jules Isaac (1877– 1963) mit seinen Studien die Entstehung des Antisemitismus aufgedeckt und auslösend auf die Entstehung der Konzilserklärung «Nostra Aetate» gewirkt.3 Die Versöhnung zwischen Katholiken und Juden konnte «offiziell» beginnen.4 Bereits Johannes XXIII. und darauf aufbauend seine Nachfolger vertieften diesen Ansatz. Die «Wunden der Missverständnisse und Ungerechtigkeiten» (Johannes Paul II.) sollten geheilt werden. Die Aufarbeitung schwieriger Geschichte und gegenseitiges Verstehen müssen nun an der Schriftlektüre Mass nehmen. So sieht Kurt Koch den Text der Päpstlichen Bibelkommission vom 24. Mai 2001 «Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel» als das «zweifellos bedeutendste Dokument im katholisch-jüdischen Gespräch»5. Die Überzeugungen der anderen ernst nehmen ist zentrales Anliegen des Schweizer Kardinals, demgegenüber die Einschätzungen Simon Erlangers über den neu-alten Antisemitismus ernüchternd wirken, da die «Zukunft des Judentums in der Schweiz … so ungewiss wie schon lange nicht mehr» ist.6
Verändertes Judas-Bild
Dies ruft nach Fortsetzung des Dialogs7 und Ausloten erweiterter Perspektiven. Eine eröffnet Jean- Claude Wolf mit seiner Auseinandersetzung über die Auffassung von Freiheit bei Hermann Levin Goldschmidt.8 Dessen dramatisches Gedicht «Judas in Spanien» – entstanden 1935 und erst 2014 veröffentlicht – lässt Judas die Verkehrung der Liebe in Hass anprangern. Das «Dramolett» endet ironisch und «vertritt eine Gemeinsamkeit des richtigen Tuns, die vereinbar ist mit einer Vielfalt der Religionen». Wolf reklamiert darum «die Fähigkeit zu einer gewissen Selbstdistanz, die Gelassenheit gegenüber Kritik und Spott von innen und von aussen». Das «frühreife Feuerwerk» Goldschmidts konstruierte ein verändertes Judas-Bild, ganz im Sinne der Freiheit im Widerspruch, der sich der Autor verpflichtet hatte. Judas kann hier ausrufen: «Wie wisst ihr Liebe in Hass zu verkehren!» und die alles entscheidende Frage stellen: «Sind wir nicht alle Gottes Kinder?»
Anamnetisches Lernen
70 Jahre seit der «Generation der Zeitzeugen und Opfer der Shoa» ist ein Menschenleben später. Christian Cebulj lotet die religionspädagogische Aufgabe aus, die sich dabei stellt.9 Gegen das Vergessen ist erinnerungsgeleitetes Lernen gefordert, das dem kulturellen Gedächtnis (Assmann) verpflichtet bleibt. Doch sowohl die Herausforderung der Integration des Islams in Europa wie der Rückgang der Kenntnis biblischer Inhalte schränken jüdisch-christliche Lernprozesse ein. Diese verlaufen nach einer didaktischen Landkarte, geprägt von den fünf Grundpfeilern «Gott – Bund – Volk – Land – Hoffnung». Lehrmittel mussten überarbeitet werden, um wegzukommen von antijüdischen Vorurteilen und Feindbildern und zu erhöhter «Sensibilität» und «Gespür für einen angemessenen Umgang mit Juden heute» zu gelangen.
Cebulj versteht nun die zehn Thesen von Seelisberg im Sinne Aleida Assmans als Erinnerungsraum. In ihn müssten alle eintreten und sowohl Seelisberg erinnern wie auch «Nostra Aetate» verwirklichen, ohne dass die jüdische Religion ein Sonderthema bleibt, das der Vergangenheit allein angehört. Wo die These 3 von Seelisberg moniert, dass die jüdischen Jesusanhänger inkl. Paulus ein Leben lang Juden waren, ist dies in Lehrmitteln korrigierend ernst zu nehmen.
Erweiterter Horizont nötig
Schliesslich erläutert Walter Weibel aufgrund seiner Dissertation den jüdisch-christlichen Dialog in der Erziehung.10 Im Kontext der bundesweiten Harmonisierung der Schulziele (Lehrplan 21) ist dabei die «Holocaust-Erziehung» nicht auf das Fach Geschichte zu reduzieren. Im Gegenteil: «Jüdisch-christlicher Dialog in der Erziehung ist nur möglich, wenn staatliche und kirchliche Erwachsenenbildung sorgsam und umfassend das Thema des Judentums aufnehmen.»