Die Messianischen Juden - unbekannte Mitchristen

Die messianisch-jüdische Bewegung ist ein immer grösser werdendes religiöses Phänomenon unserer Zeit. Weltweit und insbesondere im Staat Israel führt ihr Dasein zu komplexen juristischen und theologischen Fragestellungen hinsichtlich ihrer jüdischen bzw. christlichen Identität. Tilbert Moser und Martin Steiner zeigen ihre unterschiedliche Sicht auf ein nicht alltägliches Thema.

Durch alle Jahrhunderte gab es Juden, die Christen wurden und sich einer bestehenden «heidenchristlichen» Kirche anschlossen. In der Mitte des letzten Jahrhunderts begann das Phänomen der messianischen Bewegung, in der Juden sich in grösserer Zahl auf neutestamentlicher Basis Jesus als dem jüdischen Messias und Heiland der Völker anschliessen, sich im einen Leib Christi mit uns «Heidenchristen» verbunden wissen. Doch möchten sie nicht einfach in einer bestehenden Kirche aufgehen, sondern entweder eigene «messianische» Gemeinden bilden oder sich einer bestehenden Kirche anschliessen, in der sie in ihrer jüdischen Sonderberufung anerkannt werden. Etliche schliessen sich zudem einer juden-christlichen Allianz an. Sie verstehen sich als Neuaufleben der jüdischen Mutterkirche. Was sie verbindet ist ihr bewusstes Judesein, das Neue Testament und das Bekenntnis, dass Jesus der Messias Israels, der Sohn Gottes und Heiland der Völker ist. Sonst gehen mangels zentraler Leitung und verbindender Tradition die theologischen Auffassungen weit auseinander. Eine solide «Messianische Christologie» bietet der messianische Schriftgelehrte Arnold G. Fruchtenbaum (Christlicher Mediendienst 2011).

Weltweit etwa 1000 messianisch-jüdische Gemeinden

Die Zahlenangaben gehen weit auseinander. Nach einer vorsichtigen Schätzung gibt es unter den weltweit 15 Millionen Juden mindestens 120 000 messianische Juden. In Israel sind es über 15 000, in Deutschland etwa 2500, in der Schweiz ein Paar Duzend, die keine eigene Gemeinde bilden. Den weltweit etwa 1000 messianisch-jüdischen Gemeinden schliessen sich gern auch judenfreundliche Nichtjuden an. Besonders ausführlich sind wir orientiert über die messianische Bewegung in Israel durch die Promotionsarbeit der Pastorin Hanna Rucks: «Messianische Juden. Geschichte und Theologie der Bewegung in Israel»1 und das von messianischen Juden in Jerusalem herausgegebene Monatsmagazin «Israel heute» (www.israelheute.com). Die gemäss diesem Magazin rund 265 registrierten messianischen Gemeinden in Israel haben untereinander nur lose Beziehungen und pflegen verschiedene Stilrichtungen. Die einen führen den Lebensstil und die Liturgie orthodoxer Juden weiter, ergänzt durch den neutestamentlichen Glauben. Andere haben die rabbinischen Formen ziemlich aufgegeben. Etliche haben sich einer christlichen Kirche angeschlossen. Generalvikar des Lateinischen Patriarchates für die «Hebräisch-katholischen» Gemeinden in Israel ist der jüdischstämmige Jesuit David Neuhaus. Um in eine lebendige Beziehung zur messianischen Bewegung zu kommen, sorgen verschiedene christliche Israelwerke, welche mit ihren Publikationen und Anlässen darüber informieren und markante Vertreter aus Israel zu Vorträgen und Seminaren einladen.

Pfingstlich-charismatische Dimension

In den Zeugnisberichten fällt auf, dass bei Juden, die zum Glauben an Jesus kamen, oft ein ausserordentliches Eingreifen von Gottes Gnade mitspielte. So berichtet der messianische Leiter Benjamin Berger, Sohn von Holocaustüberlebenden, aus Jerusalem: «Es geschah eines Tages (im Jahr 1967), als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ich sass in meinem Zimmer. (…) Während ich so nachdachte, spürte ich plötzlich, dass ich nicht allein im Zimmer war. Ich sah niemanden, spürte aber immer stärker die Gegenwart einer anderen Person. Damit verbunden herrschte eine Atmosphäre der Liebe, einer Liebe, die nicht von dieser Welt war und die mich ganz ergriff. Ich begann zu weinen. Dann war es, als ob jemand mir einen Schlüssel in meine Seele hineinreichte und eine Tür öffnete. Dann redete Gott zu mir, nicht hörbar, aber ganz deutlich (…): ‹Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und du bist mein Kind (…)›, so wuchs Berger durch Gnadenführung und das Studium des Neuen Testamentes in die Jesusjüngerschaft hinein.»2

Dies zeigt, dass man die messianische Bewegung nicht verstehen kann ohne die «pfingstlich-charismatische» Dimension, wie es Petrus in seiner Pfingstpredigt anhand von Joël 3,1–5 beschreibt. So pflegt die Mehrheit der messianischen Gemeinden die pfingstlichen Gaben mit «charismatischem» Gottesdienststil und werden darum von «geistoffenen» Kreisen am ehesten verstanden, wie das Buch «Geistgewirkt …» zeigt (vgl. Anm. 5).

Viele Berichte messianischer Juden zeigen, dass oft die jüdische Orthodoxie keine persönliche Beziehung zum lebendigen Gott Israels vermitteln konnte, sondern dass erst die Begegnung mit Jesus sie ihre tiefste jüdische Identität finden liess, die in der erfahrenen Bundesgemeinschaft mit dem lebendigen Gott Israels ihren Kern hat.

Zu unterscheiden von der dargestellten messianischen Bewegung ist die wachsende Anziehung, die Jesus auf Juden ausübt, zwar nicht als Gottes Sohn, doch als hervorragender, sein Volk liebender Jude, Prophet und Weisheitslehrer. Siehe Schalom Ben Chorin mit seinem Ausspruch: «Der Glaube Jesu verbindet uns; der Glaube an Jesus trennt uns.»

Jesus ist dran, sich seinem Volk stufenweise als sein Bruder und Freund zu erkennen zu geben nach dem prophetischen Vorausbild des ägyptischen Josef: «Ich bin Josef (Jesus), euer Bruder» (Gen 45,4; vgl. Hebr 2,11f). Dass Jesus auf der Seite der Juden steht und ihr Leidensschicksal auf sich genommen hat, stellte der jüdische Maler Marc Chagall ergreifend auf seiner «Weissen Kreuzigung» (1938) dar. Wir Christen aus den Völkern sind gerufen, diese Zuwendung Jesu zu seinem Volk feinfühlig zu unterstützen.

Die heilsgeschichtliche Bedeutung

Die messianische Bewegung markiert einen einschneidenden heilsgeschichtlichen Wendepunkt: Kaiser Konstantin setze mit dem Konzil von Nizäa (325) eine klare Zäsur zwischen Kirche und Synagoge. Juden, die sich der Gemeinde Jesu anschliessen wollten, mussten allem Jüdischen widersagen. Umgekehrt bezeugt die messianische Bewegung, dass die Kirche Jesu erst vollständig ist, wenn sie den jüdischen Teil als Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk wieder in ihre Mitte aufgenommen hat.

Einen kurzen Durchblick über die heilsgeschichtliche Bedeutung dieser Bewegung bietet Christoph Meister, reformierter Theologe und Leiter des Werkes «Gemeindehilfe Israel»3, das den Kontakt mit messianischen Gemeinden in Israel pflegt, in seinem Artikel «Die messianische Bewegung in Israel».4 Ich zitiere daraus: «Seit den neutestamentlichen Tagen gab es kein so grundlegendes, heilsgeschichtliches Eingreifen Gottes in der Weltgeschichte mehr. Von vielen nicht erkannt, ist es zur grossen Herausforderung, Infragestellung und Transformation für das jüdische Volk, für die Christenheit und für die Nationen geworden. – «Gerade so ist die messianische Bewegung der Schlüssel in Gottes Hand zur endzeitlichen Heilung und Wiederherstellung Israels und der Gemeinde Jesu. Sie ist der Wegbereiter des messianischen Reiches mit der Wiederkunft Jeschuas auf den ‹Thron seines Vaters David› (Lk 1,32).»

Diese Sicht, in der die messianische Bewegung in die endzeitliche Perspektive gestellt wird, tönt für viele «fundamentalistisch». Doch katholische Theologen wie Peter Hocken, Mitbeteiligter im Dialog zwischen römisch-katholischer Kirche und den messianischen Juden, helfen, dies besser zu verstehen. Hocken hat bereits im Buch «Die Strategie des Heiligen Geistes» (D & D-Medien, 1996) das Zusammenspiel der verschiedenen kirchlichen Geistbewegungen und der messianischen Bewegung beleuchtet. Er tut es weiter im Buchbeitrag «Die Beziehung zwischen der messianisch-jüdischen und der charismatischen Bewegung».5 Die messianische Bewegung ist zu sehen als Teil der «Wiederherstellung Israels», wozu der Geistesmann, Konvertit und Priester Heinrich Spaemann (1903–2001) schreibt: «Das wichtigste Datum des 20. Jahrhunderts ist für den, der mit der Bibel denkt, die Wiedervolkwerdung Israels nach einem fast zweitausend Jahre währenden Passionsweg und nach Auschwitz als einem zweiten Golgotha – Johannes Paul II. nannte es mehrfach so. Diese ‹Auferstehung› Israels ist Einlösung der Ezechielprophetie: Aus einem unabsehbaren Totenfeld wird eine lebendige Heerschar (Ez 37,1–14). Dem Römerbrief nach ist sie das letzte Heilszeichen in der Menschheitsgeschichte vor dem Jüngsten Tag …»6 Schon die Rheinische Kirche hatte in der Synode von 1980 erklärt, dass «die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheissung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk» sind.

Diese «Wiedervolkwerdung» bzw. «Wiederherstellung Israels» (nach Ez 37 in zwei Etappen: zuerst äusserlich, dann geistlich) ist im Grund schon in der Konzilserklärung von Nostra aetate 4 gemäss Röm 9–11 enthalten: «Den Juden gehören (immer noch) die Verheissungen … Sie sind immer noch von Gott geliebt um der Väter willen, sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich.» Viele können diese Sicht nicht teilen, belastet von der alten «Enterbungslehre», gemäss der die Juden wegen ihrer Verwerfung des Messias ihrer Verheissungen von der Christenheit «enterbt» wurden oder einfach, weil sie die «Zeichen der Zeit» (Lk 12,54), wozu die messianische Bewegung gehört, nicht zu lesen verstehen.

Unser christlicher Beitrag

Der Grossteil der Christenheit hat das Phänomen der messianischen Bewegung überhaupt nicht wahrgenommen, geschweige denn deren Bedeutung erfasst. Und jene Kirchenleute, die sich für den Dialog mit jüdischen Theologen einsetzen, empfinden oft das Zeugnis jesusgläubiger Juden als störend. Unsere jüdischen Glaubensgeschwister brauchen unsere Solidarität, damit sie ihren Auftrag als Brücke zwischen Juden, Christen und Muslimen nachhaltiger erfüllen können. Umgekehrt helfen sie uns, tiefer in Kontakt zu kommen mit unserer jüdischen Wurzel (Röm 11,17f). Dazu dienen die Angebote christlicher Israelwerke.

Von besonderem ökumenischem Interesse ist die Bewegung TJCII, Toward Jerusalem Council II, dem zweiten Jerusalemkonzil entgegen.7 Sie geht zurück auf eine Vision von Marty Waldman (1995), dem damaligen Präsidenten der «Union of Messianic Jewish Congregations» in den USA. Er beschreibt die Entstehung so: «Während ich mich intensiv mit dem Apostelkonzil in Jerusalem (Apg 15) beschäftigte, begann der Herr, mir die Notwendigkeit eines zweiten Konzils nahezubringen, das die Bollwerke des Antisemitismus und der Trennungen im Leib des Messias einreissen würde, um so die Einheit wiederherzustellen und zur Heilung tiefer Wunden beizutragen.» Diese Bewegung sucht die Einheit der jesusgläubigen Juden mit den Kirchen im einen Leib Christi sichtbar zu machen, wobei der jüdische Teil sich nicht einfach einer alten Kirche anschliesst und darin aufgeht, sondern dem Modell von Eph 2,11–22; Röm 11,13–24 folgt, wo der jüdische Teil in seinem jüdischen Charakter als Zeichen der Treue Gottes erhalten bleibt. Die Bewegung drängt die Kirchen, einander ökumenisch näherzurücken mit dem Hoffnungsbild der um denselben Abendmahlstisch vereinten Juden und Nichtjuden.

Kardinal Christoph Schönborn ist Verbindungsmann der Bewegung zum Vatikan, Koordinator für Europa, sein Hauptdiakon Johannes Fichtenbauer und für die Schweiz der katholische Religionspädagoge Markus Neurohr.8

Der eskalierende Islamterror, der Juden und Christen vernichten möchte, zwingt uns, Gegensteuer zu geben, indem wir uns entschlossen auf die Seite der «Strategie des Heiligen Geistes» stellen, der darangeht, sein Volk aus Juden und Nichtjuden zur Einheit zu verbinden, zum Segen für die Völker.

 

1 Neukirchener Theologie 2014, 557 S. Siehe auch www.wikipedia.org unter «Messianische Juden».

2 Aus dem Bericht der Brüder im Magazin Charisma des Jesushauses Düsseldorf, ergänzt aus der Biografie: Der Weg. Der gute Weg unseres Lebens mit Jeschua im Land Israel, 2010.

3 www.gemeindehilfe-israel.ch

4 In www.israelwerke.ch

5 Im Sammelband Geist­gewirkt – Geistbewegt. Die charismatische und die messianische Bewegung, Hrsg. Marie Sophie Lobko­wicz, Vorworte von Kardinal Christoph Schönborn und Altbischof Ulrich Wilckens, Verl. GGE Hamburg, 2010.

6 Vgl. «Der erneuerte Bund. Gottes Weg mit Israel», Hrsg. v. Christoph Joest im Präsenz-Verlag, S. 5.

7 www.tjcii.org und www.peterhocken.org

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Tilbert Moser (Bild: tilbert.info.ch)

Tilbert Moser

Der Kapuzinerpriester Tilbert Moser (1932) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Themen Ökumene, christlichjüdischen Beziehung, geistige Hintergründe des Nahostkonflikts und hat vieles darüber publiziert. Er wirkt in verschiedenen Gesprächskreisen mit (siehe www.tilbert.info )