Menschenwürde und Grundrechte im Konflikt

Wie regelt das Schweizer Strafgesetzbuch den späten Schwangerschaftsabbruch? Unter welchen Bedingungen ist ein solcher straffrei und ab wann stehen einem Kind alle Rechte der Rechtsordnung zu?

Jede Abtreibung ist die Tötung eines ungeborenen Kindes. Aus diesem Wissen heraus muss jede Rechtsordnung zunächst die grundsätzliche Frage klären: Was kann und muss ein Strafgesetz im weltlichen Recht in diesem Kontext leisten?

Die Fristenlösung (Art. 119 Abs. 2 StGB)

In der Schweiz wurde diese Frage mit dem Inkrafttreten der Fristenregelung vor 17 Jahren wie folgt gelöst: In den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft liegt der Entscheid über einen Schwangerschaftsabbruch allein bei der Frau. Sie muss ein schriftliches Gesuch beim Arzt stellen und darin geltend machen, sie befinde sich in einer Notlage − ohne diese Notlage näher begründen zu müssen. Ab der 13. Schwangerschaftswoche ist eine Indikation nötig, die vom Arzt beurteilt werden muss. Der Arzt muss jetzt vor dem Abbruch zwingend «eine schwere seelische Notlage oder die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung» attestieren (Art. 119 StGB). Ferner muss er mit der schwangeren Frau ein Gespräch führen und sie über die gesundheitlichen Risiken des Eingriffs informieren, ihr einen Leitfaden aushändigen, der über Beratungs- und Hilfsstellen informiert und der über die Möglichkeit einer Adoption Auskunft gibt (Art. 120 StGB). Jeder Abbruch ist sodann der Gesundheitsbehörde zu melden. Der Abbruch nach der zwölften Schwangerschaftswoche wird gemeinhin als «Spätabtreibung» bezeichnet.

Die Rechte der Frau haben Vorrang

Bei jedem Schwangerschaftsabbruch stehen sich die Rechte der Mutter und die Rechte des ungeborenen Kindes gegenüber. Bei der Kollision zwischen der dem ungeborenen Kind zustehenden Menschenwürde und den in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Grundrechten seiner Mutter haben grundsätzlich die Rechte der Frau Vorrang. Die im Folgenden beschriebenen Indikationen ermöglichen daher einen Abbruch auch in einem bereits weit fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft.

Indikationsregelung (Art. 119 Abs. 1 StGB)

Nach Ablauf der Zwölfwochenfrist bleibt der Schwangerschaftsabbruch straflos, wenn eine medizinische oder eine sozial-medizinische Indikation vorliegt. Wie alle Menschen haben auch berühmte Menschen oft ein schweres Schicksal zu tragen. Angelo Kelly von der Kelly Family erzählte in einem Fernsehinterview anlässlich der erneuten Tournee und Formation der Sängerfamilie Folgendes: Als seine Mutter mit ihm schwanger war, habe sie die Diagnose Krebs erhalten. Sie habe daraufhin die dringend notwendige Chemotherapie abgelehnt, weil sie wollte, dass ihr jüngstes Kind, Angelo, mit dem sie schwanger war, leben sollte. Rechtlich wären die Voraussetzungen für eine medizinische Indikation in einem so gelagerten Fall erfüllt: Wenn durch die Schwangerschaft eine akute Lebensgefahr für die schwangere Frau besteht oder wenn eine dringend notwendige und lebenserhaltende Behandlung wegen der Schwangerschaft nicht durchgeführt werden kann, ist ein Abbruch gerechtfertigt. Nach dem Abbruch der Schwangerschaft hätte die Chemotherapie durchgeführt werden können, welche das Leben von Angelo Kellys Mutter möglicherweise gerettet hätte.

Eine sozial-medizinische Indikation wird bejaht, wenn durch den Abbruch die «Gefahr einer schweren seelischen Notlage» abgewendet werden kann. Unter diesem Aspekt kann grundsätzlich jede schwere seelische Notlage subsumiert werden, die durch die Schwangerschaft bzw. infolge des Austragens des Kindes geltend gemacht wird. Ein psychiatrisches Krankheitsbild ist nicht gefordert. Die Gefahren müssen nicht schon jetzt fest gegeben sein, sondern es genügt, dass sie erst für die Zukunft entstehen könnten wie z. B. die Gefahr einer psychischen Überforderung durch die Betreuung des Kindes, die zu einer Depression führen könnte.
Unter die sozial-medizinische fällt auch die embryopathische Indikation. Diese setzt voraus, dass ein Kind behindert auf die Welt kommen wird, sei es durch Erbkrankheiten, Missbildung infolge Röteln, Gendefekte usw. Die meistens durch pränatale Untersuchung vermutete oder festgestellte Behinderung des ungeborenen Kindes ist unabdingbare Voraussetzung. Dazu kommt zwingend eine geltend gemachte unzumutbare Belastung, welche eine «schwere seelische Notlage» für die Mutter darstellt und die vom Gesetz geforderte Voraussetzung für den Abbruch beinhaltet. Bei dieser Indikation kommt es oft zu sehr späten Abtreibungen, da die Diagnose vielfach erst im späten Verlauf der Schwangerschaft gestellt werden kann. Eine Diagnose bzw. ein Verdacht bestätigt sich jedoch nicht immer. Es gibt dokumentierte Fälle, wo das (trotzdem) ausgetragene Kind gesund zur Welt kam. Und selbst wenn die pränatale Diagnose stimmt, fragt sich: Ist ein krankes oder behindertes Kind nicht auch ein kostbares Kind?
Kein anderes Gesetz als die in der kriminologischen Indikation vorgesehene Regelung erlaubt die Tötung eines ungeborenen Kindes wegen eines Verbrechens, das sein Vater begangen hat. Die Unzumutbarkeit, die Schwangerschaft nach einer Sexualstraftat fortzusetzen, muss nicht geprüft werden, sie wird vermutet. Nachzuweisen sind jedoch die Schwangerschaft und der Nachweis der rechtswidrigen Tat. Die Not infolge einer Vergewaltigung ist gross. Resultiert daraus eine Schwangerschaft, kann man das Leid der Betroffenen nur erahnen. Ich kenne Frauen, die trotzdem zu ihrem Kind gestanden sind. In der Diskussion wird wenig darüber nachgedacht, wie schmerzlich es für Betroffene ist, direkt oder indirekt zu hören, das Leben eines «solchen Kindes» sei nicht lebenswert. Ein Unrecht kann nicht mit einem anderen Unrecht gutgemacht werden. Jedes Kind ist einzigartig und kostbar, gerade und besonders gilt dies auch für diese Kinder.

Wenn Unmündige schwanger sind

Ist die Frau bzw. das schwangere Mädchen nicht urteilsfähig, so ist die Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters zum oft späten Abbruch der Schwangerschaft erforderlich (Art. 119 Abs. 3 StGB). Ein unmündiges, aber urteilsfähiges  Mädchen kann jedoch auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters eine Abtreibung vornehmen lassen. Die umgekehrte Situation ist ebenfalls denkbar: Wenn ein unmündiges, aber urteilsfähiges 15-jähriges schwangeres Mädchen sein ungeborenes Kind gegen den Willen seiner gesetzlichen Vertreter austragen will, kann es niemand zu einem Abbruch der Schwangerschaft zwingen. Eine Abtreibung darf in solch einem Fall nicht vorgenommen werden und wäre strafbar. Die Einwilligung in eine Abtreibung, insbesondere auch bei einer Spätabtreibung, ist nebst den beschriebenen Voraussetzungen der jeweiligen Indikation zwingende Voraussetzung, auch wenn dies nicht ausdrücklich im Gesetz steht. Die Vornahme einer Abtreibung gegen den Willen der urteilsfähigen Frau bzw. des urteilsfähigen unmündigen Mädchens wird mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft (Art. 118 Abs. 2 StGB). Bei jeder Spätabtreibung, die grundsätzlich bis zur Geburt möglich ist, gilt zum Schutz des Ungeborenen, dass die Gefahr einer geltend gemachten «schweren seelischen Notlage» umso grösser sein muss, je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist (Art. 119 Abs. 1 StGB). Der Schwangerschaftsabbruch ist für alle am Abbruch Beteiligten – also auch für den Arzt − strafbar, wenn die Voraussetzungen für eine der beschriebenen Indikationen nicht erfüllt sind (Art. 118 Abs. 1 und Abs. 3 StGB).

Wenn das Kind Lebenszeichen aufweist

In der NZZ war kürzlich zu lesen, das Wunder sei im Dezember geschehen, aber erst jetzt bekannt geworden: In San Diego (Kalifornien) sei das «bisher kleinste überlebende Kind zur Welt gekommen». Das Mädchen habe bei der Geburt die Grösse eines Apfels gehabt und 245 g gewogen. Mitte Mai sei es gesund und mit gut 2,5 kg Gewicht aus dem Spital entlassen worden. Das Kind habe wegen «schwerer Schwangerschaftskomplikationen nach 23 Wochen und 3 Tagen per Kaiserschnitt» auf die Welt gebracht werden müssen (NZZ vom 1. Juni 2019, 28).
Bei einer Spätabtreibung kommt es vor, dass Neugeborene Lebenszeichen zeigen und Grösse und Gewicht wie das Baby in San Diego haben. Wenn ein Kind die Abtreibung überlebt, sind die Ärzte verpflichtet, das Leben des nun geborenen Kindes zu schützen. Ansonsten machen sie sich wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassung oder wegen unterlassener Nothilfe strafbar (Art. 128 StGB). Selbst wenn der Abbruch gemäss Art. 119 Abs. 1 wegen einer der vorher beschriebenen Indikationen rechtlich zulässig war, ist mit der Geburt und dem Überleben des Babys rechtlich eine neue Situation eingetreten. Insbesondere besteht aufgrund der erfolgten vorgängigen Abtreibung keinesfalls ein Rechtfertigungsgrund, dem Kind nicht sofort medizinisch zu helfen, es sterben zu lassen oder es gar zu töten. Denn ab jetzt steht nicht mehr die geltend gemachte Notlage der Frau im Mittelpunkt, sondern das Wohl des Kindes, das mit seiner Lebendgeburt den vollen strafrechtlichen Schutz und eine eigene Rechtspersönlichkeit bekommen hat. Ab jetzt stehen dem Neugeborenen alle Rechte unserer Rechtsordnung vorbehaltlos zu.

Beatrice Luginbühl

Beatrice Luginbühl

Dr. iur. Beatrice Luginbühl studierte Rechtswissenschaft in Zürich, wo sie auch promovierte und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Rechtswissenschaftlichen Institut und als Lehrbeauftragte am Institut für Sonderpädagogik wirkte. Sie hat langjährige Erfahrung in der Opferhilfe und leitet den Verein Notburga für Schwangere und Mütter in Not.