«Das Kind zu gebären, ist der würdigere Weg»

Ärzte, Hebammen und Pflegefachkräfte von Frauenkliniken sind in ihrem Alltag mit späten Schwangerschaftsabbrüchen konfrontiert. Was bedeutet für sie ein solcher Abbruch? Die Stimme einer Ärztin.

Prof. Dr. med. Sibil Tschudin. (Bild: zvg)

 

Vorgeburtliche Untersuchungen ergeben manchmal Hinweise auf einen negativen Verlauf im Hinblick auf die Entwicklung und Lebenschancen eines Kindes. Die nationale Ethikkommission (NEK) beschäftigte sich intensiv mit Fragen und Problemstellungen rund um den späten Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz und veröffentlichte Ende 2018 eine Stellungnahme (www.nek-cne.admin.ch). Sehr involviert in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse bei einem späten Schwangerschaftsabbruch ist Sibil Tschudin. Sie ist Leiterin der Abteilung gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel.

SKZ: Was ist genau Ihre Aufgabe?
Sibil Tschudin: Meine Aufgabe ist, die Frau oder das Paar in ihrem bzw. seinem Entscheidungsprozess nach der Diagnose und Prognose bis zum Schwangerschaftsabbruch bzw. zur natürlichen Geburt zu begleiten. Mit der betroffenen Frau, dem betroffenen Paar gilt es die schockierende Diagnose einer schweren Fehlbildung oder Chromosomenstörung des Kindes und die Prognosen seiner Entwicklung zu verarbeiten, alle möglichen Optionen aufzuzeigen, Hilfestellungen zu bieten und für sie da zu sein.

Was gehört für Sie zu einer guten Beratung der Frau oder des Paares?
Wichtig ist mir in der psychosozialen Beratung, dass der Entscheid nicht überstürzt gefällt wird. Die Frau oder das Paar soll in Ruhe alle aufgezeigten Optionen und die mannigfachen Hilfestellungen für sich prüfen. Denn die Fragen und Entscheidungen rund um eine mögliche Aborteinleitung sind von grosser Tragweite. Ein Abbruch wird immer ein Teil der Biografie der Frau oder des Paares sein, ein Leben lang. Deshalb braucht es wirklich gute Gründe dafür. Entscheidend ist die seelische Notlage, die die Frau geltend macht. Diese sollte aber so weit nachvollziehbar sein und so gibt es durchaus auch Grenzen, die einen Abbruch ethisch nicht rechtfertigen. Wir hatten z. B. einen Fall, bei dem das Kind an einer Zwerchfellhernie litt. Diese ist behandelbar. Das Paar war anfänglich sehr ablehnend, entschied sich aber nach eingehender Beratung dann doch, das Kind auszutragen. Handelt es sich um eine psychosoziale Notlage infolge spät festgestellter unerwünschter Schwangerschaft, müssen auch folgende Fragen geklärt werden: Kann sich die Frau vorstellen, Mutter zu werden? Kann sie sich vorstellen, die Schwangerschaft mittels eines Abbruchs zu beenden? Manchmal sind diese Fragen isoliert anzuschauen, beispielsweise, wenn sich die Frau das Muttersein nicht vorstellen kann und für sie gleichzeitig ein Abbruch ausser Frage steht. Dann eröffnet sich der Weg einer Adoption. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, das Wertesystem der Frau bzw. des Paares in die Entscheidung einzubeziehen. Liegt beim Kind ein nicht mit dem Leben vereinbares Gebrechen vor, so kann ein aktives In-Gang-Setzen eines Schwangerschaftsabbruchs für Paare gleichwohl mit Schuld behaftet sein. Dann wird eine natürliche Geburt angezielt. Es gilt jede Situation einzeln anzuschauen.

Welche Indikationen müssen für einen späten Schwangerschaftsabbruch vorliegen?
Dank des medizinischen Fortschritts haben wir heute eine Vielzahl an Möglichkeiten pränataler Untersuchungen. Damit werden Eltern aber auch mehr damit konfrontiert, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung sein könnte. Je mehr getestet und geprüft wird, desto mehr müssen wir etwas auf die Ergebnisse der Untersuchungen hin anbieten. Primäres Ziel des Ultraschalls ist es, Auffälligkeiten aufzuspüren, um Mutter und Kind rechtzeitig und optimal behandeln zu können. In wenigen Fällen wird durch die Untersuchung eine schwerwiegendere Fehlbildung sichtbar. Der Ultraschall hat in der Gesellschaft und bei den Paaren eine hohe Akzeptanz, aber die Konsequenzen sind oft nicht bekannt. Vor Jahren gab es eine Studie, die zutage förderte, dass sich viele Frauen und Paare bei auffälligen Befunden – eine schwerwiegende Fehlbildung oder Chromosomenstörung – nicht gut beraten fühlten. Daraufhin wurden die Ärzte in der Kommunikation geschult. Ich hätte immer schon gerne eine Studie zur Frage durchgeführt, wie solche Paare die Beratung durch die nun geschulten Ärzte erleben. Nach meiner Erfahrung entscheidet sich die Mehrzahl der Paare in dieser Situation für einen Abbruch. Zur Frage der Indikation: An unserer Klinik sind es in den meisten Fällen schwere kindliche Auffälligkeiten, die die seelische Notlage der Frau bedingen, nur in geringer Zahl eine spät festgestellte unerwünschte Schwangerschaft.

Wie viele späte Abbrüche erfolgen durchschnittlich pro Jahr an dieser Klinik?
Nach der zwölften Schwangerschaftswoche sind es ungefähr 40 bis 50 Abbrüche, davon sind wenige nach der 20. Woche. Wir führen keine Abbrüche nach der 24. Woche durch. Denn ab der 25. Woche ist das Kind ausserhalb des Mutterleibs lebensfähig. Föten können aber bereits ab ungefähr der 19. Woche kurzzeitig Lebenszeichen von sich geben. Wenn ein Kind mit Lebenszeichen auf die Welt kommt, wird es registriert, bekommt einen Namen, wird ins Familienbuch eingetragen und nach dem Tod bestattet. Wichtig ist, dass die Eltern vom Kind Abschied nehmen können und sollen. Denn in den meisten Fällen handelt es sich um eine erwünschte Schwangerschaft, die glücklos endet.

Wenn das Kind atmet, werden keine lebenserhaltenden Massnahmen ergriffen?
Kinder, die vor der 22. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, haben keine Überlebenschance. Auch bei einer solchen «Frühgeburt» wird auf lebenserhaltende Massnahmen verzichtet. Ziel eines Schwangerschaftsabbruchs ist die Beendigung dieses Lebens. Aus diesem Grund wird von lebenserhaltenden Massnahmen abgesehen und das Kind nicht auf die Neonatologie verlegt. In der 23. oder 24. Woche – an der Grenze der Lebensfähigkeit – kämen ja sonst beim Kind zur schweren Fehlbildung oder Chromosomenstörung zusätzliche körperliche oder geistige Beeinträchtigungen durch die Frühgeburtlichkeit hinzu. Das muss selbstverständlich unter allen Umständen verhindert werden.

Wie gehen Ärzte, Hebammen und das Pflege- personal mit der Belastung eines Abbruchs um?
Ich schätze die Möglichkeit, eine spitalinterne Ethikkonsultation einberufen zu können. Im Gespräch wird die jeweilige Situation reflektiert; alle bringen ihre Haltung, ihre Erfahrungen und ihr Wertesystem ein. Das macht das Gespräch interessant, bereichernd, aber auch anspruchsvoll. Letzthin hatten wir – auch veranlasst durch die Stellungnahme der NEK – eine Fortbildung zu Self-Care: Wie können wir Paare beim Spätabbruch gut betreuen und gleichzeitig zu uns selbst Sorge tragen? Letzteres – also die Situation der Ärzte, der Hebammen und der Pflegefachkräfte – wurde in der NEK-Stellungnahme zu wenig thematisiert. Das Medizinalpersonal ist einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt. Wir sprechen hier auch von möglichen sekundären Traumatisierungen. In der Stellungnahme wird beispielsweise empfohlen, bis zur 18./20. Schwangerschaftswoche eine Saugkürettage1 durchzuführen, weil diese für die Frau zumutbarer sei als eine Geburt. Für die Durchführenden aber ist diese Methode eine grosse Zumutung! Verstehen Sie mich richtig: Die Selbstbestimmung der Frau erachte ich als enorm wichtig, aber die Belastungen des medizinischen Personals sollten ebenfalls berücksichtigt werden. Das Kind zu gebären, ist der würdigere Weg für alle Betroffenen.

Die Stellungnahme der NEK fordert, die Möglichkeiten einer palliativen Geburt auszubauen.
Irene Hösli, Chefärztin Geburtshilfe und Schwangerschaftsmedizin an unserer Klinik, und auch ich können den Begriff palliative Geburt nicht ganz nachvollziehen. Der Umgang mit dem sterbenden Kind ist palliativ, im Sinne von Palliative Care, die Betreuung der Frau während des Geburtsgeschehens ist ganz normal. Weshalb die palliative Geburt plötzlich in aller Munde ist, ist mir etwas unerklärlich. Denn, was gefordert wird, existiert schon lange. Wird bei einem Fötus z. B. Trisomie 13 oder 18 diagnostiziert, bei denen ein Kind keine längerfristigen Lebenschancen hat, stehen der Frau oder dem Paar der Abbruch oder das Austragen des Kindes und die Begleitung bis zu seinem natürlichen Tod als Optionen offen.

Welche Aufgaben sollten im Blick auf die Zukunft angegangen werden?
Wünschenswert wäre, einen schweizweiten Konsens zu erreichen, wie mit der Situation des späten Schwangerschaftsabbruchs umzugehen ist. Die Situation soll von allen Spitälern gemeinsam getragen werden und die Frauen sollen überall Zugang haben. Was nicht heisst, dass die Frauen oder Paare einen Anspruch auf einen Spätabbruch haben. Dem ist nicht so. Diese Anspruchshaltung ist mir in der Beratung auch schon begegnet und machte mir entsprechend zu schaffen. Zum Beispiel als ein Paar einen Abbruch forderte, weil das Kind eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte aufwies. Diese Fehlbildung ist gut behandelbar, da können wir einen Abbruch nicht gutheissen und verantworten. Ich sehe die Sorge der Eltern, dass ihr Kind leiden könnte. Sie wollen dem Kind Leiden ersparen. Ich habe den Eindruck, dass wir in zunehmendem Mass mit der Vorstellung konfrontiert werden, im Leben müsse alles stimmen und perfekt sein. Diese Vorstellung geht an der Wirklichkeit des Lebens vorbei.

Interview: Maria Hässig

1 Bei einer Saugkürettage wird zunächst der Gebärmutterhals erweitert und anschliessend das Fruchtwasser, der Fötus und die Plazenta abgesaugt.

 

 

 

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