«Betroffene Frauen sind doppelt isoliert»

Die Nationale Ethikkommission (NEK)1 publizierte Ende 2018 eine Stellungnahme zu den späten Schwangerschaftsabbrüchen. Darüber sprach die SKZ mit Roland Graf und Markus Zimmermann.

Dr. Roland Graf (Jg. 1961, links) studierte nach mehrjähriger Berufstätigkeit als Chemiker HTL in Chur Theologie und promovierte 2003 an der katholisch-theologischen Fakultät Augsburg in Moraltheologie. Er ist Pfarrer von Unteriberg und Studen SZ, Mitglied der Bioethikkommission der SBK und der Redaktionskommission der SKZ. Prof. Dr. Markus Zimmermann (Jg. 1962) ist seit 2010 Lehr- und Forschungsrat sowie seit 2014 Titularprofessor für Christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ue. Er ist Mitglied und Vizepräsident der NEK.

 

SKZ: Welche komplexen ethischen Fragen werfen späte Schwangerschaftsabbrüche auf?
Markus Zimmermann (MZ): Schwangerschaftsabbrüche, die im späten Verlauf einer Schwangerschaft erfolgen, stellen alle Beteiligten vor enorme Herausforderungen, Unsicherheiten und Belastungen. Ethisch komplex ist der Bereich von daher, als der gesamte Prozess ethisch von Bedeutung ist: das Aufkommen der Frage – häufig aufgrund der Mitteilung eines niederschmetternden Befunds –, die folgende Phase der Entscheidungsfindung, die Begleitung und Information der schwangeren Frau, die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs selbst und auch die Begleitung aller involvierten Personen im Anschluss an einen Spätabbruch. Dazu kommt, dass der Schwangerschaftsabbruch als solcher ethisch umstritten ist, weil es um die Beendigung bzw. Tötung eines menschlichen Lebens geht.

Roland Graf (RG): Es geht bei der Spätabtreibung genauso wie bei einer Abtreibung in den ersten zwölf Wochen um Leben oder Tod, um die Zukunft eines Menschen. Die Umstände oder der Zeitpunkt, in dem die Frage nach der Abtreibung auftritt und eine Entscheidung gefällt wird, ändern im Grunde nichts an diesem ethischen Grundproblem.

Weshalb beschäftigte sich die NEK intensiv mit späten Schwangerschaftsabbrüchen?
MZ: Den Anstoss zur Beschäftigung mit diesen schwierigen und extrem belastenden Fragen gaben Forschungsresultate einer Studie zum Thema «Sterben am Lebens- beginn», die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 67 durchgeführt wurde. In dieser Studie wurden alle Todesfälle untersucht, die von 2012 bis 2014 auf den Schweizer Neonatologie-Stationen zu verzeichnen waren. Dabei stellte sich heraus, dass über ein Drittel der Todesfälle, die in den Gebärsälen passiert waren, infolge später Schwangerschaftsabbrüche geschahen. Dieses Ergebnis löste in der NEK eine Reihe von Fragen aus: Was geschieht hier genau? Was sind die Gründe dafür? Wer ist involviert? Wie werden die Abbrüche durchgeführt? Welche Personen sind involviert und betroffen? Warum zeigen Kinder nach einem Schwangerschaftsabbruch noch Lebenszeichen und wie wird mit ihnen umgegangen? Um diese und weitere Fragen beantworten zu können, hörten wir in der NEK Experten an, führten eine Umfrage bei zuständigen Chefärzten durch, studierten Literatur zum Thema, diskutierten dann die Erkenntnisse ausführlich und verfassten anschliessend eine Stellungnahme zum Thema.

Was war das Ziel der Arbeit?
MZ: Das hauptsächliche Ziel bestand darin, Licht ins Dunkel einer Realität zu bringen, die als solche völlig unbekannt ist. Es ging darum, überhaupt einmal zu erkunden, was heute in diesem Bereich in der Schweiz geschieht, um die Situation einzuschätzen und unsere Einsichten dann öffentlich zur Diskussion zu stellen. Ein Anliegen bestand zudem darin, dass die Beteiligten, schwangere Frauen, ihre Angehörigen wie auch die Behandlungsteams, mit ihren Belastungen nicht isoliert bleiben sollten. Bei den Anhörungen hat sich rasch herausgestellt, wie sehr die Praxis tabuisiert ist, wie wenig die Experten beispielsweise voneinander wissen. Es besteht offensichtlich eine Tendenz in der Schweiz, besonders schwierige Fälle an die grossen Zentren zu delegieren, sodass das dort tätige Personal nicht selten an und über die Grenzen seiner Belastbarkeit gerät.

Wie bewerten Sie die Stellungnahme der NEK?
RG: Zunächst der positive Aspekt: Die Stellungnahme der NEK macht bewusst, dass es überhaupt Spätabtreibungen gibt, und macht dazu Studienergebnisse bekannt. Demnach sind während drei Jahren auf den Neonatologie-Abteilungen der Schweiz insgesamt 76 Kinder nach der Spätabtreibung mit Lebenszeichen zur Welt gekommen. Diese Tatsache ist brisant. Die NEK schreibt dazu: «Kommt ein Kind nach einem Schwangerschaftsabbruch lebend zur Welt, sind die Ärzte grundsätzlich verpflichtet, das Leben des geborenen Kindes zu schützen, ansonsten machen sie sich wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassung der Nothilfe strafbar.» Bedenklich finde ich die in der Stellungnahme der NEK verharmlosende Bezeichnung «Palliativversorgung» bzw. «palliative Begleitung», denn das bedeutet letztlich Tötung durch unterlassene Hilfeleistung bei optimaler Schmerzbehandlung. Das ist eine Straftat, die offensichtlich nicht geahndet wird. Es ist ausserdem sehr stossend, dass die Stellungnahme der NEK keine Empfehlung enthält, wie die Zahl solcher Spätabtreibungen reduziert werden könnte. Parallel wird auf den Neonatologie-Abteilungen bei zu früh geborenen Kindern mit allen Mitteln um deren Leben gekämpft. Das ist eine paradoxe Situation, welche das betreuende Personal einer untragbaren psychischen Belastung aussetzt. Dessen Gewissensfreiheit ist nicht ausreichend geschützt. Die NEK schreibt: «Ein (öffentliches oder privates) Spital oder eine medizinische Praxis kann die Anstellungsbedingungen im Bereich der Gynäkologie- und Geburtshilfe so umschreiben, dass an der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken ist, soweit diese legal und nach objektiven, von der Einrichtung festzulegenden Massstäben ethisch vertretbar sind.»

Wann beginnt denn das menschliche Leben?
RG: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Dieser Fakt ist allseits unbestritten. Umstritten ist hingegen, ab wann dem menschlichen Leben die Personalität bzw. die Qualität als Person zukommt und welcher (straf-)rechtliche Schutz damit verbunden sein soll. Wir alle sind einmal eine 0,1 mm grosse befruchtete Eizelle gewesen. Die Entwicklung als Embryo gehört untrennbar zu unserer persönlichen Lebensgeschichte. Wenn wir uns gegenseitig betrachten, bekommen wir eine Ahnung von der Potenz, die in einem winzigen Embryo schlummert. Die Instruktion Dignitas personae von 2008 bekräftigt daher die Aussage von Donum vitae (1987): «Der Mensch muss von seiner Empfängnis an als Person geachtet und behandelt werden und infolgedessen muss man ihm von diesem Augenblick an die Rechte der Person zuerkennen und darunter vor allem das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Menschen auf Leben» (DP Nr. 4).

MZ: Wie schwierig eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist, zeigt eine Vortragsreihe, welche die NEK organisierte und die sich Interessierte über die Website der NEK auch heute noch anhören bzw. anschauen können. Hinsichtlich der Wahrnehmung des Beginns individuellen menschlichen Lebens ist die neuere vorgeburtliche Diagnostik von kaum zu überschätzender Tragweite. Heute ist es normal, einen Fötus bereits ab der zehnten Woche im Ultraschall zu begrüssen, ihm einen Namen zu geben, Fotos zu machen oder ihn beim Daumenlutschen zu beobachten. Die Idee, der Embryo oder Fötus sei ein Teil des mütterlichen Körpers, wie es während vieler Jahrhunderte wahrgenommen wurde, ist dadurch heute kaum oder nicht mehr möglich. Hier zeigt sich die Ambivalenz des technischen Fortschritts: Einerseits wird es möglich, menschliches Leben von Beginn der Embryonalentwicklung detailliert zu verfolgen, andererseits macht dieselbe Technik es möglich, massive Schädigungen desselben Embryos oder Fötus – oftmals leider erst sehr spät während der Entwicklung – zu erkennen und die schwangere Frau bzw. ein Paar vor extrem belastende Entscheidungen zu stellen.

Der reproduktiven Autonomie der Frau kommt rechtlich der Vorrang zu. Sind aus Ihrer Sicht im Blick auf das Lebensrecht des ungeborenen Kindes Akzentverschiebungen anzubringen?
RG: Der Begriff reproduktive Autonomie ist in keinem Schweizer Gesetzestext zu finden, sondern basiert auf Interpretationen des bestehenden Rechtes, u. a. aufgrund eines Bundesgerichtsentscheides. Das Strafgesetzbuch hat die Abtreibung unter Strafe verboten und die Bedingungen festgelegt, unter denen Abtreibung straffrei bleibt. Die reproduktive Autonomie, so wie sie in der Rechtsliteratur verstanden wird, steht direkt im Konflikt mit der Menschenwürde, welche die katholische Kirche im Gegensatz zum profanen Recht keiner Güterabwägung unterwirft. Diese Haltung mag unbequem sein; sie ist aber konsequent und bewahrt den Menschen vor einer überzogenen Autonomie, die letztlich zur Willkür führt. Wie dehnbar der Begriff der reproduktiven Autonomie ist, zeigt sich am Angebot des Reproduktionsmediziners Jeffrey Steinberg in den USA, der fruchtbaren Paaren allein für die Geschlechtsauswahl und sogar für die Wahl der Augenfarbe Präimplantationsdiagnostik anbietet.

MZ: Aus Sicht des Schweizer Strafgesetzbuchs ist ein Schwangerschaftsabbruch stets verboten, unter gewissen Bedingungen bleibt er hingegen straffrei. Diese Konstruktion halte ich für klug und würde sie nicht ändern. Was geschieht, wenn eine solche rechtliche Regelung restriktiver gemacht wird, können wir gegenwärtig in einigen US-amerikanischen Teilstaaten verfolgen: Wird der Schwangerschaftsabbruch restriktiver geregelt, dann geschehen nicht weniger Abbrüche, dafür steigt die perinatale Frauensterblichkeit und es intensiviert sich der Tourismus der Frauen, die einen Abbruch wünschen, in Teilstaaten mit einer offeneren Regelung. In der Schweiz sind die Frauen aus den katholischen Kantonen vor Einführung der Fristenregelung in die liberalen Kantone gegangen, um einen Abbruch durchführen zu lassen. Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz nahm seit Einführung der Fristenregelung im Jahr 2002 bis heute um etwa die Hälfte ab. Die Schweiz hat zudem heute weltweit eine der tiefsten Abbruchraten. Meiner Einschätzung nach hat das wesentlich damit zu tun, dass die reproduktive Autonomie der Frauen in der Schweiz ernst genommen und über Sexualität offener gesprochen wird. Reproduktive Autonomie impliziert stets, dass Frauen ernst genommen werden und in der Lage sind, die Verantwortung für sich und ihren Nachwuchs wahrzunehmen. Werden Schwangerschaftsabbrüche nach der zwölften Schwangerschaftswoche durchgeführt, muss die behandelnde Ärztin stets mitentscheiden, ob eine Notsituation vorliegt.

Beim Kongress «Yes to Life» im Vatikan vom 23. bis 25. Mai wurde das Modell sogenannter Perinatal-Hospize vorgestellt. Die NEK empfiehlt, das Konzept der palliativen Geburt in den Zentrumskliniken der Schweiz umzusetzen. Wie ist die palliative Geburt aus theologisch-ethischer Sicht zu werten?
MZ: Das Konzept der palliativen Geburt ist sehr zu begrüssen. Es eröffnet einer schwangeren Frau bzw. einem Paar, das ein Kind erwartet, die Möglichkeit, das werdende Leben nicht von sich aus zu beenden. Es gewährt positiv die Möglichkeit, die Geburt eines Kindes abzuwarten, auch wenn aufgrund einer vorgeburtlich bereits erkannten Schädigung gewiss ist, dass das Kind keine Überlebenschance haben wird. Überlebt ein geschädigter Fötus dann tatsächlich bis zum Geburtstermin, wird – darum das Adjektiv «palliativ» – während und nach der Geburt alles unternommen, um sich sowohl um das Leben und Sterben des Kindes als auch um die Sorgen und Nöte der Eltern sowie der involvierten Fachpersonen zu kümmern. In einer Uniklinik mit einem 365-Tage-24-Stunden-Betrieb ist das alles andere als selbstverständlich und braucht beispielsweise entsprechende personelle Ressourcen. Ich würde es vorziehen, dass dieses palliative Betreuungsangebot in die bestehende Versorgung integriert und nicht in spezielle Hospize ausgegliedert würde.

RG: Beim Kongress «Yes to Life» im Vatikan wurden unter dem Begriff palliative Geburt jene Fälle verstanden, bei denen der Zustand des Fötus eine Heilung nicht ermöglicht und mit seinem Tod zu rechnen ist. Im Unterschied zur Spätabtreibung wird die Geburt nicht eingeleitet, sondern sie erfolgt spontan mit der anschliessenden palliativen Betreuung des allenfalls lebenden Kindes. Das ist im Gegensatz zur Spätabtreibung ethisch erlaubt. Die NEK hält allerdings in ihrer Richtlinie fest: «Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, statt eines Abbruchs (bei infauster Prognose des Fötus) oder im Rahmen eines solchen (wenn kein Fetozid durchgeführt werden soll) eine palliativ begleitete Lebendgeburt zu planen. Das Konzept der palliativen Geburt wurde für beide Konstellationen entwickelt.» Die Empfehlung der NEK, dieses Konzept umzusetzen, empfinde ich als fatal, weil die Spätabtreibung durch die künstliche Geburtseinleitung mit anschliessender Tötung durch unterlassene Hilfeleistung bei optimaler Schmerzbehandlung mitgemeint ist. Das ist ethisch verwerflich und im Grunde auch strafrechtlich relevant.

Wo sehen Sie die Aufgabe von Theologie und Kirche?
RG: Theologie und Kirche müssen die Würde jedes Menschen aufzeigen und verteidigen. Für katholische Theologen ist es eine Pflicht, auch in Ethikkommissionen diesen Standpunkt zu vertreten. Das Zweite Vatikanische Konzil motiviert dazu in Gaudium et spes Nr. 22, wenn es über Christus sagt: «Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermassen mit jedem Menschen vereinigt.» Genauso wie das vorgeburtliche Leben untrennbar zum irdischen Leben Christi gehört, so ist das auch bei jedem geborenen Menschen. Es ist der Kirche ins Herz geschrieben, sich für die Schwachen einzusetzen. Sie muss sich bei der Abtreibungsprävention engagieren und angesichts von weltweit jährlich 50 Mio. Abtreibungen, davon eine unbekannte Zahl von Spätabtreibungen, auf die Würde jedes Menschen pochen. Sie muss ausserdem jenen, die unter den Folgen der Abtreibung leiden, ihre Hilfe anbieten. Ausserdem muss sie die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals verteidigen.

MZ: Eine weitere dringliche Aufgabe von Theologie und Kirche sehe ich darin, sich um die Menschen in Not zu kümmern, ihre Sorgen, ihre Trauer und Ängste wahr- und ernst zu nehmen, wie es im ersten Satz von Gaudium et spes heisst. Mit Blick auf den späten Schwangerschaftsabbruch heisst das, dass sich theologische Ethik und praktische Theologie einerseits sowie die christlichen Kirchen andererseits zugunsten einer Enttabuisierung dieser Praxis einsetzen sollten. Durch die gesellschaftliche Tabuisierung des Themas werden die betroffenen Frauen heute sogar doppelt isoliert: Erstens sind sie dies aufgrund der abgründigen Entscheidung, vor die sie sich alleine gestellt sehen, und zweitens sind sie isoliert, insofern niemand hören will, was sie durchmachen, ob nun eine Entscheidung zugunsten eines Abbruchs oder gegen einen Abbruch getroffen wird. Daneben wird mit Blick auf die immensen Fortschritte im Bereich der Gendiagnostik das Vorleben einer inklusiven Gemeinschaft, in der alle Menschen – unabhängig von ihrem Aussehen, ihrem IQ, ihrem Geschlecht, ihren körperlichen, seelischen oder kognitiven Behinderungen – ihren je eigenen Platz haben, zu einer identitätsstiftenden Aufgabe der Kirchen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Die Stellungnahme der NEK ist abzurufen unter: www.nek-cne.admin.ch

 

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente