Menschenrechte und Religionen – Eindrücke aus einer Tagung

Menschenrechte und Religionen – diese Formel ist nicht selbsterklärend, denn Menschenrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat.1

Dass nichtstaatliche Akteure wie Unternehmen, NGOs und Religionsgemeinschaften menschenrechtlich gebunden sind, stellt eine relativ neue Betrachtungsweise dar. Aus der Perspektive des Individuums ist primär entscheidend, dass seine Rechte respektiert werden. Sekundär erweist sich dann, wer diese umsetzt. Die Verantwortung von nichtstaatlichen Akteuren für die Menschenrechte gewinnt an Bedeutung; die Konzernverantwortungsinitiative, über die hierzulande bald abgestimmt werden wird, zeigt es an.

Es überraschte nicht, dass Ingeborg Gabriel, Professorin in Wien, das Feld historisch aufrollte und an den Prozess der Annahme der Menschenrechte durch die katholische Kirche und durch den Protestantismus erinnerte, wobei gewisse Strömungen in der russischen Orthodoxie und bestimmte Evangelikale sich bis heute verweigern. Die Annahme der Menschenrechte durch westliche Religionsgemeinschaften geschah durch «dynamische Prozesse der Interpretation und Re-Interpretation des religiösen Ethos»: Die Religionsgemeinschaften machten sich also die Menschenrechte zu eigen, indem sie diese Idee in ihre eigene Weltsicht einbauten und dafür eigene Gründe – z. B. die Herleitung der Menschenwürde aus der Gottesebenbildlichkeit – fanden.

Sind Menschenrechte westlich?

Dem in Berlin und Chicago lehrenden Hans Joas verdankt die Diskussion um die Menschenrechte wesentliche Impulse. Er betonte, dass wir ein kontroverses Feld betreten, wo auch über die Genese gestritten wird.

Worüber reden wir bei diesem Thema? Von Ideengeschichte oder politischer Geschichte? Dies ist deswegen bedeutsam, weil, so Joas, keine Kontinuität zwischen den beiden Gebieten existiert. Die Bewegung zur Befreiung der Sklaven in den USA beispielsweise bezog sich nicht auf die amerikanische Verfassung mit ihrem Gleichheitsgebot. Es war die Bibel, die als argumentative Grundlage diente. Das eigentliche Thema von Joas lautete aber: Sind Menschenrechte westlich? Die Frage verneinte er insgesamt klar. Sie sind nicht westlich in einer ideengeschichtlichen Perspektive, sie sind es in einer verfassungsrechtlichen Perspektive, da lange Zeit lediglich zwei Länder, die USA und Frankreich, eine Kodifikation vornahmen, und sie sind es nicht im Hinblick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die das Resultat globaler Zusammenarbeit ist. Der grundsätzliche Charakter der Erklärung erlaubt es denn auch jeder Kultur und Religion, diese Aussagen kontextualisiert zu inkorporieren.

Religionsfreiheit auch im Westen in der Kritik

Gewissen und Religionsfreiheit – um diese, sich ergänzenden Begriffe kreiste der Vortrag von Peter G. Kirchschläger, der den Menschenrechtsdiskurs in Luzern seit Jahren voranbringt. Der Gewissensbegriff wie überhaupt die Idee eines freien Handelns ist durch die Neurowissenschaften einerseits und durch einen philosophischen Materialismus andererseits unter Druck geraten, genauso wie die Religionsfreiheit, diese jedoch aus anderen Gründen: Kritiker denunzieren die Religionsfreiheit als Einfallstor für partikuläre Interessen, ja sie sei selbst partikulär und ein individualistisches Artefakt. Demgegenüber betonte der Redner, dass Religionsfreiheit individuell, aber nicht individualistisch sei. Kollektive, auf Befreiung zielende soziale Praxis könne Religionsfreiheit in Anspruch nehmen; die religiös inspirierte Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King ist ein gutes Beispiel einer solchen kollektiven Praxis.

Die Podiumsdiskussion unter der Moderation der bekannten Fachjournalistin Judith Hardegger verdichtete das Thema. Die Religionsgemeinschaften, namentlich die katholische Kirche, müssten sich fragen lassen, ob die Menschenrechte, die sie nach aussen einfordern, auch nach innen gelten würden, so Adrian Loretan, Co-Leiter des Luzerner Zentrums für Religionsverfassungsrecht. Man war sich einig, dass der Westen den egozentrischen Blick überwinden müsse, wenn der Menschenrechtsdiskurs in anderen Erdteilen nicht als westliches Exportprodukt wahrgenommen werden solle. Die vom Westen weitgehend unbewältigte Kolonialgeschichte versperre nach wie vor viele Wege des Dialogs.

Die Schwierigkeit realer interkultureller Dialoge

Für den nötigen Dissens sorgte der aus dem Sudan stammende, an der Emory University tätige Abdullahi Ahmed An-Na’im mit seiner extrem individualistischen Sicht. Er bestritt, dass es so etwas wie kollektive Subjekte überhaupt gibt, und provozierte Fragen in Bezug auf den Status von Sharia-Schulen oder religiösen Autoritäten. Seine Antwort: Da niemand verpflichtet wäre, sich irgendeiner Tradition oder Schule anzuschliessen, würde der Islam auf reiner Freiwilligkeit beruhen. Diese Diskussion veranschaulichte die Probleme realer interkultureller Dialoge.

Kein staatliches ius reformandi

Heiner Bielefeldt hat als UNO-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit reiche Erfahrungen sammeln können. Dabei bleibt er kritisch nach allen Seiten, auch was die staatliche Durchsetzung der Menschenrechte gegenüber Religionsgemeinschaften angeht: Dem Staat kommt kein ius reformandi zu, so seine pointierte Schlussfolgerung. Die hochkarätig besetzte Tagung kann als Glanzleistung der Theologischen Fakultät der Uni Luzern gelten. Mit ihrem Thema zog sie Aufmerksamkeit auch ausserhalb des akademischen Milieus auf sich. Die hochstehenden, manchmal kontroversen Diskussionen im Anschluss an die Vorträge zeigen an, dass ein disziplinübergreifendes Gespräch tatsächlich gelungen ist.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.