Menschenrechte besser realisieren

Peter G. Kirchschläger sieht die Notwendigkeit, die Realisierung der Menschenrechte zu verbessern. Er antwortet auf Aleida Assmanns Analyse.1

Aleida Assmann ist zuzustimmen, dass es den rechtlichen Schutz für ein menschenwürdiges Überleben der menschlichen Existenz braucht. Das führt zu einer höheren Durchsetzbarkeit der Menschenrechte. Auch weist sie zu Recht auf die Notwendigkeit hin, angesichts der gegenwärtigen Wirklichkeit2 die Umsetzung und Realisierung der Menschenrechte zu verbessern.

Auf ein gesellschaftliches Wahrnehmungsproblem weist ihre Aussage von der «Herausforderung der aktuellen Massenmigration» in Europa hin. Migration umfasst gerade für die Zielländer immer auch enorme Chancen (so u. a. Migration als Ursprung von Unternehmertum, Diversität als Quelle von Innovation, Beiträge zur Lösung des Problems des demographischen Wandels …), sodass die negative Konnotation deplatziert ist. Weiter kann im europäischen Kontext keine Rede von Massenmigration sein. Es kommen nur 1 bis 2 Prozent jener Menschen nach Europa, die weltweit gezwungen sind zu migrieren. Die grosse Mehrheit bewegt sich binnenstaatlich oder in direkte Nachbarländer. Auf der anderen Seite ist die Anzahl Menschen, die nach Europa kommt, ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu setzen, was ihre bescheidene statistische Relevanz verdeutlicht. Zudem ist u. a. die wirtschaftliche Relevanz der mit Migration verbundenen Kosten zu hinterfragen, beispielsweise im Verhältnis zu den jährlichen 50 bis 70 Milliarden Euro Mindereinnahmen in der EU aufgrund von Steuervermeidung durch Unternehmen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge ist 1951 gegründet worden, um sich um die damals mehrheitlich aus Europa kommenden Flüchtlinge zu kümmern. Das kann vielleicht den europäischen Blick auf Flucht und Migration auch schärfen.

Aleida Assmann fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag. Denn es ist zu wenig ins gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen, dass die Menschenrechte aufgrund ihres globalen Konsenscharakters diese Aufgabe erfüllen bzw. zu erfüllen haben.

Pflichten korrespondieren mit Menschenrechten

Natürlich hat Aleida Assmann recht, wenn sie darauf hinweist, dass Menschenrechte mit Pflichten korrespondieren. Die Differenzierung zwischen Menschenrechten und -pflichten hinsichtlich ihrer inhaltlichen Charakterisierung, ihrer Entstehung und Herkunft erscheint problematisch. Was in der Darstellung von Frau Assmann einzig den Menschenpflichten zukommt, gilt auch für Menschenrechte, denn die korrespondierenden Pflichten prägen den «zivilen Umgang» und gehen zurück auf philosophische sowie religiöse menschenrechtliche oder menschenrechtsnahe Ideen und Ansätze in unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen.3

Gegen die Idee einer eigenen Erklärung der Menschenpflichten kann auch angeführt werden: Menschenrechte umfassen bereits mit ihnen korrespondierende Pflichten, weil es sich um keine exklusiven Rechte handelt, sondern um Rechte, die allen zustehen. Dies verpflichtet, die Menschenrechte aller anderen Menschen zu achten und zu ihrer Realisierung beizutragen.

Der individualrechtliche Charakter der Menschenrechte wird irrtümlicherweise als eine «individualistische Prägung» kritisiert. Die Basis für dieses Missverständnis bildet u. a. die Nichtberücksichtigung der mit den Menschenrechten korrespondierenden Pflichten und die Vernachlässigung des Artikels 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, der das Individuum innerhalb der Gemeinschaft einbettet und die wichtige Rolle der Gemeinschaft für die Entwicklung und die Verantwortung des Individuums für die Gemeinschaft betont.

Die Forderung nach einem Katalog der Menschenpflichten läuft Gefahr, dass die Erfüllung als eine Bedingung dafür verstanden wird, Träger von Menschenrechten zu sein. Dies würde die Universalität, den kategorischen Charakter und die Unveräusserlichkeit der Menschenrechte missachten und das «asymmetrische Verhältnis» zwischen den Menschenrechten und den -pflichten vernachlässigen. «Die Gewährung von Menschenrechten ist nicht von der Erfüllung von Pflichten abhängig (…). Der Mensch muss sich nicht als würdig für die Gewährung von Menschenrechten erweisen.»4

Was tun?

Anstatt einer Erklärung der Menschenpflichten sollte die gesellschaftspolitische Bedeutung der Menschenrechte als Verhaltensgrundlage umfassender bekannt und den mit ihnen korrespondierenden Verpflichtungen nachgekommen werden. Dazu gehört die Optimierung der Durchsetzung und Realisierung der Menschenrechte, falls Missstände bestehen. In der Schweiz bietet sich bald mit der Konzernverantwortungsinitiative die Gelegenheit, bei der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen einen entscheidenden Schritt vorwärts zu kommen.

 

1 In dieser SKZ-Ausgabe Seiten 131 und 132.

2 Vgl. dazu u. a. Amnesty International, Jahresbericht 2016/2017.

3 Vgl. Peter G. Kirchschläger, Menschenrechte und Religionen. Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten, Gesellschaft – Ethik – Religion Bd. 7, Ferdinand Schöningh Verlag/Paderborn 2016, 19–29.

4 Werner Wolbert, Menschenwürde, Menschenrechte und Theologie, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 7/2 (2003) 161–179, hier 176.

Peter G. Kirchschläger

Peter G. Kirchschläger

PD Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger ist Visiting Fellow an der Yale University (USA) und Forschungsmitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.