Menschenrechte und Religionen

Ingeborg Gabriel öffnet sozialethische Zugänge zur aktuellen Diskussion über die Menschenrechte und stellt die Frage: Kann der grosse Brückenschlag gelingen?

Im iranischen Film «Reise nach Kandahar» (2001) über die Gräuel der Taliban in Afghanistan verschwindet am Ende eine kleine Gruppe von Vertriebenen mit einer grossen blauen UNO-Fahne als letztes Zeichen ihrer Hoffnung auf Rettung hinter den Sanddünen. Die eindrucksvolle Szene kann als Metapher für die hohen globalen Erwartungen und die gigantischen Schwierigkeiten verstanden werden, vor denen die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte heute steht. Angesichts der Grösse der Aufgabe möchten sich immer mehr Menschen in ihre überschaubaren nationalen Bereiche zurückziehen, vor allem jene, die sich bereits eines gut geordneten Gemeinwesens erfreuen. Doch dies ist angesichts der Globalisierung keine echte Option. Vielmehr muss es darum gehen, diese «run-away»- Welt (Anthony Giddens) besser zu verstehen und ethische Strategien zu entwickeln, um den anstehenden Aufgaben gerecht zu werden. Da das Christentum immer schon eine universale Ausrichtung hatte, sollten Christen und Christinnen hier eine Avantgarde sein.

Im Ringen um eine gerechtere Welt kommt der Vermittlung zwischen Menschenrechten und Religionen eine wesentliche Rolle zu. Als Grundrechte sind die in den demokratischen Verfassungen weltweit kodifiziert. Zudem bilden sie seit 1948 das säkulare Rückgrat der internationalen Ordnung. Geboren aus einer grossen Bewegung der Umkehr nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wüten der Totalitarismen hat Habermas sie die «einzige unzweifelhafte kulturelle Innovation des 20. Jahrhunderts» genannt.1 Doch wiewohl der Rechtskorpus des Völkerrechts, dessen Basis sie sind, universal verankert ist, laufen die Menschenrechte heute Gefahr, an Bedeutung zu verlieren. Dies hat mehrere Gründe: das Verblassen des historischen Kontexts ihrer Entstehung sowie einen Verlust des Konsenses hinsichtlich ihrer anthropologischen Grundlage, der Menschenwürde. Durch massive Infragestellungen ihres Universalitätscharakters angesichts religiöser Renaissancen geraten sie ebenso theoretisch wie politisch unter Druck.

Religionspolitische Grosswetterlage und Menschenrechte

Das Zeitgefühl hat sich in den letzten Jahren nachhaltig gewandelt. Waren die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von der Vision der einen Welt, als der einen menschlichen Schicksalsgemeinschaft, so steht heute ihre Fragmentierung im Vordergrund. Sinnbild für die Einheit ist ein Bild vom Juli 1969, das nach der ersten bemannten Mondlandung um die Welt ging. Es zeigt die Erde vom Weltall aus als blauen Planeten. Es wurde zum Inbegriff einer Epoche und beflügelte eine ganze Generation. Ein halbes Jahrhundert später hat sich der Wind gewendet. Die globalen Hoffnungen sind schwächer geworden, ja sie erscheinen als illusionär. Für Postmoderne sind sie der Ausdruck eines – Gott sei Dank! – in Auflösung begriffenen westlichen Kulturhegemonismus. Andere finden sie schlicht unrealistisch angesichts tiefer werdender kultureller Klüfte. Wiederum andere ziehen sich nicht ohne Enttäuschung in die eigene Nation, Kultur und Religion zurück. Manche meinen sogar, einen derartigen Rückzug unter Verweis auf christliche Werte rechtfertigen zu können. Sie übersehen dabei freilich, dass das Christentum immer schon einen alle ethnischen Grenzen überschreitenden Universalismus vertrat und die Sorge der Christen und Christinnen allen als Menschen gelten sollte. Die Menschenrechte als säkulares Pendant heben diese universale Idee auf eine rechtliche Ebene.

Es ist erst fünfzig Jahre her, dass die katholische Kirche eine theologische Begründung zur Vereinbarkeit von Menschenrechten und christlich-katholischem Glauben offiziell angenommen hat.2 Im Zentrum dieser kirchlichen Neuorientierung stand die Erklärung über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils Dignitatis humanae (1965). Mit ihr wurde das Recht auf Religionsfreiheit als ziviles Recht anerkannt und so der wichtigste Stolperstein im Verhältnis von katholischer Kirche und Menschenrechten beseitigt. Yves Congar erzählt in seinem Konzilstagebuch die spannende Durchsetzung um diese Erklärung und berichtet, dass ein Teilnehmer angesichts der bevorstehenden Reise von Papst Paul VI. zur UNO in New York treffend formulierte: «Das ist sein Pass für die Vereinten Nationen.»3

Dieser Brückenschlag gilt jedoch nicht in gleicher Weise für heute boomende Formen institutioneller Religion, deren Traditionen immer mehr Menschen weltweit Orientierung im Politischen wie Privaten geben. Die meisten von ihnen stehen den säkularen, d. h. nicht-religiösen, Menschenrechten ablehnend, ja feindselig gegenüber. Sie erscheinen ihnen als Ausdruck einer gottfernen, individualistischen Kultur, der sie eine auf der jeweiligen Religion begründete politische Ordnung entgegensetzen.4 Bereits das östliche Christentum ist in der Frage gespalten. Die bei weitem grösste Nationalkirche, die Russisch-Orthodoxe, will die «westlichen» Menschenrechte durch traditionelle (russische) Werte ersetzt wissen.5 Auch viele US-amerikanische Evangelikale lehnen den Menschenrechtsuniversalismus ab. So ist in der erfolgreichen apokalyptischen Buchserie Left behind die UNO der Erzfeind und ihr Generalsekretär der Anti-Christ.6 Derartige partikularistisch-apokalyptische Strömungen sind auch im Islam verbreitet. In der zweitgrössten Weltreligion gibt es zwar durchaus Theologen (und Theologinnen) sowie Nicht-Regierungsorganisationen, die sich mutig für die Menschenrechte einsetzen. Aufs Ganze gesehen ist das Menschenrechtsdenken jedoch im Islam bisher marginal und gerät angesichts starker antiwestlicher Strömungen in der muslimischen Welt politisch weiter unter Druck. Das ist nicht zuletzt die Folge einer weitgehend unbewältigten kolonialen Hypothek. Immerhin erfolgte die Durchsetzung der Menschenrechte in Europa und den USA in einer Zeit, in der die Kolonialmächte die Welt unter sich aufteilten. Diese «barbarische Rückseite der Moderne» gilt es mitzubedenken, ohne jedoch daraus eine generelle Skepsis gegenüber den Menschenrechten abzuleiten. Dies wäre nicht zuletzt deshalb konterproduktiv, weil Menschen aus anderen Kulturkreisen so nochmals diskriminiert würden.

Geht man davon aus, dass sich die geopolitischen und religiösen Trends fortsetzen, dann sind – wie die wenigen Schlaglichter zeigen – beachtliche juristische, sozialethische und vor allem auch theologische Anstrengungen gefordert, um den notwendigen Brückenschlag zwischen dem Ethos der Religionen und den Menschenrechten zu leisten. Die Bemühungen hierfür waren bisher aus mehreren Gründen ungenügend: Zum einen legte die lange gesellschaftlich wie wissenschaftlich dominierende Säkularisierungsthese nahe, dass die Befassung mit dem schwierigen, interdisziplinären Thema überflüssig wäre. Diese Annahme verband sich mit der Sicht, wonach «Religion» simpel und einfach das Christentum westlicher Prägung (Katholizismus und Protestantismus) meint. Hier aber waren die Fragen nur mehr begrenzt aktuell. Nicht zuletzt erscheinen die Menschenrechte vielen der beati possidentes als ein Thema, das man abhaken kann, da die Dinge trotz der Berichte von Amnesty International mehr oder weniger unter Dach und Fach sind. Doch eben dies ist nicht der Fall. Jeder Blick auf die Welt als Ganze zeigt, dass wir hier vor einer der grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stehen.

Grundlagen von Religionen und ihr Bezug zu den Menschenrechten

Diese Herausforderung ist theoretisch zu bewältigen, da es zwischen dem Ethos der einzelnen Religionen und jenem der Menschenrechte wichtige Anknüpfungspunkte gibt. Religionen als umfassende Welterklärungssysteme enthalten nicht nur eine Glaubenslehre (Credo) und einen Kult. Zu ihnen gehört auch eine Ethik vielfach verbunden mit Rechtsvorstellungen, so vor allem in den monotheistischen Religionen, wenn auch am wenigsten im Christentum. Den religiösen Regeln, Normen, Werten und Vorbildern kommt insofern besondere Dignität zu, als sie teils als geoffenbart verstanden werden und so von besonderer Heilsrelevanz sind. Dies zeigt eindrucksvoll der christliche Glaube an ein Jüngstes Gericht, dessen Kriterien offenkundig ethischer Natur sind (Mt 25,36–43).

Die ethischen Vorstellungen, die die Religionsgemeinschaften und ihre Trägerschichten weltweit vermitteln, prägen das Handeln, die Handlungsoptionen und die ethische Identität von Milliarden von Gläubigen. Wie bedeutsam das Ethos für das kollektive Selbstverständnis ist, erweist sich nicht zuletzt an der bemerkenswerten Tatsache, dass technische Neuerungen selbst von den anti-westlichsten Gruppen (siehe IS) bereitwillig übernommen werden, ethische und rechtliche Normen des Westens hingegen auf strikteste Ablehnung stossen. Die religiös vermittelten Normen und Tugenden sind dabei jedoch weder monolithisch noch unveränderlich. Sie werden und wurden die ganze Geschichte hindurch in allen Religionen, dem Judentum, Christentum, Islam, dem Buddhismus und Hinduismus, interpretiert und re-interpretiert Es sind die in allen Religionen vorhandenen Fundamentalismen, die darauf beharren, dass es nur eine wahre und richtige Form religiöser Praxis und Tradition gibt. Fundamentalismus ist so gesehen ein dezidiert modernes Phänomen.

Menschenrecht – Religionen – Gemeinsamkeiten

Drei Gemeinsamkeiten erscheinen besonders wichtig: Zum einen schreiben alle Religionen – anders als biologistisch-evolutionäre Entwürfe – dem Menschen eine Sonderstellung im Kosmos zu. In der jüdisch-christlichen Tradition wird diese im Theologumenon der Gottebenbildlichkeit ausgedrückt. Im auch säkular verwendeten Begriff der Menschenwürde bildet sie die anthropologische Grundlage der Menschenrechte. Diese Sonderstellung ist nicht zuerst und vor allem als Privileg zu verstehen, sondern begründet persönliche Verantwortung gegenüber Gott oder dem Göttlichen, dem Nächsten und der Schöpfung. Der Glaube an ein Endgericht Gottes, der – nicht zuletzt aufgrund von Missbräuchen – in Misskredit geraten ist, mahnt die Verantwortung für das eigene Handeln vor Gott ein und stärkt sie damit. Zum anderen bestehen Religionen überall auf der humanen Verpflichtung, dem anderen als Mitmenschen gerecht zu werden. Gefordert ist eine Praxis von Gerechtigkeit, sowohl privat, aber auch über das Recht. Dementsprechend befasst sich der Grossteil der theologischen Schriften der monotheistischen Religionen traditionell nicht mit Gottesfragen oder Spiritualität, sondern mit sozial-ethischen Themen und Fragestellungen.7 Die oft vernachlässigten sozialen Menschenrechte könnten daher als «common ground» zwischen den Religionen eine beachtliche Rolle spielen.8 Zum Dritten: Die Pflicht zur Gerechtigkeit schliesst die Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit und damit die Relativierung politischer Macht ein. So hat, wie Michael Walzer zeigte, die Exoduserzählung die Menschenrechtsbewegungen der Neuzeit wesentlich beeinflusst.9

Auf moralisches Verhalten angewiesen

Der Grund ethischer Praxis, also von Tugenden, Normen und Vorbildern ist, dass Menschen für ein gutes gemeinsames Leben auf moralisches Verhalten angewiesen sind. Dazu gehört wesentlich die Überwindung von Leid, positiv gewendet der Schutz wichtiger menschlicher Lebensgüter vom und durch den Staat. Das Christentum geht davon aus, dass göttliche Gebote dem Grundanliegen der Humanität nicht widersprechen können. Wenn gilt: «Der Sabbat ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für den Sabbat.» (Mk 2,27), dann zeigt dies ein humanistisches Credo, das auch eine Grundübereinstimmung mit den Menschenrechten bietet. Dies kann durchaus auch für andere Religionen gelten.

Das lange Ringen der Katholischen Kirche mit den Menschenrechten bedeutet freilich auch, dass trotz vielfältiger Überlappungen ein ethisch-theologischer Konsens zwischen Religion und Menschenrechte alles andere als leicht ist. Insofern sie heute in vielen Ländern als entschiedener und mutiger Anwalt für Menschenrechte auftritt, bietet sie freilich auch ein Beispiel dafür, wie wichtig und fruchtbar ein derartiger Brückenschlag sein kann.

Viel steht auf dem Spiel

Doch nicht nur für die Ordnung der Menschenrechte, deren Ziel ist, Leid zu verhindern, steht viel auf dem Spiel. Gleiches gilt für die Religionen. Ein Zurück hinter die humanistische Leitidee der Aufklärung würde nämlich bedeuten, dass sie Unmenschlichkeiten im Namen Gottes rechtfertigen. Um ein Beispiel zu bringen: Wenn ein untergeordneter Status der Frau als dem göttlichen Willen entsprechend gegen menschenrechtliche Entwürfe verteidigt wird, dient dies sicher nicht der Glaubwürdigkeit einer Religionsgemeinschaft. Zudem ist der notwendig repressive Charakter derartiger Positionen offenkundig. Gleiches gilt für Fragen des rechtlichen Status von Angehörigen anderer Religionen, also jene der Religionsfreiheit und Ähnliches mehr.

Aller Rede vom «Clash of Civilizations» (Samuel Huntington) zum Trotz gibt es daher gute religiöse wie säkulare Gründe, theoretisch und praktisch Brücken zwischen den Menschenrechten und religiösen Ethiken zu schlagen. Von den Vertretern der Menschenrechte verlangt dies eine grundsätzliche Rückbesinnung auf deren ethische Grundlagen vorgängig zur Positivierung sowie eine neue Einsicht in die Bedeutung von Religionen im politischen und gesellschaftlichen Geschehen. Gleiches gilt vice versa für die Vertreter von Religionen, nur dass es hier um die Einsicht in den Humanitätsgehalt der säkularen Menschenrechte geht.

Vor allem aber braucht es einen langen Atem. Die amerikanische Historikerin Lynn Hunt hat in ihrer Geschichte der Menschenrechte ein Kapitel mit dem optimistisch stimmenden Titel: There will be no end of it …10 Nach Hunt haben sich die Menschenrechte in immer neuen Bereichen durch immer neue Akteure durchgesetzt. Ebenso zeigt die Geschichte freilich, dass dies ein langer, gradueller und oft schwieriger Prozess mit vielen historischen Rückschlägen war. In der Vermittlung zwischen Religionen und Menschenrechten stehen wir bestenfalls am Anfang.

 

1 J. Habermas, Aus Katastrophen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf das kurze 20. Jahrhundert, in Ders., Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt 1998, 65–90, 75.

2 Ähnliches gilt für die protestantischen Grosskirchen, vgl. Martin Honecker, Menschenrechte, Menschenwürde ethisch, in: Martin Honecker (Hg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 2001, 1050–1062.

3 Yves Congar, Mon Journal du Concile. Vol. II, Paris 2002, 401.

4 Ausführlich Ingeborg Gabriel, Menschenrechte und Religionen: Kann der Brückenschlag gelingen? Theologische Stolpersteine und Ressourcen, in: Brigitte Schinkele / René Kuppe / Stefan Schima u. a. (Hg.): Recht Religion Kultur, FS für Richard Potz zum 70. Geburtstag, Wien 2014, 87–101.

5 Ingeborg Gabriel, Der Glaube und die Menschenrechte. Ein Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche sorgt für Diskussionsstoff, in: Herder Korrespondenz 64 (2010), 29–34 (mit Stefan Tobler). Zur orthodoxen politischen Theologie vgl. ausführlich Kristina Stoeckl / Ingeborg Gabriel / Aristotle Papanikolaou (ed.), Political Theology in Orthodox Christianity, London 2017.

6 Die Buchserie des politisch einflussreichen Pastors Tim Haye und Jerry B. Jenkings Left Behind verkaufte in den USA 65 Millionen Exemplare und wurde auch verfilmt.

7 Zum Beispiel behandeln bei weitem die meisten Bände der Summa theologiae des Thomas von Aquin ethische und rechtliche Themen. Ähnliches gilt für die jüdischen und islamischen Theologien.

8 Ein Versuch, sie in den Vordergrund zu stellen, war die Wiener Dialog-Initiative (1995–2008), vgl. ausführlich Ingeborg Gabriel, Like Rosewater. Reflections on Interreligious Dialogue, Journal of Ecumenical Studies, 45: 1, Winter 2010, 1–23, 12–17. Hier findet sich auch eine Liste der Publikationen in mehreren Sprachen, die daraus hervorgegangen sind.

9 Michael Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt 1985.

10 Lynn Hunt, Inventing Human Rights. A History, New York 2008, 146f.

Ingeborg Gabriel | © Universität Wien

Ingeborg Gabriel

Mag. Dr. Ingeborg Gabriel ist Professorin für Sozialethik an der Universität Wien. Sie wurde im Januar 2017 als «Sonderbeauftragte» der OSZE im Kampf gegen Rassismus, Xenophobie und Diskriminierung, speziell Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Christen und anderen Religionen, ernannt.