Menschenrechte und Menschenpflichten

Die Menschenpflichten als praktische Ergänzung der Menschenrechte wiederentdecken, dafür plädiert Aleida Assmann.

Die Europäische Union hat in ihrer Geschichte verschiedene Mauern überwunden, aber erst die Herausforderung der aktuellen Massenmigration hat alle Mitgliedsstaaten radikal gespalten. Die neue Grenze läuft durch die Gesellschaften hindurch: ziviles Engagement im grossem Stil bei der Aufnahmehilfe, Integration auf der einen Seite und lautstarke Proteste, Hassparolen, ja Gewaltakte gegen Fremde und ihre Unterkünfte auf der anderen Seite. In dieser Situation stellt sich die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft mit neuer Dringlichkeit. Um die Flüchtlinge aufzunehmen und die demokratischen Grundlagen dabei zu festigen, bedarf es eines neuen Gesellschaftsvertrags, der das friedliche Zusammenleben abstützt.

Frage nach sozialem Zusammenhalt wird dringlich

Die Fragen sind nicht neu. Schon nach dem Gewaltausbruch des Ersten Weltkriegs hat sich Siegried Kracauer über die Brüchigkeit des sozialen Zusammenhangs Gedanken gemacht und dabei die drei «humanen Tugenden» der Menschenliebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit in Erinnerung gerufen. Unter Menschenliebe verstand er «eine der engherzigen Selbstsucht entgegengesetzte seelische Haltung» sowie «das brüderliche Sich-Hinneigen zum anderen Menschen» und «die aus diesem Mitgefühl entspringende gütige Hilfsbereitschaft». Gerechtigkeit definierte er als eine Gesinnung, «die das Gegenteil eigennütziger Willkür ist» und dazu antreibt, «das Wohl aller Menschen zu verfolgen». Als duldsam schliesslich bezeichnete er den geöffneten Menschen, «der das ganze umfängliche Dasein erfahren und verarbeitet hat und dessen Seele weit genug ist, um sich gegen nichts Menschliches zu verschliessen».1

Diese Tugenden beruhen auf Emotionen, die zwar in jedem Menschen angelegt sind, jedoch auch leicht abgestellt werden können. Deshalb waren Gefühle allein für Kracauer noch keine Garantie für eine bessere Gesellschaft. Sie mussten in dauerhafte rechtliche und politische Strukturen umgesetzt werden, «die tatsächlich einen dauernden Wandel zum Besseren herbeiführen». Er verwies dabei auf die Abschaffung der Sklaverei, der Folter und auf die Öffnung der Ghettotore und fasste zusammen: «Alle derartigen verfassungsmässigen Festlegungen ethischer Forderungen bilden das Fundament einer staatlichen Ordnung.» Das Wort «Menschenrechte» gehörte 1919 noch nicht zu seinem Vokabular.

Verhältnis Menschenrechte zu Menschenpflichten

Menschenrechte sind in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und in der Französischen Revolution 1789 deklariert, aber keineswegs kontinuierlich praktiziert worden. Für viele blieben sie lange Zeit eine unerfüllte Forderung und müssen immer wieder neu erkämpft werden. Eine weitere Erklärung der Menschenrechte fand 1948 statt. Diesmal bezeugten sie nach der destruktiven Erfahrung der beiden Weltkriege und dem Zivilisationsbruch des Holocaust den starken Willen zu einem Neubeginn in Europa im Zeichen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Menschenrechte sind inzwischen die Verfassungen moderner Demokratien eingegangen, blieben aber während des Kalten Krieges noch weitgehend folgenlos. Das änderte sich in den 1980er-Jahren, als Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International damit begannen, Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen in einer globalen Arena zu mobilisieren.

Menschenrechte bestehen aus gesetzlich verankerten Forderungen an den Staat, die in Demokratien eingeklagt werden können. Das unterscheidet sie von den Menschenpflichten, als deren Garant nicht der Staat, sondern nur die Gesellschaft selbst auftreten kann. Es geht dabei nicht um den Menschen an sich, sondern um den Menschen als Mitmensch. Wie verhalten sich die Menschenrechte zu den Menschpflichten? Der Erste Artikel der Menschenrechte lautet: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.» Dieser Satz formuliert ausnahmsweise kein Recht, sondern enthält eine anthropologische Beschreibung, aus der eine Aufforderung zur Sozialität und Mitmenschlichkeit abgeleitet wird.

Während die Menschenrechte Grundrechte festhalten und Forderungen formulieren, fokussieren die Menschenpflichten auf Formen eines zivilen Umgangs. Sie haben einen ganz anderen Stammbaum als die Menschenrechte, denn sie gehen nicht auf historische Revolutionen und Intellektuellen- Diskurse zurück. Ihre viertausendjährige Vorgeschichte reicht in alle Kulturen der Welt zurück. So alt ist nämlich der Kernsatz der Menschenpflichten, der überall auf der Welt bekannt ist und deshalb die «goldene Regel» genannt wird: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu.2

Soziales Äquivalent zur Verkehrsordnung

In der Geschichte antiker Kulturen und des Christentums stand auch die Tugend der Menschenliebe hoch im Kurs. Meist wurde sie sozial von oben nach unten ausgeübt und richtete sich an die Schwachen, Armen und Fremden und Ausgegrenzten der Gesellschaft. Die Beamten im Alten Ägypten zum Beispiel legitimierten ihren Status mit dem Bekenntnis zu sozialen Tugenden, die sie in ihren Idealbiografien formulierten und auf ihren Grabwänden verewigten. Sie gaben Brot dem Hungrigen, Wasser dem Durstigen, Kleider dem Nackten, ein Boot dem Schifflosen. Diese von der Oberschicht geforderte Fürsorge galt insbesondere den Witwen und Waisen. Es waren die Mängel eines fehlenden Sozial- und Rechtsstaats, die sehr viel Freiraum für die Ausübung humaner Tugenden schuf. Im Christentum wurde die soziale Tugend unter dem Stichwort «Werke der Barmherzigkeit» dann zu einer religiösen Pflicht: wer den Törichten mahnte, den Armen zu essen und zu trinken gab, sie beherbergte, den Nackten kleidete, die Kranken besuchte und stärkte, die Gefangenen besuchte und die Toten bestattete, der durfte erwarten, dass seine Seele nach seinem Tode von Engeln in den Himmel getragen wurde.

Nicht in jedem Menschen steckt eine Mutter Teresa. Aber Empathie und Respekt sind humane Tugenden, die Menschen in allen Kulturen vom Kindesalter an erlernen und einüben können. Empathie und Respekt sind auch die Grundlage der Menschenpflichten, die man sich als ein soziales Äquivalent zur Strassenverkehrsordnung vorzustellen hat. So wie es im Strassenverkehr Regeln für ein korrektes Verhalten oder wie es im Sport Regeln für einen fairen Umgang miteinander gibt, ist die Gesellschaft auf Regeln für ein respektvolles Miteinander angewiesen. Diese Grundregeln sind derzeit tief in Vergessenheit geraten. Gegenseitige Verachtung und Gewaltbereitschaft nehmen zu. Auch die politische Kultur hat gelitten. Dissens wird auf öffentlichen Veranstaltungen immer öfter mit Schmäh- Parolen und brachialer Gewalt als mit Argumenten ausgetragen. Das Recht zur freien Meinungsäusserung wird ständig mit einem Recht zur hemmungslosen Beleidigung, Blossstellung, Erniedrigung und öffentlichen Beschämung verwechselt. Im Internet formieren sich Shit-Storms und eskalieren Skandale. Im Zeitalter globaler Medien können aus lokalen Entgleisungen umgehend gefährliche Brandherde werden. M. a. W.: Was gerade verloren zu gehen droht, ist ein überparteilicher und interkultureller Konsens über die Formen mitmenschlichen Kontakts und Takts. Der primitive Anstand und das Vertrauen der Menschen ineinander sind gefährdet.

Wie Respekt und Vertrauen neu verankern?

Samuel Moyn hat den engen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Menschenpflichten betont: «Wir kennen alle die Forderung, dass alle Menschen überall Rechte haben. Aber wir machen uns nicht klar, dass diese Rechte nur durch die Erfüllung von Menschenpflichten geschützt werden.» Zu diesen Pflichten gehört für Moyn auch, dass Menschenrechte, die vom Staat garantiert sind, in der Gesellschaft von Mitmenschen eingeklagt werden müssen. Deshalb fügt er hinzu: «Menschenrechte verkümmern ohne Menschenpflichten.» Ausserdem beklagt er, dass es jede Menge von Büchern über die Geschichte der Menschenrechte gibt, aber kein einziges Werk über die Geschichte der Menschenpflichten.3

Das könnte sich aber bald ändern. Es gibt nämlich schon ein Buch, das einen praktischen Beitrag zu dem Thema leistet. Es enthält die aktuelle Variante eines Katalogs der Menschenpflichten. Vier der 19 Artikel behandeln «Fundamentale Prinzipien für Humanität, drei handeln von «Gewaltlosigkeit und Achtung vor dem Leben», vier von «Gerechtigkeit und Solidarität», vier von «Wahrhaftigkeit und Toleranz» und drei von «Gegenseitiger Achtung und Partnerschaft», gefolgt von einem «Schluss»-Artikel. Die goldene Regel ist in Artikel vier untergebracht.4 Dieser Katalog wurde 1997 von einem Aktionskomitee auf Deutsch und Englisch aufgesetzt, von Helmut Schmidt, Franz Vranitzky, Shimon Peres und anderen Staatsmännern und -frauen unterstützt, in den Medien diskutiert und bei den Vereinten Nationen eingereicht. Dort ist die Erklärung in einer Schublade verschwunden und in Vergessenheit geraten. Die Zeit ist gekommen für eine neue Diskussion dieser Erklärung, die soeben vom InterAction Council in einer Neuauflage in 40 Sprachen veröffentlicht worden ist.5

Christliche Werke der Barmherzigkeit nicht exklusiv

Es ist an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass die Werke der Barmherzigkeit zum Kern der christlichen Religion gehören, aber kein exklusives Gut darstellen, weil die Grundregeln des friedlichen Miteinanders alle Kulturen und Religionen auf der Welt verbinden. Die Menschenpflichten sind kein Ersatz für die Menschenrechte, sondern ihre praktische Ergänzung. Wie gut, dass es die Menschenpflichten schon gibt. Wir brauchen sie nur wiederzuentdecken und umzusetzen!

 

1 «Sind Menschenliebe, Gerechtigkeit und Duldsamkeit an eine bestimmte Staatsform geknüpft, und welche Staatsform gibt die beste Gewähr für ihre Durchführung?» (1919), in: Siegfried Kracauer, Frühe Schriften aus dem Nachlass, Kracauer Werke Bd. 9.2, Frankfurt a. M. 2004, 79–136; 81–82 und nachfolgend 93.

2 Die goldene Regel ist eine Weisheit, die alle Epochen, Kulturen und Religionen umspannt. Für diese Sentenz gibt es biblische Quellen aus dem sogenannten Alten (Lev 19,18; Tobit 4,15) und dem Neuen Testament (Mt 7,12 und Lk 6,31). Sie ist auch in die neuste Deklaration der Menschenpflichten unter Art. 4 eingegangen.

3 «There is now a whole canon on the history of the internationalization of human rights since the middle of the twentieth century. But, to the best of my knowledge, there is not a single book on the history of duties, even though there clearly have been precedents, including Gandhi’s, for a theory of obligations that would accrue not just at the level of community or state but at that of the globe as a whole.» Samuel Moyn, «Rights vs. Duties. Reclaiming Civic Balance», Boston Review, May 16, 2016.

4 H. Schmidt (Hrsg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München 1998, S. 99f.

5 InterAction Council, Verantwortung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten des InterAction Council in 40 Sprachen, Sinzheim: Grupello, 2017.

Aleida Assmann | © Universität Konstanz

Aleida Assmann

Aleida Assmann war von 1993 bis 2014 Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. In zahlreichen Fellowships und Gastprofessuren an amerikanischen Universitäten vertrat sie Forschungsthemen wie Individuelles und kulturelles Gedächtnis, Gewalt, Trauma und Geschichtspolitik. Publikationen: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (2013); Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Niedergang des Zeitregimes der Moderne (2013), Im Dickicht der Zeichen (2015), Formen des Vergessens (2016).