Heilung am Teich Schiloach

4. Fastensonntag: Joh 9,1–41

Es ist ein sperriger Text: Jesus macht einen blind geborenen Mann sehend. Doch in der ausführlichen Erzählung ist kein einziges Mahl davon die Rede, dass der Geheilte oder jemand aus seinem Umfeld sich darüber freut. Stattdessen: kritische Rückfragen, Vorwürfe, Streit. Nicht die Heilung selbst steht im Vordergrund, sondern (typisch für Johannes) die theologisch-christologische Reflexion. Dabei geht es um «richtig» oder «falsch» und um Glaubensverhöre. Die Eltern des Geheilten scheinen sich aus Angst von ihrem (erstmals sehenden!) Sohn zu distanzieren, wogegen der Sohn nicht nur vor den Pharisäern, sondern auch gegenüber Jesus selbst ein Bekenntnis zum Menschensohn ablegt.

Es braucht genaue Lektüre und sorgfältige Interpretation, um die «emotionale Entgleisung» dieser Heilungsgeschichte nicht einfach «den Pharisäern» oder «den Juden» anzulasten, die wichtige Rollen spielen. Schon die Jünger Jesu hatten zu Beginn einen befremdlichen Akzent gesetzt, indem sie zwar an einem Schuldigen für die Blindheit und damit an einer pseudotheologischen Diskussion interessiert waren, den Blinden selbst mit seiner Not hingegen – anders als Jesus – links liegen gelassen hatten.

Meinungsvielfalt unter den Pharisäern

Gerade angesichts des Freund-Feind- Schemas, das Johannes über das vielgestaltige Frühjudentum legt, wenn er oft pauschal von «den Juden» schreibt, ist es auffällig, dass Johannes hier sehr wohl Differenzierungen erkennen lässt. Es gibt Pharisäer, die sich für Jesus einsetzen: «Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?» (9,16) Gemeint ist: Wäre Jesus tatsächlich sündig, wie andere Pharisäer mit Hinweis auf eine mögliche Übertretung des Sabbatgebotes behaupten, hätte er den Blindgeborenen nicht sehend machen können. Diese Stelle eignet sich gut als Ansatzpunkt für eine differenzierte Predigt über die Pharisäer, die Jesus von allen jüdischen Gruppierungen am nächsten standen, auch wenn unterschiedliche Prioritäten z. B. bzgl. kultischer Reinheitsgebote und Sabbatobservanz zu Konflikten führten.

Angst vor dem Ausschluss

Zweimal erwähnt Johannes einen «Ausschluss» der AnhängerInnen Jesu aus der Synagoge (9,22 f. 34 f.). Dieser Konflikt ist für das historische Leben Jesu zwischen ca. 28 bis 30 n. Chr. anachronistisch, verweist aber auf die Abfassungszeit des Evangeliums um 90. Die reale Erfahrung eines Synagogenausschlusses auf Seiten der Jesus-messianischen Bewegung um 90 n. Chr. macht die Schärfe verständlicher, die sich in den Konflikten zwischen Jesus und anderen jüdischen Positionen zeigt: Hier wurden existenziell bedrohliche Erfahrungen aus der dramatischen Trennungsgeschichte zwischen Mehrheitsjudentum und Jesus-messianischer Bewegung gegen Ende des 1. Jhs. in die Erzählungen vom Leben Jesu selbst zurückprojiziert. Da diese Rückprojektion nicht nur mit einer Verzerrung tatsächlicher historischer Positionen und Konflikte verbunden ist, sondern auch zu einer einseitigen Schuldzuweisung an andere jüdische Gruppen und theologische Positionen gerade im Johannesevangelium geführt hat, ist hier auch in der Predigt eine Differenzierung zwischen den historischen Ereignissen im Leben Jesu und der Abfassungszeit der Evangelien unabdingbar.

Der Teich Schiloach und das Laubhüttenfest

Joh 9 steht noch im narrativen und theologischen Kontext des Laubhüttenfestes, zu dem Jesus nach Jerusalem gepilgert war und das die «Bühne» für seine Selbstoffenbarung als «Licht der Welt» gebildet hatte (Joh 7 f.). Johannes spielt dabei auf zahlreiche Festrituale an und bietet so eine christologische Interpretation des jüdischen Festkreises, jedoch ohne die Feste damit ablösen zu wollen.1 So wurde z. B. der Jerusalemer Tempel während der Sukkot-Nächte durch gewaltige Leuchter taghell erleuchtet, was nicht nur Jerusalem, sondern auch die in diesem Kontext fallenden Worte Jesu «Ich bin das Licht der Welt» (8,12; 9,9) in neues Licht taucht. Und ein tägliches Ritual, bei dem ein Krug lebendigen Wassers aus dem Teich Schiloach geschöpft und nach einer Prozession zum Tempel dort als symbolische Tempelquelle vergossen wurde, fügt weitere wichtige Interpretationsfacetten zu Joh 9 hinzu. Dass der blind geborene Mann ausgerechnet nach einer Waschung im Teich Schiloach wieder sehen kann, ist eine beispielhafte Realisierung der Licht- und Wassertheologie des jüdischen Laubhüttenfestes (Sukkot). Indem Jesus den blind geborenen Mann sehend macht, erweist er sich als tatsächliches Licht der Welt und stillt zugleich den Durst nach Leben in Fülle (7,37; 10,10).

Gerade darin zeigt sich, wie jüdisch Jesus auch in den christologischen Höhenflügen des Johannesevangeliums gezeichnet wird: Die Konflikte zwischen Jesus und «den Juden» im Johannesevangelium müssen zwar im Lichte der realen Trennungsgeschichte verstanden werden. Sie bedeuten aber gerade keine Distanzierung von den jüdischen Wurzeln des Christentums, sondern im Gegenteil ein intensives Ringen um richtige, jüdische Lebens- und Glaubenswege. So ist auch das schroffe Jesuswort in 9,39 zu verstehen, das in auffälliger Spannung zu Joh 3,17 steht.

Joh 9 in der revidierten Einheitsübersetzung

Die 2016 erschienene Revision der Einheitsübersetzung korrigiert übrigens – neben weiteren kleineren Anpassungen – einen Übersetzungsfehler, der bei der Erstveröffentlichung der Einheitsübersetzung 1979/80 übersehen worden war. In 9,11 hiess es bisher: «Ich ging hin, wusch mich und konnte wieder sehen» (Hervorhebung D. H.). Das ist bei einem ausdrücklich als von Geburt an blind beschriebenem Mann natürlich nicht möglich und hat auch keinen Anhaltspunkt im griechischen Text. Die revidierte Einheitsübersetzung schreibt nun korrekt: «Ich ging hin, wusch mich und konnte sehen.»

 

 

1 Vgl. Dorit Felsch, Die Feste im Johannesevangelium, Tübingen 2011.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.