Christsein in verordneter Ruhe

Corona hält die Welt in Atem. Der auferlegte Stillstand ist aber gemäss Bischof Felix Gmür auch eine Chance, sich der inneren Leere zu stellen.

Eine fast gespenstische Ruhe erfüllt seit Wochen den öffentlichen Raum. Mit ihr verbindet sich die Erfahrung einer gewissen Leere. Bahnhöfe und Züge sind menschenleer, Strassen und Uferpromenaden zu Orten der Stille geworden. Café, Theater und Restaurant, Einkaufsmeile, Schule, Sportplatz, Stadion: alles geschlossen. Ruhe überall. Doch die Ruhe ist trügerisch. Denn das emsige Treiben geht vielerorts weiter. Es hat eine neue Gestalt im nichtöffentlichen Raum angenommen und schwirrt in vielen Köpfen und Haushalten umher.

Es ist nicht einfach, Ruhe zu akzeptieren, geschweige denn, sie auszukosten. Besonders dann, wenn sie von aussen auferlegt ist. Es ist nicht einfach, Ruhe zu bewahren, wenn die Welt Kopf steht und uns schwer verdauliche Nachrichten aus Ländern und Spitälern erreichen. Wenn wir unsere Lieben nicht oder nur begrenzt sehen dürfen oder gewisse Regale in den Läden nur gähnende Leere feilbieten. In einer Welt, wo das ständige Machen dem schlichten Sein den Rang abläuft, ist es schwer, Ruhe und Stille auszuhalten. Das trifft auch das Leben der Kirche.

Die Reaktionen sind unterschiedlich. In engen Wohnverhältnissen kann die Beschränkung im Umgang mit sich selbst und anderen zu Aggressionen oder Lähmung und Apathie führen. Gleichzeitig erfahren andere, dass Ruhe und Stille, wenn sie nicht leichtfertig überdeckt oder verdrängt werden, ein Potenzial entfalten. Innere Unruhe führt uns auf die Suche nach unserem Boden, nach dem, was uns Halt gibt. Wer danach sucht, setzt sich aus, und zwar zunächst sich selber.

Jesu Jüngerinnen und Jünger waren zutiefst beunruhigt, ja verstört, als jener, in den sie alle Hoffnung auf Erlösung setzten, nicht etwa das Volk von der römischen Herrschaft befreite, sondern den brutalen Kreuzestod starb. Was nun? War alles verkehrt? Alles Lug und Trug? Die sogenannte Karfreitagsruhe ist in Wahrheit eine furchtbare Unruhe, eine innere Krise. Vermeintliche Sicherheiten fallen auseinander. Das ist schmerzhaft und herausfordernd. Den Schmerz und die Verzweiflung zeigt Maria Magdalenas Weinen am Ostermorgen vor dem leeren Grab. Sie hat den Boden unter den Füssen verloren. Im Unterschied zu den Jüngern, die das leere Grab sehen und heimkehren, bleibt Maria Magdalena da. Sie übertüncht ihre Unruhe nicht mit dem Tagesgeschäft. Sie schaut ins leere Grab. Sie stellt sich dessen Dunkelheit. Sie hält aus und durch. Sie sucht.

Die Herausforderung, sich in der verordneten äusseren Ruhe der inneren Unruhe und Ungewissheit zu stellen, betrifft auch unseren Glaubensvollzug. Was tun, wenn soziale Kontakte dermassen eingeschränkt werden? Was tun, wenn Gottesdienste nicht mehr besucht werden können? Was tun, wenn alle festlichen Kirchenanlässe abgesagt sind? Wer bin ich in dieser Situation als Christin und als Christ?

Die Szene von Jesus und Maria am leeren Grab legt eine Spur. Jesus verbietet Maria, ihn zu berühren. «Noli me tangere» damals, «zwei Meter Abstand» heute. Entscheidend ist: Sie begegnen sich. Maria sucht ihren Halt, ihren Boden, ihre Kraft, und Jesus zeigt sich ihr. Das ist der Ursprung der Kirche: Begegnung mit Jesus. Am Anfang stehen nicht die festen Feiern und Formen, wie wir sie zelebrieren und schätzen. Der Glaube entzündet sich an der persönlichen Begegnung, die sich in der Krise ereignet. Maria gewinnt ihren Boden unter den Füssen zurück und kann nun überzeugt den Sieg des Lebens über den Tod verkünden. Die jüngsten Entwicklungen erfordern es, an den Ursprung zurückzugehen, Ruhe und Stille auszuhalten, sich der Leere zu stellen. Es gilt, selber die Begegnung mit Jesus zu suchen. Sie schenkt innere Ruhe, Ruhe im Herzen.

+ Felix Gmür, Bischof von Basel


Felix Gmür

Dr. theol. Dr. phil. Felix Gmür (Jg. 1966) studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Freiburg (CH), München, Paris und Rom. Die Studien schloss er 1994 mit einem Lizentiat in Theologie, 1997 mit einem Doktorat in Philosophie und 2011 mit einem Doktorat in Theologie ab. Seit 2011 ist er Bischof von Basel und seit 2019 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK).