Menschenrechte - Globalisierung - Religion

Am 6. Dezember 2016 fand im Zürcher Institut für interreligiösen Dialog ZIID die Tagung zum Thema «Menschenrechte im Zeitalter der Globalisierung. Aspekte ihrer Rezeption in den Religionen» statt.

Hauptreferent der Tagung war der deutsche Soziologe Hans Joas.1 Er betonte, dass Geschichte und Begründung der Menschenrechte kontrovers diskutiert werden. Sind die UN-Menschenrechte von 1948 gemeint? Sind die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs mitberücksichtigt? Manche setzen den Zeitpunkt erst auf Mitte der 70er- oder auf die 90er-Jahre, als die Frage international für die Aussenpolitik relevant wurde. Joas spricht von einem «lächerlich kurzen Zeitraum». Seit dem Monotheismus und Judentum, aber auch in der griechischen Philosophie tauche die Diskussion auf. Carl Jaspers prägte den Begriff der «Achsenzeit»: Im Zeitraum von 800 bis 200 v. Chr. sei denkgeschichtlich weltweit ein Durchbruch zur Vorstellung «Menschheit» geschehen. Damit werden die «Andern» zunehmend auch als Menschen gesehen. Joas geht von drei Ebenen aus: vom ethischen und philosophischen Ethos des moralischen Universalismus, der rechtlichen Kodifizierung dieses Ethos in der Verfassung von Staaten und der Kodifizierung auf der Ebene transnationaler Abkommen.

Die erste Ebene hat moralische Implikationen, die sich etwa in der weltweit verbreiteten Goldenen Regel zeigen. In der Französischen Revolution entstehen die ersten rechtlichen Dokumente, die auch für die USA relevant werden. Die Prozesse verlaufen aber nicht synchron. Thomas Jefferson etwa betonte in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung «Alle Menschen sind gleich geboren», hielt aber selbst Sklaven.

Menschenrechts-Begriff

Der Begriff existiert auf mehreren Ebenen: Rechtsgeschichtlich entstehen Verfassungen, Verträge und einklagbare Ansprüche. Dazu kommt die Ideengeschichte (inkl. Religion) und die politische Geschichte, nicht identisch mit der Rechtsgeschichte. Stalins Verfassung kannte viele nicht einklagbare Rechte. Schliesslich die Mentalitätsgeschichte. Körperliche Gewalt wurde in der Erziehung akzeptiert, heute nicht mehr.

Im 18. Jh. wurden Dokumente gegen die Sklaverei kodifiziert. Die Umsetzung dauerte je nach Land lange. Die Anti-Sklaverei-Bewegung war weniger der juristischen Ebene, sondern weit stärker christlichen Werten und Büchern wie «Onkel Toms Hütte» geschuldet. Auch spielte die Aufklärung mit ihren oft antireligiösen Standpunkten weit weniger eine Rolle, als oft vermutet.

Die Rechtsgeschichte entwickelt sich aus Kulturprozessen: «Das Böse» wird neu definiert. Neue Werte erscheinen als evident und sind affektiv hoch besetzt. Es kommt im 19. Jh. (Emil Durkheim, Marcel Mauss) aus laizistischer Sicht zu einer «Sakralisierung der Person». Bereits früher gab es Ansätze zur neuen Entwicklung des Menschenbilds in der Religion. Menschen verhalten sich aber zur Religion und holen sich aus deren Tradition die Begründung für die geänderten Werte. So kommt es zur unterschiedlichen Rezeption einzelner Aspekte.

Westliche Menschenrechte?

Joas lehnt die ahistorische Sicht vieler Philosophen auf die Menschenrechte ab. Er verweist auf die Kantianer, die die Moral als anthropologische Konstante ansehen, ebenso auf Denker wie Friedrich Nietzsche, die Werte im Kontext mit Machtinteressen sehen. Neben den rationalen Argumenten für Menschenrechte müsse man deren Entstehungsgeschichte berücksichtigen, das emotionale Narrativ stärken und die Bindung an die Werte intensivieren. Im Westen betone man gern, dass man Sklaverei und Folter überwunden habe, übersehe aber, dass man die Sklaverei in Europa im 18. Jh. abschaffte, doch noch lange in den Kolonien beibehielt. Desgleichen die Folter bis ins 20. Jh.: Frankreich in Algerien, die Briten in Kenia. Im Umfeld des Terrors wird sie auch heute durchaus wieder diskutiert.

Fazit

Es existieren viele kulturelle Anknüpfungspunkte für den moralischen Universalismus, auch ausserhalb von Christentum und Judentum – Indien, China. Individuen können mit oder ohne religiösen Hintergrund für neue Werte ergriffen werden. Alte religiöse Traditionen sind nicht homogen. Der westliche Blick muss neben dem Ideal immer auch das reale Handeln ausserhalb des Westens mit einbeziehen, etwa in den Kolonien.

Judentum und Christentum

Nach Michel Bollag (stellvertr. Leiter des ZIID) verpflichtet die jüdische Theologie zu den Menschenrechten. Bereits in der Genesis wird betont, dass alle Menschen in Gottes Bild geschaffen sind. Nach der Tradition stammt die geoffenbarte Thora vom Himmel. Praktizierende Juden halten an diesem Glauben diese Werte in Bezug auf Kinder, Frauen und Sklaven, wie entsprechende Stellen zeigen. Die Rabbinen stellen sich diesem Widerspruch. Für sie ist die Offenbarung ein Raum, in dem ein Dialog zwischen Gott und dem Menschen stattfindet. Der Mensch ist beschränkt, die Interpretation der Thora deshalb an Raum und Zeit gebunden und muss sich zeitgemäss entwickeln. So werden im 5. Buch Mose Rechte und Pflichten gegenüber Sklaven genannt. Der Talmud betont, man dürfe sie nicht «beschämen», Maimonides verbietet im 12. Jh. Gewalt gegen sie und fordert eine begrenzte Arbeitszeit. Dazu darf ihre Arbeit nicht eintönig sein. Aus Frömmigkeit sollte man auf Sklaven verzichten, Maimonides spricht aber kein Verbot aus! Bollag betonte den Begriff der Menschenwürde, der im Talmud verankert ist. Hier findet sich der Bezug zu den universellen Menschenrechten. Dabei unterstrich er die Genderfrage als wichtige Aufgabe!

Samuel Behloul (Fachleiter Christentum ZIID) äusserte sich zur Sicht im Christentum. Er forderte die Einheit in Christus (Gal 3,28), unabhängig von Stand und Geschlecht, die allen Gläubigen zukommt. Andere Menschen sind hier ausgenommen. Erst das 2. Vatikanum (DH) betonte dann die universelle Geltung der Menschenrechte. Dazu kamen Erklärungen der reformierten Kirchen in den 1970ern. Die orthodoxen Kirchen entwickelten sich unterschiedlich. Jene in den kommunistischen Ländern lehnten diesen Bereich ab, die in westlichen akzeptierten sie. Die russisch-orthodoxe Kirche betonte 2000, dass es Rechte nur bei gleichzeitiger Übernahme der Pflichten gebe, dies besonders mit Blick auf die Erbsünde. Zwischen der Achsenzeit und dem 18. Jh. sieht Behloul eine wachsende Verdichtung der Kommunikation. Die Begegnung mit anderen Religionen führt zu einer vermehrten Selbstreflexion des jeweils eigenen Glaubens. Mit der Migration verstärkt sich dies noch, dazu wächst das Rechtsbewusstsein.

... und Islam

Rifa’at Lenzin, Islamwissenschaftlerin, beleuchtete die Perspektiven der Menschenrechte aus der Sicht des Islam. Sie weist darauf hin, wie selektiv diese zu Beginn angewandt wurden. In Afrika galten sie nur für Weisse, in Frankreich nur für Bürger und in der Schweiz lange nur für Männer! Die Menschenrechte wurden im Kontext wirtschaftlicher und machtpolitischer Einflüsse relativiert. Islamische Menschenrechtserklärungen (auch die islamische Kairoer Menschenrechtserklärung von 19902) sind daher oft eine Antwort auf den als arrogant empfunden Westen. Wie Samuel Huntington in «The Clash of Civilisations» schreibt: «What is universalism to the West is imperialism to the rest».

Lenzin lehnte eine Diskussion zur Universalität oder dem Kulturbezug der Menschenrechte ab. Sie erläuterte verschiedene Zugänge von Seiten des Islam. Zeitgenössische Denker diskutieren deren Vereinbarkeit mit dem Islam. Die Bandbreite der Standpunkte ist dabei sehr gross und reicht von der Unvereinbarkeit bis zur völligen Kompatibilität. Die UN-Deklaration wird einerseits als innerislamischen Erfolg gesehen, weil sich Schiiten (Iran) wie auch Sunniten (Saudi-Arabien) darauf einigen konnten. Diskussionspunkt bleibt jedoch der Hintergrund: Ist dieser religiös oder philosophisch? Gelten hier juristische Regeln? Dazu muss noch geklärt werden, welche einzelnen Rechte sich auf religiöse Bereiche beziehen und welche ausgenommen sind.

Für eine kleine Gruppe gehören die Menschenrechte ins säkulare Recht und haben keine religiöse Relevanz (Syed Abul A’ala Maududi, Abdullahi An-Na’im). Für die zweite Gruppe gehören sie zum menschlichen und damit auch zum islamischen Denken. Der islamische Zugang setzt aber Quellen im Koran voraus. Für Mohammad Mojahed Shabestari etwa sind Menschenrechte und Demokratie ein Produkt der Vernunft. Es finden sich zwar keine Quellen im Koran und der Sunna, doch Menschenrechte stehen auch nicht im Widerspruch dazu. Allerdings muss der Gottesbezug gewährleistet sein.

Eine dritte Gruppe sieht keine Unterschiede zwischen den UN-Menschenrechten und den islamischen Prinzipien. Ayatollah Muhamma Tqi Ja’fari betont, das Ziel sei für beide das gleiche, nicht aber der Weg. Denn Menschenrechte sind in islamischer Sicht von Gott gesetzt. Unterschiede ergeben sich bei der Gleichberechtigung der Geschlechter (Ehe, Vertretung vor Gericht): Der freie Religionswechsel und die Wählbarkeit von Nichtmuslimen in Ämter werden eingeschränkt. Das Verbot der Todesstrafe ist ebenfalls umstritten. Lenzin erwähnte die Ironie, dass Menschenrechte Muslime in Europa besser schützen als in der islamischen Welt!

Werte und Normen

In der Schlussdiskussion stellte sich die Frage, ob die Kirchen zu einer früheren Abschaffung der Sklaverei hätten beitragen können. Joas lehnte diese These ab. Das Umfeld hätte dies nicht erlaubt. Werte und Normen müssten klar unterschieden werden. Das jeweilige Gerechtigkeitsempfinden sei eine Norm. Die Frage stelle sich, wer dieses auf wen anwende. Es müssten Texte erarbeitet und Norm in geltendes nationales Recht umgewandelt werden. Lenzin betont, wie mühevoll ein aufrichtiger Menschenrechtsdiskurs ist. Oft verkomme er zum Schlagabtausch.

Der Kurs war auf akademischer Ebene sehr informativ, wenn auch Bereiche wie Frauen- und Kinderrechte nicht berücksichtigt wurden.3

 

1 Hans Joas: Die Sakralität der Person – Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. Ders.: Sind die Menschenrechte westlich? München 2015.

2 Kairoer Menschenrechts-erklärung: www.humanrights.ch/de/menschenrechte-themen/islam/selbstverstaendnis/mr-erklaerungen/ und Rifa’at Lenzin, Menschenrechte aus islamischer Sicht, Artikel in tangram, Juni 2010, http://www.interrelthinktank.ch/index.php/texte/texte-der-einzelnen-mitglieder/texte-rifa-at-lenzin/item/32-menschenrechte-aus-islamischer-sicht

3 René Pahud de Mortanges (Hrsg.): Religion und Integration aus Sicht des Rechts, Zürich, Basel, Genf 2010. Religiöse Neutralität. Ein Rechtsprinzip in der multireligiösen Gesellschaft, Zürich, Basel, Genf 2008. Dietmar Mieth, René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Recht, Ethik, Religion, Luzern 2002. Leider fand kein Austausch der Ergebnisse der Gruppendiskussionen statt. Die Diskussion zu Fragen der Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz, etwa im Asylwesen, bei der Ausbildung von Imamen etc. sowie die Standpunkte der Religionsgemeinschaften dazu wäre wünschenswert gewesen.

Christiane Faschon

Christiane Faschon

Christiane Faschon ist dipl. Religionspädagogin, Fachjournalistin (BR) und Dozentin.