Menschenrechte als Teilhaberechte

Im Alltag sind sie kaum Gesprächsthema: die Menschenrechte. Werden sie jedoch verletzt, kann man sie einklagen. Es geht um die Teilhabe an menschenrechtlichen Grundansprüchen.1

Was können Menschen tun, wenn sie in ihren bürgerlichen Freiheiten beschränkt werden? Wenn sie weder aktiv wählen, noch sich passiv zur Wahl stellen können? Was folgt aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit, wenn neue Religionsgemeinschaften um ihren Platz in der Aufnahmegesellschaft ringen, ihnen kaum Entfaltungsraum zugestanden wird? Der Anspruch darauf kann immer wieder unter Druck geraten. Zudem stehen als erste Generation die politischen und bürgerlichen Rechte von jeher in Spannung zueinander. Zwar kann man im Staat seine Freiheit durch Mitbestimmung ausüben, macht aber davon wenig Gebrauch: Politische Abstinenz ist das Resultat. Man reklamiert Eigentumsgarantie und kann sich im Extremfall nicht dem Vorwurf entziehen, mit diesem bürgerlichen Recht soziale Ungerechtigkeiten auszublenden. So gerät die zweite Generation der Menschenrechte, welche die Teilhabe an wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung garantiert, ins Abseits.

Menschenrechte als Mitmenschenrechte

Elend und Hunger zeigen, wie das einmal gebaute Haus der Menschenrechte auf Renovation angewiesen bleibt. Die Rechtsentwicklung seit der UNO-Erklärung 1948 erreichte zwar Verbindlichkeiten im Bereich der Freiheits- und Sozialrechte, deren Durchsetzung blieb dort Illusion, wo die Achtung vor dem Leben und der Glaube an den Wert jedes Menschen mit Füssen getreten wird. Die Verletzungen von Konventionen machten aus dem gebauten Haus so etwas wie ein Tollhaus ungeklärter Machtverhältnisse. Den Standard der Menschenrechte und Menschenpflichten als Bildungsziel zu definieren, sollte darum auf allen Ebenen in Gesellschaft, Politik und Religion die Regel werden.

1979 gab ein Missionsjahrbuch der Schweiz unter dem Titel «Menschenrechte – Das Evangelium wird verbindlich»2 den Entrechteten und Stimmlosen eine Stimme. Darin schrieb Jan Milic Lochmann hellsichtig: «In jedem Ringen um Menschenrechte macht man früher oder später eine recht bittere Erfahrung: Man steht in einer gespaltenen Welt.» Gespalten sei nämlich der Menschenrechtsbegriff, je nach politischem System und Standpunkt. Die Rechte für kommende Generationen seien in den Blick zu nehmen. Schliesslich begründe, biblisch verstanden, das «Unterscheidend-Christliche» keine Privilegien, sondern dränge in der Nachfolge Jesu zur unbedingten Offenheit und zum Einstand für die anderen. «Ein wirklich christlicher Begriff meint Rechte der Christen nur im Kontext der Menschenrechte: der Mitmenschenrechte.» Ob man sich darauf einlässt, in den anderen Mitmenschen zu sehen, deren Teilhabe an politischen und sozialen Prozessen gerechtfertigt ist, entscheidet sich damit auf allen Ebenen.

Keine Menschenrechte ohne Teilhabe

«Die Menschenrechte sind der Pfeiler einer zivilisierten Gesellschaft und das Gegengift gegen Extremismus.» Als der UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon diesen Leitsatz über 2016 als Katastrophenjahr für die Menschenrechte notierte, zeigte er, was dieses Regelwerk unabdingbar macht. Weltweit nämlich ist es auf dem Rückzug.3 Somit fragt sich, wie die menschenrechtlichen Grundansprüche, d. h. die Trias von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe4, gewichtet werden.

Ein einfacher Test fordert dazu auf, sich mit den Grundpfeilern der Menschenrechte näher zu befassen: Das Stichwort Teilhabe weist auf einer Suchmaschine 3,94 Mio., Solidarität 6,68 Mio. Einträge auf. Gleichheit bringt es auf 3,44 Mio., wo hingegen Freiheit auf satte 41,1 Mio. Menschenrechte brauchen ihren umfassenden Entfaltungsraum, sei es bezogen auf Rechte der Kinder, der Frauen und allgemein aller Entrechteten. Werden Menschen am Aufbau ihres eigenen Lebensfeldes beteiligt, wird ihre Würde gestärkt und ihre Suche nach Sinn gefestigt. In der globalisierten Welt werden alte Postulate wie Mitbestimmung des politisch-wirtschaftlichen Bereiches den Weg öffnen müssen, um allen Menschen Zugänge zu mehr Lebenschancen zu ermöglichen.

Garantie für den Entfaltungsraum von Religionen?

Mit den Beiträgen von Hans Joas, der dem moralischen Universalismus das Wort redet5 wie aber auch mit Klärungen über die inter-religiöse Bildung im Bereich der Menschenrechte6, wird in letzter Zeit deutlicher, wohin die Reise geht. Erst noch 2004 spielten sich Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger gegenseitig Bälle im Blick auf das Regelwerk der Menschenrechte zu. Ratzinger verdeutlichte damals: «Als letztes Element des Naturrechts, das in sich ein Vernunftrecht sein wollte, seien die Menschenrechte stehen geblieben. Womöglich müsse man sie ergänzen um eine Lehre von den Menschenpflichten und eine von den Grenzen des Menschen. Die Frage, ob es eine Vernunft der Natur gebe, müsse interkulturell betrachtet werden zwischen den christlichen, den islamischen, den indischen und chinesischen Traditionen.»7 Damit stehen die religiösen Traditionen in der Pflicht, sich der Frage nach den Menschenrechten zu stellen. Sie sind zum universellen Rechtsmassstab geworden.8 An ihnen weltweit teilhaben zu können, bleibt dauernde Herausforderung.

 

1 Vorliegender Beitrag entstand im Nachgang zur Tagung Menschenrechte und Religionen vom 2. 12. 2016 an der Universität Luzern, ausgerichtet durch deren Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht.

2 Jan Milic Lochmann: Menschenrechte – für Christen Mitmenschenrechte, in: Missionsjahrbuch 46 (1979), hrsg. von der MK DRL und dem SEMR, 114–116.

3 www.srf.ch/news/international vom 10. 12. 2016. «Besonders solid stehe dieser Pfeiler nicht mehr da. Man müsse ständig daran arbeiten, ihn zu stärken.»

4 Vgl. Studie von Walter Eigel: Entwicklung und Menschenrechte, Freiburg i. Ü. 1984 und die Broschüre Bd. 11 von Justitia et Pax: Entwicklung und Menschenrechte, Freiburg 1984.

5 Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

6 www.ebv-berlin.de/Band-32-Menschenrechte-und-inter-religioese-Bildung

7 Michael Rutz: Woher kommt die Moral? Ratzinger versus Habermas: Duell des Geistes, in: Rheinischer Merkur, 22. 1. 2004.

8 Die Menschenrechte als universeller Rechtsmassstab. Eine ideengeschichtliche Analyse von Manuel Probst, Arbeitspapier Nr. 2/2006 Universität Hamburg, IPW Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung. Vgl. www.wiso.uni-hamburg.de  


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)