Null Bock auf Menschenrechte?

Die öffentliche Meinung interessiert sich für Menschenrechte nur am Rande. Sie erscheinen irgendwie abgehoben – das gilt jedenfalls für unsere Breiten. So fand ich vor einiger Zeit in einer Zeitung einen Bericht über die Ergebnisse einer Jugendstudie unter dem Titel «Null Bock auf Demokratie». In der gleichen Nummer fand sich freilich auch das berührende Bekenntnis des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo, Träger des Friedensnobelpreises: «Mein Leben für die Menschenrechte». Er sitzt seit Jahren im Gefängnis.1

Es ist eine Diskrepanz, die nachdenklich macht. Sind für uns die Rechte, die wir haben, inzwischen so selbstverständlich, dass wir uns ihrer Bedeutung nicht mehr bewusst sind? Haben wir uns an Rechtsstaat, Demokratie und Verfassungsrechte so gewöhnt, dass sie uns uninteressant, weil sowieso vorhanden und gesichert, erscheinen? Eine derartige apolitische Einstellung wird freilich durch gegenwärtige Entwicklungen in Frage gestellt: steigende soziale Spannungen, offenes Eintreten für eine illiberale Demokratie auch in europäischen Ländern u. Ä. m. machen deutlich, wie sehr wir als Einzelne vom guten Zustand des Gemeinwesens abhängen und welch hohes, keineswegs selbstverständliches Gut ein geordneter demokratischer Staat darstellt. Sie zeigen auch, dass die von jeder Generation neu bekräftigt und errungen werden muss. Die Menschenrechte bilden gleichsam das Rückgrat eines derartigen Staates.

Sieht man sich die Welt als Ganzes an oder blickt man gar in die Geschichte, dann zeigt sich, dass eine auch nur halbwegs effektive Verwirklichung von Grundrechten die Ausnahme und nicht die Regel ist. Die Totalitarismen und autoritären Regime des 20. Jahrhunderts verweisen zudem darauf, dass auch Gesellschaften auf dem Weg zu Demokratisierung und rechtsstaatlicher Ordnung rasch in Barbarei zurückfallen können. Machtbegrenzung als eigentliches Ziel der Menschenrechte ist gerade auch unter modernen Bedingungen fragil. So verdankten nach Hannah Arendt die totalitären Regime ihren Aufstieg nicht zuletzt technischen Erfindungen, wie dem Radio, das es erstmals möglich machte, Politik in jede Privatwohnung zu tragen und so Menschen intensiv zu beeinflussen. Ohne neue Massenmedien, zu denen auch der Film gehörte, wäre der Nationalsozialismus nicht zur Macht gekommen.2 Dies stellt uns heute vor die neue Frage, was soziale Medien wie Facebook, Twitter u. ä. für die politische Ordnung und die Demokratie bedeuten.

Neues Staatsmodell wurde nötig

Es waren aber immer schon Erfahrungen von totaler und absolutistischer Herrschaft, die dem jahrhundertelangen Kampf um Rechte zugrunde lagen. Er begann bereits im Mittelalter und entfaltete nach den schrecklichen Gewalterfahrungen der Religionskriege des 15. bis 17. Jahrhunderts

und des Absolutismus, angetrieben durch den Humanismus der Aufklärung, eine neue politisch-revolutionäre Dynamik. Da es nicht mehr möglich war, den Staat auf eine Religion als Staatsreligion zu gründen, musste ein neues Staatsmodell erfunden werden, das ein friedliches Zusammenleben mehrerer Konfessionen und Religionen ermöglichte. Ebendies war der säkulare Staat, der an die Stelle der Religion als Basis eine Verfassung mit Grundrechten setzte. Er wurde in den Französischen und Amerikanischen Revolutionen (1776, 1789) politisch durchgesetzt. Diese Verfassungen inspirierten dann jene in anderen europäischen Ländern. Nach den Gräueln zweier Weltkriege sollte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948) die Grundlage eines internationalen Menschenrechtssystems werden. In ihrer Präambel heisst es, dass «die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt» bilden soll.3 Menschenrechte sollen eine Welt möglich machen, «in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not geniessen». Die weitere Völkerrechtsentwicklung hat auf dieser Basis ein weites Netz von Verträgen hervorgebracht, die die einzelnen Rechte genauer definieren, so u. A. Übereinkommen gegen Sklaverei, Rassismus, Folter, und für Asyl- und Frauenrechte.4 Die vom Europarat ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (1953), die inzwischen vielfältig weiterentwickelt wurde, verpflichtet die Staaten des Europarats über die allgemeinen völkerrechtlichen Normen hinaus, z. B. durch das Recht auf Individualbeschwerde.

Rechte unzähliger Menschen geschützt

Dieses beachtliche Gebäude von Menschenrechten schützt heute die Rechte unzähliger Menschen. Es funktioniert nicht perfekt, aber im Vergleich zu dem, was ohne derartige Rechte passiert, doch beachtlich. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es in einer unvollkommenen (theologisch: einer gefallenen) Welt immer auch Verletzungen von Menschenrechten geben wird. Die Bemühungen um Gerechtigkeit und hier auch um eine Verwirklichung der Menschenrechte werden daher nie ans Ende kommen. Dies gilt in Europa, aber auch weltweit. Verfehlt wäre es hier, den Universalitätsanspruch der Menschenrechte als neokolonialistisches Projekt abzulehnen. Denn Menschen wegen früherer Ungerechtigkeiten nicht in ihrem Streben nach Gerechtigkeit und besseren Rechtssysteme zu unterstützen, wäre offenkundig widersinnig. In anderen Worten: Das Unrecht des Kolonialismus sollte nicht instrumentalisiert werden, um die Menschenrechte als westlich zu diskreditieren. Dies geschieht auch meist nicht durch die einfachen Bürger, sondern durch autokratische Regierungen, egal, welcher ideologischen Ausrichtung, die sich jeder Form der Machtbegrenzung widersetzen. Die weltweite Unterstützung von Menschenrechtsgruppen stellt vielmehr gerade angesichts des westlichen Kolonialismus eine westliche Pflicht dar.

Kirchlicher Einsatz für Menschenrechte

Der Glaube daran, dass jeder/jede der geschätzten 7,5 Mrd. Menschen ein Ebenbild Gottes mit unverletzlicher Würde ist, sollte die wohl stärkste und umfassendste Motivation dafür sein, sich für seine/ihre Rechte einzusetzen. Der Weg zur Anerkennung der Menschenrechte durch die katholische Kirche war bekanntlich angesichts staatskirchlicher Traditionen, der Weigerung, die eigene Macht aufzugeben, aber auch der Verfolgungen durch die Französische Revolution lang. Er ist Teil einer Schuldgeschichte der Kirche, die eine Mahnung ist. Denn: Hätte nicht viel menschliches Leid in der Geschichte verhindert werden können, wären nicht weniger Menschen gefoltert, ermordet und versklavt worden, hätte sich die Kirche eher mit den Menschenrechten ausgesöhnt? Die nachholende Anerkennung erwies sich dabei bei den sozialen Menschenrechten (AEMR 22–27) als leichter als bei den Freiheitsrechten. Das galt insbesondere für das Recht auf Religionsfreiheit, das auf dem Zweiten Vatikanum mit der Erklärung über die Religionsfreiheit, Dignitatis humanae (1965), kirchliche Lehre wurde.5 Das Engagement der katholischen Kirche seither für das Recht auf Religionsfreiheit und andere Rechte, sei es im kommunistischen Osteuropa, vor allem in Polen, wie auch in Afrika und Asien ist – wiewohl medial wenig präsent – beachtlich und mutig. In vielen Ländern gibt es neben der Caritas Justitia et pax Büros, so z. B. in Kenia, die sich bis auf die Ebene der Pfarrei gegen moderne Formen der Sklaverei, für Religionsfreiheit, für Frauenrechte und soziale Rechte einsetzen. Die Kirche kann so in Kooperation mit anderen Organisationen und ökumenisch mit anderen Kirchen Leid verhindern oder vermindern.6 Es ist eine Grundverpflichtung des christlichen Glaubens, alle Menschen ohne Unterschied als von Gott mit Würde geschaffen zu schützen und zu fördern. An das Geheimnis Gottes zu glauben, ohne zugleich für Menschen in «Not und Furcht» (Präambel der AEMR), und das heisst für ihre Rechte einzutreten wäre halbiertes Christentum.

 

1 Eine Auswahl seiner Schriften findet sich in Liu Xiaobo, Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass. Ausgewählte Schriften und Gedichte, Frankfurt 2011. Er ist der Verfasser einer Menschenrechtserklärung chinesischer Dissidenten der Charta08, die inzwischen von mehr als 5000 chinesischen Intellektuellen und BürgerrechtsaktivistInnen unterzeichnet wurde, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_08 (abgerufen 26. 3. 2017).

2 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, 2. Aufl. 1986 (Original 1951), 546ff.

3 http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

4 Vgl. zur Grundlegung und den wichtigsten Dokumenten Michael-Lysander Fremuth, Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente, Bonn 2015; weiters Ulrich Fastenrath / Bruno Simma (Hg.), Menschenrechte, 6. Aufl. 2010.

5 Ausführlich in Karl Gabriel / Christian Spiess / Katja Winkler (Hg.), Religionsfreiheit und Pluralismus. Entwicklungslinien eines katholischen Lernprozesses, Paderborn 2010.

6 Zu den Menschenrechtspositionen im ökumenischen Diskurs vgl. Ingeborg Gabriel (Hg.), Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Ostfildern 2008.  

Ingeborg Gabriel | © Universität Wien

Ingeborg Gabriel

Mag. Dr. Ingeborg Gabriel ist Professorin für Sozialethik an der Universität Wien. Sie wurde im Januar 2017 als «Sonderbeauftragte» der OSZE im Kampf gegen Rassismus, Xenophobie und Diskriminierung, speziell Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Christen und anderen Religionen, ernannt.