Im Judentum, Christentum und im Islam wird die Gastfreundschaft mit Bezugnahme auf Abraham als vorbildlicher Gastgeber in Gen 18,1–33 zur Matrix der zwischenmenschlichen und Mensch-Gott-Beziehung: Wer dem Fremden vorbehaltlos begegnet und ihm Einkehr bei sich gewährt, hilft nicht nur dem konkreten Menschen, sondern macht zugleich auch eine Gotteserfahrung.1
Die Sprengkraft der Fremdlingsmetapher
Die Bibel bezieht die Thematik des gastfreundlichen Umgangs mit dem Fremden sowohl in eine theologische wie auch in eine anthropologische Reflexion ein. Es geht schlicht um die Frage, wer und wie Gott ist und wer und wie der Mensch ist. Der biblische Gott begegnet den Menschen als Fremder und in Fremden. Aus der Schilderung der Begegnung Abrahams mit den drei Fremden geht einerseits hervor, dass Gott sich dem Menschen als einer offenbart, der in unwirtlicher Gegend als Fremder unterwegs und auf gastfreundliche Aufnahme angewiesen ist. Andererseits fällt auf, dass Gott den Menschen in der Alltäglichkeit ihres Lebens begegnet: Seine Gotteserfahrung macht Abraham vor dem eigenen Zelt in der Mittagshitze der Wüste. In dieser theologischen Zuspitzung des Gottesbildes als wandernder Fremdling, der existenziell auf Gastfreundschaft angewiesen ist, offenbart sich zugleich der universale Charakter der biblischen Offenbarung Gottes. Die Fremdlingsschaft und die Weltgastlichkeit Gottes sprengen alle Partikular- interessen. Gott hört auf, eine Stammes- oder Nationalgottheit zu sein.
Im Verhältnis zu Gott, seinem Schöpfer, ist auch der Mensch ein Fremdling und Gast auf dieser Erde. Im biblischen Kontext stellen die Fremdlings- und die Gastmetapher die zentralen identitätsstiftenden Narrative der Israeliten dar, sei es als Einzelpersonen oder sei es als ganzes Volk.2 Die Erinnerung an die eigene Sklaven- und Fremdlingsvergangenheit in Ägypten und das befreiende Wirken Gottes werden für Israel zum Fundament der Regelung der Mensch-Gott- und Mensch-Mensch-Beziehung. Neben Jahwe sollen die Israeliten nämlich keine weiteren Götter haben (vgl. Ex 20,2), und sie werden dauerhaft ermahnt, als ehemalige Fremde in Ägypten die Fremden im eigenen Land zu lieben und wie Einheimische zu behandeln (vgl. Lev 19,34).
Der «zeltende» Gott des Neuen Testaments
Die Einbettung der alttestamentlichen Gastfreundschaft in das heilsgeschichtliche Gott-Mensch-Verhältnis einerseits und in die Beziehung von Menschen untereinander andererseits wird von der neutestamentlichen Schrifttradition fortgeführt. In der inkarnatorischen Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung erfährt sie jedoch nicht nur eine theologische Vertiefung, sondern auch eine neuartige Zuspitzung. Diese besteht darin, dass Gott in Jesus Christus selbst Mensch, Fremder und Gast wird. Das Johannesevangelium spricht in der wohl pointiertesten Form davon: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt» (Joh 1,14). Aufschlussreich ist hier, dass das Verb «eskenosen» wortwörtlich übersetzt «hat unter uns Zelt aufgeschlagen» heisst.
Jesus scheut sich nicht davor, die sozialen und religiös-kulturellen Konventionen seines Lebensumfeldes infrage zu stellen und auch zu brechen. Dies macht ihn zum Fremden sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in der eigenen Familie. Und als solcher ist er auf die gastfreundliche und helfende Aufnahme angewiesen. Dies bringt der Evangelist Matthäus bildhaft auf den Punkt: «Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann» (Mt 8,20).
Gastfreundschaft als Gotteserfahrung
Als jemand, der in seinem Wirken existenziell auf Gastfreundschaft angewiesen war, machte Jesus auch alle, die in seine Nachfolge traten, zu Fremdlingen und Gästen.3
In seinen Gleichnissen spielt entsprechend auch das Motiv der Gastfreundschaft eine zentrale Rolle, wie z.B. im Gleichnis vom Gottesmahl, zu dem gezielt Fremde und allerlei bedürftige Menschen von Gott selbst zur Tischgemeinschaft eingeladen werden (Lk 14,21–23). Vergleicht man dieses Gleichnis mit der alttestamentlichen Schilderung der Gastfreundschaft Abrahams, erkennt man die gleiche heilsgeschichtliche Stoss- richtung. Gastfreundschaft im Kontext der biblisch-theologischen Reflexion ist mehr als ein Akt der freiwilligen Barmherzigkeit oder eine nette Geste. Sie ist auch mehr als soziale Verantwortung. Die biblische Gastfreundschaft wird zum Medium der Gotteserfahrung und Gottesbegegnung – und in der Endkonsequenz zur religiösen Pflicht für alle, die in der Nachfolge Jesu stehen.
Diese Art religiöser Fundierung der Gastfreundschaft im biblischen Kontext hatte schliesslich auch praktische Konsequenzen für die Entwicklung des frühen Christentums. Sie wurde einerseits zur existenziellen Notwendigkeit für die Ausbreitung des Glaubens. Andererseits entfaltete diese aus existenzieller Not und Überlebensstrategie heraus praktizierte Gastfreundschaft auch grosse Ausstrahlungskraft in der damaligen antiken Umwelt des Christentums.
Von einer Tugend zur religiösen Pflicht
Auch in der schriftlichen Tradition des Islam wird Gastfreundschaft als eine zentrale Kategorie der zwischenmenschlichen Beziehungen theologisch reflektiert und schliesslich auch religiös institutionalisiert. Bereits in den altarabischen Kulturen galt es als Pflicht, den Durchreisenden zu beherbergen. Diese Praxis war der Tatsache geschuldet, dass gerade Reisende im besonderen Masse den lebensfeindlichen Bedingungen der Wüste ausgesetzt waren. Gastfreundschaft und Schutz als existenzielle Tugenden gehörten unter solchen Bedingungen eng zueinander.4
Infolge der Entstehung des Islam werden die altarabischen Tugenden der Gastfreundschaft gegenüber Fremden im Rahmen der sich formierenden muslimischen Gemeinschaft neu interpretiert und institutionalisiert. Wie eingangs erwähnt, finden sich auch im Islam bzw. im Koran direkte Bezüge auf Abraham als vorbildlichen Gastgeber.5 Und ähnlich wie in der Bibel erschöpft sich auch die Gastfreundschaft im Koran nicht einfach darin, gastfreundlich und grosszügig gegenüber dem Fremden und Reisenden zu sein. Die altarabische Tugend der Gastfreundschaft erhält im Kontext des Korans einen religiös verpflichtenden Charakter. Die Gläubigen werden in der Sure 4,36 ermahnt: «Und zu den Eltern (sollt ihr) gut sein, und ... zu dem, der unterwegs ist.»
Wie im biblischen Kontext muss auch die Verankerung der Gastfreundschaft als religiöse Pflicht im Koran zunächst im Kontext des prophetischen Werdegangs Muhammads und der Formierung seiner Anhängerschaft verortet werden. Als neu auftretender Prophet konnte Muhammad zunächst nur wenige Personen für seine Botschaft gewinnen. Entweder begegnete man ihm mit Desinteresse oder er erntete Spott.6 Den Höhepunkt der Entfremdung Muhammads markierte Muhammads Infragestellung des altarabischen Götterkultes im Heiligtum von Ka'ba als gottwidrige menschliche Erfindung.7 Dadurch verloren Muhammad und seine Anhängerschaft endgültig den für eine tribalistisch organisierte Gesellschaft lebensnotwendigen Stammesschutz, was sie schliesslich zur Migration zwang und von gastfreundlicher Aufnahme fremder Stämme abhängig machte.
Der Ausbruch aus den vertrauten Schutzstrukturen brachte für Muhammad und seine Anhänger automatisch die Notwendigkeit mit sich, als verfolgte Minderheit nach innen hin bedingungslose Solidarität und gegenseitige Unterstützung zu praktizieren. Durch ihre religiöse Fundierung wurde die Gastfreundschaft im Koran jedoch universaler gefasst. Sie soll auch gegenüber den Fremden praktiziert werden: «Und wenn einer von den Heiden dich um Schutz angeht, dann gewähre im Schutz, damit er das Wort Gottes hören kann! Hierauf lass ihn (unbehelligt) dahin gelangen, wo er in Sicherheit ist!» (Sure 9,6)
Gastfreundschaft wird zum Glaubensakt
Die islamische Konzeption der Gastfreundschaft ist zwar nicht – wie in der Bibel – eingebettet in die heilsgeschichtliche Metapher der Fremdlingsschaft und Weltgastlichkeit des mitwandernden Gottes. Das Konzept und die Praxis der Gastfreundschaft im Christentum und Islam gehen dennoch von gleichen theologisch-anthropologischen Voraussetzungen aus: Die Praxis der Gastfreundschaft wird zu einem Glaubensakt, in dem der Gast und der Gastgeber sich gemeinsam als von Gott umsorgte und von Gott beschenkte Geschöpfe erfahren. Und in der Tradition der abrahamitischen Gastfreundschaft bedient sich Gott sowohl im Christentum als auch im Islam des Fremden, um Wichtiges mitzuteilen. Im Zeitalter globaler Migrationsströme kann uns dies helfen, zu verstehen, dass der Fremde nicht als Bedrohung oder Problem wahrgenommen werden muss. Der gastfreundliche Umgang mit ihm kann vielmehr zu einer bereichernden Gottes- und Menschenerfahrung werden.
Samuel M. Behloul