Mehr als «Alle Jahre wieder» Predigen an Weihnachten

Weihnachten: Lukas 2, 1–20

Mit einer gewissen Vertrautheit hören die Menschen das Weihnachtsevangelium in der Liturgie. Manche wissen von den ersten Worten an, wie es mit der Erzählung von der Geburt Jesu weitergeht, und freuen sich am Hören einer vertrauten Geschichte. Andere verlieren vielleicht gerade deshalb das Interesse: Was kann die immer gleiche Geschichte aussagen? Bibelpastoral sollte es darum gehen, die vertrauten Texte nicht zur Festdekoration zu banalisieren. Für Lukas und seine Gemeinde ist die Erzählung weder gemütlich noch harmlos.

Weihnachten politisch

Die revidierte Einheitsübersetzung macht ein textgliederndes Element sichtbar, das die EÜ von 1980 noch übergeht: «Es geschah in jenen Tagen …» (2,1) – «Es geschah …» (2,6) – «Und es geschah …» (2,15). Eine rabbinische Regel besagt, dass die Wendung «Es geschah …» sowohl auf gute wie auch auf schlechte Ereignisse verweisen kann. Heisst es jedoch «Es geschah in jenen Tagen», kündigt das ein Unglück an. Lukas macht also deutlich, dass die Volkszählung des Augustus eine Katastrophe ist. Wenn sogar Hochschwangere ihr Zuhause verlassen müssen, um einem kaiserlichen «Dogma» (2,1) Folge zu leisten, entlarvt das die Unmenschlichkeit eines Systems, das schönfärberisch als «Pax Romana» bezeichnet wird.

Dabei tut es nichts zur Sache, dass Lukas die Szene etwas zurechtbiegt. Zeitpunkt, Umfang und Art der Volkszählung sind historisch unzuverlässig erzählt. Lukas geht es nicht um die korrekte Beschreibung einer römischen Steuerschätzung. Eine solche macht nur am Wohnort Sinn, wo allfälliges Vermögen, Landbesitz usw. zu registrieren wären. In Betlehem hat Josef aber weder Haus noch Land noch Familienangehörige, sonst wäre er mit Maria nicht in einer Tierunterkunft gelandet (2,7).

Mit seiner historisch «freihändigen» Erzählung spielt Lukas wohl auf die in der Bibel negativ beurteilte Volkszählung Davids an (2 Sam 24/1 Chr 21). Zugleich zeichnet er das Bild einer entwurzelten Bevölkerung, wie es heute Millionen von Menschen in Migration erleben. Zur Zeit des Evangelisten war Juden und Jüdinnen im Aufstand gegen Rom und bei den anschliessenden Deportationen als Kriegsgefangene, Sklavinnen und Sklaven Ähnliches widerfahren.

Die politische Dimension der Geburtserzählung hebt Lukas auch bei der guten Nachricht hervor, die der Engel und die himmlischen Scharen den Hirten verkünden. Die Ehrentitel Jesu und die Ansage einer Friedenszeit entsprechen den Lobeshymnen, die auf römische Kaiser gedichtet wurden. Deutlich zeigt dies eine Inschrift aus Priene (Westtürkei), die 9 v. Chr. aus Anlass des Geburtstages des Augustus verfasst wurde:

«Dieser Tag (…) hat der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Heil aufgestrahlt wäre (…) Wer richtig urteilt, wird in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens und der Lebenskräfte für sich erkennen. Es ist unmöglich, in gebührender Weise für so grosse Wohltaten zu danken, die dieser Tag uns gebracht hat. Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass er uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland (gr. sotér) gesandt ist. Jedem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich machen. In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt. Er hat nicht nur die früheren Wohltäter der Menschheit allsamt übertroffen, es ist unmöglich, dass je ein grösserer käme. Mit dem Geburtstag des Gottes beginnt für die Welt das Evangelium, das sich mit seinem Namen verbindet.»1

In der Erzählung von der Volkszählung desmaskiert Lukas also das römische Herrschaftssystem, und in der Engelsbotschaft beansprucht er die Titel des Kaisers für den jüdischen Messias. Wie müsste die Weihnachtsbotschaft heute verkündet werden, damit dieses politische und herrschaftskritische Evangelium in unserer «stillen, heiligen Nacht» wieder zum Klingen kommt?

Weihnachten jüdisch

Das Evangelium enthält zudem vielsagende Bezüge zum Ersten Testament. Lukas betont, dass Maria Jesus in Windeln wickelt. Das klingt nach selbstverständlichem Umgang mit einem Neugeborenen, ist in der Bibel aber ein äusserst seltenes Wort mit theologischer Tiefendimension: In Ez 16 verkündet der Prophet in gleichnishafter Sprache im Namen Gottes, dass Jerusalem/Israel bei seiner «Geburt» eben gerade nicht in Windeln gewickelt, sondern auf freiem Feld ausgesetzt und von JHWH selbst gerettet worden sei. Und der Futtertrog (ein weiteres seltenes Wort), in den Maria Jesus legt, ist aus ähnlichem Zusammenhang bekannt: Ochs und Esel kennen ihren Herrn, der ihnen den Futtertrog füllt, doch Israel – so Jesaja 1,3 – kenne seinen Herrn JHWH nicht.

Bei der Geburt Jesu vollzieht sich nach Lukas nun die Umkehr dieses Geschehens: Jesus, Sohn Israels, wird von allem Anfang an liebevoll umsorgt, die Beziehung zwischen JHWH und Israel damit vertieft. Und Betlehems Hirten, geradezu archetypische Vertreter Israels von Abraham über Mose bis zu David, kommen zur Krippe und erfüllen, was in Jes 1,3 noch gefehlt hatte.

So erklärt sich, warum der Engel den Hirten zwei scheinbar alltägliche Selbstverständlichkeiten als entscheidendes «Zeichen» (2,12) nennt: Im Lichte des Ersten Testaments offenbart sich in «Windeln» und «Krippe» lukanische Israel-Theologie. Die Hirten kommen nicht einfach, um ein Neugeborenes zu bestaunen. Sie wollen das Wort/Ereignis sehen, «das der Herr uns verkünden liess» (2,15) und verkünden es ihrerseits weiter (2,17). Offensichtlich haben sie die biblischen Anspielungen, die der Engel ihnen gegenüber gemacht hat, entschlüsselt. Und die politischen auch. Das Weihnachtsevangelium ist tiefgründige, politische Theologie: weit mehr als nur Festdekoration.

 

 

1 Etwas vereinfacht, stark gekürzt. Zitiert nach: E. Beck: Gottes Sohn kam in die Welt. Sachbuch zu den Weihnachtstexten, Stuttgart 1977, 42. Wissenschaftliche Publikation und Übersetzung vgl. Dittenberger: OGIS 458 und SEG 4,1929, Nr. 490, sowie Johannes Leipoldt / Walter Grundmann: Umwelt des Urchristentums. II: Texte zum neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 61982, Nr. 130, 105–107.

Zum Weiterlesen: Weihnachten. Theologie – Ursprünge, Welt u. Umwelt der Bibel Nr. 46 (Heft 4/2007). Erhältlich bei der Bibelpastoralen Arbeitsstelle unter


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.