Rousseau für die Jugendpastoral

An Jean-Jacques Rousseau, einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Aufklärung1, vorbeizugehen hiesse eine grosse Chance ungenutzt zu lassen. Manfred Kulla formuliert Impulse für eine Jugendpastoral.

Wer sich auf Rousseaus Denken einlässt, muss lernen, «mit Paradoxen zu arbeiten».2 Die Widersprüche in seinem Leben und Denken lassen sich nicht als Waffe gegen seine Erkenntnisse verwenden. Sie gehören zu seiner Person, «die Quelle seiner Erkenntnis»3 war. Seine «Erlebnisse, Leiden und Widersprüche bilden den Anlass seiner Werke, (…) die Wandlungen wollten und sollten seine Lehre bezeugen»4 und sind in seine Gestalten eingegangen. Rousseau bleibt der Autodidakt ohne akademische Ausbildung, der trotzdem zwei Preisschriften verfasst hat und die Gründung ganzer akademischer Schulen auslöste. Er bleibt der Begründer einer modernen Pädagogik, obwohl er seine Kinder zu Adoption freigab.

Sein Erziehungsroman «Emile oder Über die Erziehung»5 ist Ausgangspunkt folgender Impulse für eine Jugendpastoral, die die «Andersheit»6 von Kindern und Jugendlichen anerkennt, ohne der Gefahr der Pädagogisierung zu erliegen. Wichtig ist diese Andersheit als Impuls für einen respektvollen Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

«Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.»7 Mit dieser Provokation beginnt Rousseau sein Werk. Er sieht den Menschen, wie er ein Land zwingt, «die Produkte eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen», wie er die Klimata «vermischt und vermengt», «seine Hand, sein Pferd, seinen Sklaven» verstümmelt. Nicht einmal den Menschen «will er so, wie es die Natur gebildet hat … man muss ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten …». Gemeint ist hier kein biologistischer Gegensatz zwischen «Natur und Kultur»8, vielmehr Akzeptanz der Persönlichkeit von Kindern. Manipulation kann nicht Ziel von verantwortungsvoller Erziehung sein, da Kinder «nicht Schulpferde» sind, die abgerichtet werden. Mit Reinhard Aulke9 gesagt: Das Individuum soll so erzogen werden, dass es für sich selbst erzogen wird.

Aktuelle Forderung

In einer Studie befragte Karin Schwiter junge Erwachsene in der Schweiz über ihre Zukunftspläne.10 Diese antworteten mit Blick auf die zukünftige Erziehung ihrer Kinder, es ginge ihnen um die Prägung der Kinder in ihrem eigenen Sinne: «Ich möchte nicht, dass sie jemand anders erzieht. Ich möchte die erziehen. Nach meinen Vorstellungen.»11 Nach Schwiter herrscht hier die Vorstellung vor, das Kind sei ein Objekt, dem ein Stempel aufzudrücken sei. Das Kind werde als Projekt betrachtet, welches nach den eigenen Idealen geformt werden müsse.

Folglich darf Jugendpastoral nicht der Gefahr erliegen, die eigenen Prämissen über das Wohl des Jugendlichen zu stellen, sondern sollte das Ziel verfolgen, die Selbstständigkeit des Individuums zu ermöglichen. Besonders religiöse Bildung muss sich eine gesunde Selbstkritik bewahren und nach verborgenen Mechanismen der Beeinflussung suchen. Rousseau selbst erliegt der Gefahr der subtilen Beeinflussung12, als er der erziehenden Person rät, letztlich alle Fäden in der Hand zu behalten und dem Kind das Gefühl zu vermitteln, es würde selbstständig entscheiden, obwohl es genau nach den Vorstellungen der erziehenden Person handelt: «Schlage deinem Zögling den entgegengesetzten Weg ein; möge er immer glauben, der Herr zu sein, wenn du es stets in der Tat bist. Keine andere Unterwürfigkeit ist so vollkommen als diejenige, welche den Schein der Freiheit bewahrt (…)».13

«Im Naturzustand gibt es in der Tat eine wirkliche und unzerstörbare Gleichheit …» Rousseau sieht einen wichtigen Aspekt, der durch eine Jugendpastoral zu berücksichtigen ist. Begegnung kann gelingen, wenn die Gleichheit der sich begegnenden Menschen berücksichtigt wird. Nur eine Begegnung auf Augenhöhe ist letztlich für die Beteiligten zufrieden stellend. Asymmetrische Situationen sind auf die Dauer zu vermeiden und symmetrische anzustreben.14 Die Diskussion über den Stellenwert des Jugendkatechismus «youcat» in der Bildungsarbeit zeigt die Tendenz, eine asymmetrische Situation zu favorisieren. Es wird in Kauf genommen, dem überkommenen Katechese-Verständnis und damit dem Vorwurf der Indoktrination zu verfallen. Carola Fleck hält stattdessen zu Recht fest, dass es auch in Zukunft erinnerungswürdiger Beziehungen bedarf, aus denen eine tragfähige Lebensgestaltung Einzelner und der Gemeinschaft erwachsen kann.15

Darüber hinaus muss Jugendpastoral über die Rollenbilder reflektieren. Dies droht durch die innerkirchliche Kritik an der Gender-Theorie in den Hintergrund zu geraten.16 Die Gender-Theorie war zwar Ausgangspunkt für die Formulierung extremer Forderungen. Dennoch darf aus Angst vor Missbrauch eine soziologische Theorie als Ganze nicht mit Bausch und Bogen abgelehnt werden. Die Bekämpfung einer Theorie verhindert die Formulierung einer eigenen Position.17 Hierfür ist eine Schöpfungstheologie hilfreich, die davon ausgeht, dass Gott Mann und Frau als gleichwertige Individuen geschaffen hat, deren Rollenbilder nicht schon schöpfungsbedingt vorgegeben sind. Im Lichte der paulinischen Theologie, die die Egalität des Menschen proklamiert, erscheint jede vorschnelle Rollenfestlegung als Fehlinterpretation18: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (Gal 3,28).

Jugendpastoral hat zur Entwicklung der Persönlichkeit junger Männer und Frauen beizutragen, indem sie deren Eigenart berücksichtigt, aber keinen Druck ausübt, um bestimmte Rollenbilder zu übernehmen.19 So wie es Rousseau tut, auch wenn er zu sehr den damals gesellschaftlich sanktionierten Rollenbildern verhaftet bleibt: «Nie wird ein Knabe aus eigenem Antrieb das Gewerbe eines Schneiders ergreifen. Man muss alle Kunst aufbringen, um das Geschlecht, welches die Natur nicht zu dieser Frauenarbeit bestimmt hat, zur Wahl derselben zu bewegen».20

Resümee

Die Beschäftigung mit dem Werk Rousseaus ist nicht nur für Philosophen und Pädagogen befruchtend, sondern auch für Theologen. Seine Aussagen für die heutige Zeit fruchtbar zu machen, hängt von zwei Grundprämissen ab. Zum einen bleiben die Aussagen Rousseaus letztlich seinem Zeitkolorit verhaftet und Widersprüchlichkeiten lassen sich nicht endgültig auflösen. Zum anderen bleiben unsere Schlussfolgerungen ebenso situationsgebunden. Dennoch lässt sich sagen, dass das Werk Jean-Jacques Rousseaus viele Schätze birgt, die darauf warten, von der Theologie und besonders der Jugendpastoral gehoben zu werden.

 

1 Vgl. Johannes Saltzwedel (Hrsg.): Die Aufklärung: Das Drama der Vernunft vom 18. Jahrhundert bis heute, München 2017 u. Otfried Höffe (Hrsg.): Im Namen der Aufklärung, Tübingen 2011.

2 Michel Seotard: Jean-Jacques Rousseau, München 2012, 7.

3 Hartmut von Hentig: Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit, München 2003, 19.

4 Ebd.

5 Vgl. Ausgabe von Hermann Denhardt, Köln 2010.

6 Vgl. Ludwig Liegle: Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit, Stuttgart 2006, 11 f.

7 Hier u. folgend Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, 13.

8 Alfred Treml: Die Natur der Kultur, in: Klaus Galgenmann / Peter Mersch / Alfred Treml (Hrsg.): Kulturelle Vererbung. Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht, Norderstedt 2010, 11–26, 11.

9 Vgl. Reinhard Aulke: Grundprobleme moralischer Erziehung in der Moderne, Leipzig 2000, 84.

10 Vgl. Karin Schwiter: Lebensentwürfe. Junge Erwachsene im Spannungsfeld zwischen Individualität und Geschlechternormen, Frankfurt 2011, 161–168. Dazu Manfred Kulla: Lebensentwürfe junger Erwachsener, in: Junge Kirche 46 (2012) 10 f.

11 Hier u. folgend Schwiter aaO. 164.

12 Kritik von Erna Johansen: Betrogene Kinder. Eine Sozialgeschichte der Kindheit, Frankfurt 1978, 128 f.

13 Rousseau (Anm. 7) 190 und 436.

14 Manfred Kulla: Den Einzelnen im Blick, Luzern/Stuttgart 2014, 40–56, 55 f.

15 Vgl. Carola Fleck: Katechese in Geschichte und Gegenwart, in: Angela Kaupp, Stephan Leimgruber, Monika Scheidler (Hrsg.): Handbuch der Katechese, Freiburg 201I, 37.

16 Benedikt XVI.: Distanzierung in der Rede vor dem päpstlichen Rat «Cor Unun» (19. Januar 2013). Franziskus I. Wiederholung in Amoris laetitia, 56.

17 Zur Diskussion der Gender-Theorie vgl. Lukas Brühwiler-Frésey: Gender – ein aufwühlendes Virus, in SKZ 182 (2014) Nr. 7–8 u. Monika Jakobs: Gender und andere schwierige Wörter, eine Begriffsklärung, ebd.

18 Vgl. Ulrike Wagener: (Un-)Ordnung im Haushalt Gottes? Wie Schüler des Paulus die Freiheit ihrer Glaubensschwestern bekämpfen, in: Bibel und Kirche, 65 (2010) 223–227.

19 Zur Gleichstellung der Geschlechter als Ziel des Vatikanums II siehe Adrian Loretan: Das Konzil verlangt Gleichstellung der Geschlechter, in: SKZ 185 (2017) 540–541.

20 Jean-Jacques Rousseu: Emile oder Über die Erziehung, 359.


Manfred Kulla

Dr. theol. Manfred Kulla, (Jg. 1960) ist Diakon in Zürich-Oerlikon. Er studierte Theologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften. Seit 30 Jahren ist er als Seelsorger, Religionslehrer, Dozent und Erwachsenenbildner tätig.