Medial viel beachtet, in der Praxis relativ selten

Kranke Menschen wählen den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) oder den freiwilligen Verzicht auf Nahrung (FVN) als Weg, um ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Über das sogenannte Sterbefasten sprach die SKZ mit Jan Gärtner.

PD Dr. med. Jan Gärtner ist seit Abschluss seiner Ausbildung zum Anästhesisten und Schmerztherapeuten in der spezialisierten Palliative-Care tätig. Ein Schwerpunkt seiner klinischen und wissenschaftlichen Arbeit liegt auf der Beachtung von Palliative-Care- Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten schon möglichst früh in der Erkrankung. Er hat zahlreiche Fachartikel in internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht und entsprechende Forschungsprojekte betreut. Seit 2017 ist er Chefarzt des Palliativzentrums Hildegard in Basel.

 

SKZ: Sie sind Chefarzt am Palliativzentrum Hildegard in Basel. Inwieweit werden Sie von Seiten der Patientinnen und Patienten mit dem Wunsch konfrontiert, mit einem freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit aus dem Leben zu scheiden?
Jan Gärtner: Gemessen an der grossen medialen Aufmerksamkeit, die dem Thema in den letzten Jahren gewidmet wurde, wird verhältnismässig selten danach gefragt. Aber es kommt immer wieder vor, dass Patientinnen und Patienten das Thema ansprechen. Im Laufe einer schweren, unheilbaren Erkrankung, insbesondere bei ausgeprägter Symptomlast (z. B. Schmerzen oder Luftnot) entsteht nicht selten ein Todeswunsch. Dieser verflüchtigt sich aber auch oft, wenn die Symptome gelindert sind, den Leidenden wieder eine Perspektive aufgezeigt werden kann und sie sich als Mensch gesehen fühlen. Ausserdem erleben sich viele der betroffenen Menschen ausgesprochen ambivalent: Einerseits äussern sie einen grossen Todeswunsch, andererseits hängen sie sehr an ihrem Leben, auch wenn es ganz anders und auch belasteter ist, als sie es von früher kennen.

Sind die Ziele und Leitlinien von Palliative Care mit dem Sterbefasten vereinbar?
Palliative Care möchte Leid – beispielsweise durch belastende Symptome wie Schmerzen – lindern, dabei bejaht Palliative Care das Leben und versteht den Tod als Teil des Lebens. Das ist ein fast wörtliches Zitat aus der Definition der Weltgesundheitsbehörde. Es trifft die Dinge ganz gut. Ziel des Sterbefastens ist eine gezielte Verkürzung des eigenen Lebens. Von daher fällt es nicht in den direkten Aufgabenbereich der Palliative Care. Man könnte sagen, dass es nicht zu unserem Auftragsportfolio gehört. Indem wir nach Kräften versuchen, Leid zu lindern, möchten wir gerne unseren Teil dazu beitragen, dass die Patientinnen und Patienten ihr Leben wieder als wertvoll und lebenswert erachten. Klar ist aber auch, dass wir den Wunsch unserer Patientinnen und Patienten nicht als etwas moralisch Schlechtes verstehen, schliesslich ist er vor dem Hintergrund dessen, was sie erlebt haben, oft auch nachvollziehbar. Und wenn ein Mensch nicht mehr essen und trinken will, dann haben wir das auch zu akzeptieren. Wir müssen und wollen ihn oder sie weiterhin mitfühlend begleiten.

Wann ist von Sterbefasten zu sprechen und wann handelt es sich um ein normales Ess- und Trinkverhalten in der terminalen Phase?
Das ist ein absolut kritischer, entscheidender Punkt in der aktuellen Diskussion. Hier besteht ein grosses und häufiges Missverständnis. Wichtig ist, zu verstehen, dass der normale Sterbeprozess praktisch immer damit einhergeht, dass der betroffene Mensch nicht mehr essen kann und auch nicht will. Es würde auch nichts nützen, da der Körper ab einem gewissen Stadium die Nährstoffe gar nicht mehr verwerten kann. Die betroffene Person lebt nicht länger, wenn wir sie hier zum Essen anhalten oder ihr gar künstlich Ernährung zuführen. Das ist nicht angemessen und nicht hilfreich. Das sog. Sterbefasten allerdings ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Darin steckt, dass man verzichten muss. Das trifft für den allergrössten Teil der Sterbenden nicht zu, sondern es ist der normale Weg, der sich von allein ergibt. Lediglich wenn die betroffene Person aktiv versucht, entgegen den eigenen, grundlegenden Bedürfnissen und Signalen des Körpers auf Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, ist von FVNF oder Sterbefasten zu sprechen.

Gibt es Zahlen, wie viele Menschen pro Jahr mit FVNF oder FVN in der Schweiz aus dem Leben scheiden?
Um einen Anhalt zu geben, kann man sagen, dass von den etwa 450 Patienten, die wir letztes Jahr begleitet haben, nur zwei, maximal drei diesen Weg gewählt haben. Und dies, obwohl die Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, ja besonders schwer von Symptomen und Leid betroffen sind. Allerdings werden auch Zahlen kolportiert, die viel höher liegen als diese Realität. Grund dafür ist das Missverständnis, das ich in der letzten Frage zu erklären versucht habe.

Wer scheidet aus welchen Gründen mit Sterbefasten aus dem Leben?
Meiner Erfahrung nach leiden viele dieser Menschen sehr darunter, dass sie ihre Unabhängigkeit verlieren. Es fällt ihnen sehr schwer, von anderen abhängig zu sein. Häufig berichten sie auch von dem Gefühl, ihr Leben sei wertlos, da sie nicht mehr das «leisten» könnten wie früher. Das finde ich persönlich dann sehr schade.

Für die Befürwortenden ermöglicht das Sterbefasten einen natürlichen Sterbeprozess. Wie natürlich ist Sterbefasten?
Ich habe versucht, es weiter oben zu erklären, möchte es aber gerne nochmals anders verdeutlichen, da der Punkt so wichtig ist. Wenn sich ein Mensch in den letzten Tagen, Wochen, manchmal Monaten des Lebens befindet, dann verspürt er wenig oder keinen Hunger oder Durst mehr. Das ist der ganz natürliche Weg des Sterbens. Beim FVNF aber muss man gegen die intensivsten und grundlegendsten Bedürfnisse des eigenen Körpers aktiv ankämpfen. Die Menschen zwingen sich, trotz starkem Durst und Hunger, keine Flüssigkeit oder Nahrung zu sich zu nehmen. Dies als «natürlich» zu bezeichnen finden viele Expertinnen und Experten schwierig.

Fasten ist in unserer Gesellschaft positiv konnotiert. Welchen Einfluss hat dies auf die Befürwortenden und die Einzelnen, die sich für diesen Schritt entscheiden?
Ja, es wird immer kolportiert, dass Fasten aufgrund des Bezugs zur Gesundheit und zu spirituellen Praktiken positive Assoziationen weckt. Häufig hört man, dass dies dazu beitrage, dass FVNF verklärt wird. Ich persönlich glaube, dass dies nicht der entscheidende Punkt ist. Ausschlaggebend ist aus meiner Sicht eher, dass FVNF für manche die ultimative Form der Selbstbestimmtheit darstellt. Ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, «sein Ding zu machen», in jeder Lebenslage die Kontrolle zu haben. Dies alles hat in unserer modernen Gesellschaft einen immer höheren Stellenwert. Möglichst selbstbestimmte Lebensläufe sind hoch angesehen. Dieses Selbstgefühl möchten sich manche Menschen bis zum Schlusserhalten, es ist manchen mehr wert als das Leben an sich.

Wie verläuft der Sterbeprozess beim freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit bzw. beim Verzicht nur auf Nahrung?
Wenn man auch auf Flüssigkeit verzichtet, tritt der Tod schneller ein. Aber der Verzicht auf Flüssigkeit ist häufig belastender und mit einem Delir verbunden. Durst ist schwerer zu ertragen als Hunger.

Worin besteht die ärztliche und pflegerische Betreuung und Begleitung?
In erster Linie in einer Grundhaltung von Respekt und liebevoller Zuwendung, wie bei allen anderen Patientinnen und Patienten. Keinesfalls sollten Versuche unternommen werden, die sterbefastende Person zum Essen zu überreden oder gar Speisen und Getränke ins Zimmer zu stellen, wenn das von ihr nicht gewünscht ist. Man kann versuchen, mit wenigen Tropfen Flüssigkeit und anderen Hausmitteln die Mundschleimhaut feucht zu halten. Nicht selten werden die Patientinnen und Patienten aber auch delirant, haben Halluzinationen, sind agitiert und ängstlich. Hier muss man mit Medikamenten helfen.

Vor welche Herausforderungen stellt das Sterbefasten die Angehörigen?
Das ist ganz unterschiedlich. Manchen ist es gegeben, einfach nur liebevoll und begleitend Abschied nehmen zu können. Andere tragen Gefühle von Schuld und Verzweiflung mit sich, manche können die Situation schier nicht aushalten.

Wo machen Sie offene Fragen in den Bereichen Medizin, Pflege, Ethik und Recht aus, die dringend zu klären sind? Gibt es Handlungs- und Diskussionsbedarf, auch gesellschaftlich?
Wir sind dankbar für die jüngst von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) herausgegebenen medizin-ethischen Richtlinien zu Sterben und Tod.1 Hier wurden sehr wichtige Leitplanken gesetzt. Das ist die fachliche Seite. Bezogen auf die grosse mediale Aufmerksamkeit finde ich es wie oben erwähnt absolut wichtig, dass der normale Sterbeprozess, bei dem der Mensch weder Hunger noch Durst verspürt, nicht als Sterbefasten fehlinterpretiert wird. Und einen ganz wichtigen Punkt haben wir bisher noch gar nicht besprochen: Viele Menschen erleben unsere hochtechnisierte Spitzenmedizin als unmenschlich. Sie möchten nicht, dass bis zur letzten Minute versucht wird, ihr Leben mit Maschinen oder belastenden Therapien unnatürlich zu verlängern. Hier ist leider viel Vertrauen in die Menschlichkeit der Medizin und der Ärztinnen und Ärzte abhandengekommen. Viele Menschen haben daher verständlicherweise Angst, am Lebensende in einem Medizin-Apparat gefangen zu sein, der primär Technik, Laborwerte und Computertomografiebilder beachtet. Wir müssen also noch stärker eine menschenfreundliche Medizin fördern, die nicht das technisch Machbare, sondern das für die jeweilige kranke Person Sinnvolle und Gewünschte in den Vordergrund stellt.

Interview: Maria Hässig