Seit langer Zeit wird Maria, die Mutter Jesu, als Gottesgebärerin verehrt. Für Gläubige mit protestantischem Hintergrund ist dies häufig unerträglich. Wie kann ein endlicher Mensch den unendlichen Gott gebären? Die intuitive Antwort: gar nicht! Dass das Geschöpf seinen Schöpfer gebiert, scheint eher zum antiken Aberglauben zu gehören als zur Glaubensverkündigung. Und dennoch findet sich der Glaube an Maria als Gottesgebärerin unter den gemeinsamen dogmatischen Grundaussagen des Christentums und wird zumindest in katholischer und orthodoxer Tradition gewahrt.
Maria als Gottesgebärerin?
Fragen und Zweifel an Maria als Gottesgebärerin sind nicht neu. Sie waren bereits im 5. Jh. virulent, als Bischof Nestorius in seiner Kirche in Antiochien diesen Streit vorfand. Die einen wollen Maria als Gottesgebärerin verehren, die anderen nur als Menschengebärerin verstanden wissen.1 Als Lösung schlug Nestorius vor, Maria Christusgebärerin zu nennen: «Nicht [...] gebar Maria Gott – was nämlich aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch –, nicht gebar das Geschöpf den, der nicht erschaffen werden kann, sondern sie gebar den Menschen, der das Werkzeug der Gottheit war.»2 Weil ein Mensch nicht Gott selbst gebären kann, sei Christusgebärerin der angemessenste Ausdruck.
Dagegen wehrte sich bald ein anderer Bischof, Kyrill von Alexandrien, der darin eine Abschwächung der Heilsbotschaft Gottes in und durch Jesus Christus sah. In seinem dritten Brief an Nestorius hängt er deshalb zwölf Verurteilungssätze an, von denen der erste die Gottesgebärerin klar herausstellt: «Wer nicht bekennt, dass der Emmanuel wahrhaftig Gott und deshalb die heilige Jungfrau Gottesgebärerin ist (denn sie hat das Wort, das aus Gott ist und Fleisch wurde, dem Fleisch nach geboren), der sei mit dem Anathema belegt.»3 Wenn Jesus wahrhaft Gott ist, muss auch jene, die ihn geboren hat, Gottesgebärerin genannt werden. Dieser Streit wird zugunsten von Kyrill auf dem Konzil in Ephesus entschieden, das jedoch nicht – wie fälschlicherweise immer wieder behauptet – den Titel der Gottesgebärerin für Maria verkündet. In Ephesus wurden der zweite Brief von Kyrill an Nestorius und dessen Antwort verlesen und auf die Übereinstimmung mit dem Glaubenssymbol von Nizäa überprüft; dabei wurde der Brief von Kyrill als übereinstimmend befunden, der von Nestorius jedoch nicht.4 Der eigentliche Akt der Entscheidung ist die Verurteilung des Nestorius: «Unser von ihm gelästerter Herr Jesus Christus legte also durch das gegenwärtige heiligste Konzil fest, dass derselbe Nestorius sowohl von der Bischofswürde als auch von jeder priesterlichen Versammlung ausgeschlossen ist.»5 Damit ist Marias Titel als Gottesgebärerin formal bestätigt, jedoch nicht inhaltlich – geschweige denn feierlich – definiert. Diese Definition folgt erst auf dem Konzil von Chalcedon.6
Eine Frage der Christologie
Genau betrachtet geht es zunächst nicht um eine Frage nach Maria, sondern um eine Frage nach Jesus Christus: Wer ist der, den Maria geboren hat? Ist dieser Jesus der Sohn Gottes, d. h. ist der fleischgewordene Sohn Gottes gemäss Nizäa wesensgleich (homoousios) mit dem Vater, dann muss auch Maria als Gottesgebärerin verehrt werden – nicht, weil Maria aus sich selbst besondere Ehre zukommt, sondern weil Gott diese Maria zu seinem eschatologischen Heilswirken auserwählt hat. Es gibt viele Propheten, die Gottes Wort verkündet haben, aber es gibt nur eine einzige Frau, die Gottes Wort leibhaft zur Welt gebracht hat. Deshalb wurde Maria als Gottesgebärerin verehrt, und insofern Jesus Christus als der mit dem Vater wesensgleiche Gottessohn angebetet werden soll, muss sie auch als Gottesgebärerin verkündet werden.
Im Gebrauch des Titels der Gottesgebärerin für Maria zeigt sich die zugrunde liegende Christologie. Ist Jesus lediglich ein Wundertäter und Wortgottesprediger bzw. «nur» ein Prophet, darf Maria nur Menschengebärerin genannt werden, denn sie hat «nur» einen Menschen geboren. Ist Jesus darüber hinaus der Christus, d. h. wird Jesus als der Gesalbte Israels verstanden, kann Maria auch Christusgebärerin genannt werden. Aber auch dies reicht nicht aus, weil Christussein noch nicht aus sich Gottsein mitaussagt. Erst wenn Maria als Gottesgebärerin verkündet wird, ist das ausgesagt, was im Konzil von Nizäa verkündet wurde: Dieser Mensch Jesus, der die Menschheit in Kreuz und Tod erlöst hat, ist der mit dem Vater wesenseine Sohn Gottes. Nicht die Tat eines «blossen» Menschen, sondern die Tat des einen Gottmenschen hat die Menschheit erlöst. Soll das Heil durch den Menschen Jesus Christus etwas besagen, muss dieser als Gott angebetet und Maria als Gottesgebärerin verkündet werden. An Maria als Gottesgebärerin wird sichtbar, dass Heil kein rein göttliches, sondern ein gottmenschliches Geschehen ist. Alles Heil ist von Gott und von Gott allein. Es geht jedoch nicht an der Menschheit vorbei oder einfach durch sie hindurch, sondern Gott geht in die Menschheit ein: Maria hat Gott geboren.
Maria als Gottesgebärerin kann nur dann als Aberglaube abgetan werden, wenn auch die christliche Hoffnung auf Erlösung durch Jesus Christus als Aberglauben verworfen wird. Es geht bei der Gottesgebärerin um die Grundaussage des christlichen Glaubens überhaupt, d. h. um den Glauben an die von Gott gewirkte Erlösung in und durch Jesus Christus. Inmitten dieses eschatologischen Heilswirken Gottes steht die Gottesgebärerin und empfängt das göttliche Heil, um es durch Geburt in die Welt zu bringen. So wird im Glauben an Jesus Christus die Gottesgebärerin zur christlichen Hoffnung: Gott ist als unser Heil bereits in die Welt eingegangen. Was für Maria auf einzigartige und urbildliche Weise gilt, wird zur Berufung jedes glaubenden Menschen. Der Dichter Angelus Silesius (1624–1677) hat es einprägsam formuliert: «Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.» Maria als Gottesgebärerin ist damit das personale Hoffnungssymbol für Gottes Liebe zur Menschheit, der kein namenloses Kollektiv anspricht, sondern alle in diese Liebesbeziehung einbeziehen will: Gott ist Mensch geworden, Maria hat Gott geboren und wir sind aufgerufen, im Glauben in diese Hoffnung einzutreten, um sie in der Liebe wirksam werden zu lassen.
Dario Colombo