«Maria ist immer bezogen auf Christus»

Die Mariologie ist ein Traktat, das an den Theologischen Fakultäten eher selten gelesen wird. Zu Unrecht, wie Manfred Hauke im Gespräch mit der SKZ anmerkt.

Prof. Dr. Manfred Hauke ist Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät von Lugano und derzeit Direktor der «Rivista Teologiac di Lugano», die in mehreren Sprachen erscheint.

 

SKZ: Die Mariologie führt eher ein Schattendasein. Woran liegt das?
Manfred Hauke: Die Gestalt Marias als jungfräulicher Mutter gehört wesentlich zum Glauben an die Menschwerdung Gottes. Von daher wird sie seit den ältesten Zeiten im Glaubensbekenntnis bei der Taufe («geboren aus der Jungfrau Maria») und im eucharistischen Hochgebet erwähnt. Maria ist immer schon bezogen auf Christus und die göttliche Dreifaltigkeit, aber gleichzeitig ist sie das Urbild der Kirche, die sich Gott gegenüber öffnet, und steht an der Spitze der Heiligen, die für uns im Himmel eintreten. Da Maria in der «Hierarchie der Wahrheiten» einen wichtigen Rang einnimmt, sollte auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr kein «Schattendasein» einnehmen. Die mangelhafte Berücksichtigung der Mariologie im deutschen Sprachraum hängt mit einem Missverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils zusammen: Da es Maria im Schlusskapitel der Dogmatischen Konstitution über die Kirche vorstellt und ihr kein eigenes Dokument widmet, meinten viele Theologen, die Mariologie sei nur ein Nebenthema der Lehre von der Kirche. Ein weiterer Grund ist die Rücksichtnahme auf die evangelischen Christinnen und Christen, bei denen Maria eine geringere Rolle spielt. Papst Paul VI. verstand freilich das Marienkapitel des Zweiten Vatikanums als Höhepunkt der Dogmatischen Konstitution über die Kirche. Es trägt ausserdem den Titel «Die selige jungfräuliche Gottesmutter Maria im Geheimnis Christi und der Kirche». Maria verdient darum eine Aufmerksamkeit auch in sich, nicht nur in Beziehung zur Kirche, sondern ebenso in ihrem inneren Bezug zu Christus. Die Konstitution über die Kirche endet mit dem Aufruf, alle Christgläubigen mögen Maria anrufen, damit «alle Völkerfamilien […] zum einen Gottesvolk versammelt werden» (LG 69).

Im Verlauf der Geschichte wurde die Mariologie unter christologischen, ekklesiologischen, anthropologischen, eschatologischen und trinitarisch-christozentrischen Aspekten betrachtet, heute wird sie der Gnadenlehre zugeordnet. Wo hat sie Ihrer Meinung nach ihren Platz?
Nach dem Zweiten Vatikanum vereinigt Maria, «da sie zuinnerst in die Heilsgeschichte eingegangen ist, gewissermassen die grössten Glaubensgeheimnisse in sich und strahlt sie wider» (LG 65). Sie tritt darum in Beziehung zu allen genannten Aspekten. Im Zentrum steht freilich ihre Verbindung mit Christus und dadurch mit dem dreifaltigen Gott. Das Marienkapitel von «Lumen Gentium» stellt Maria vor allem in das «Geheimnis Christi und der Kirche». Als «neue Eva» hat sie die Berufung empfangen, dem «neuen Adam» den Weg zu bereiten, wie schon die Kirchenväter Justin und Irenäus hervorheben. Gerade mit ihren besonderen Gaben als Frau ist sie in der Heilsgeschichte Urbild der Kirche, für deren Glieder sie auch als geistliche Mutter Verantwortung trägt. Am 25. März 1988, während des vom heiligen Papst Johannes Paul II. ausgerufenen Marianischen Jahres, veröffentlichte die Kongregation für die Bildungslehre ein noch heute höchst aktuelles Rundschreiben unter dem Titel «Die Jungfrau Maria in der intellektuellen und geistlichen Bildung». Das Schreiben betont, dass es angesichts der Bedeutung Marias in der Heilsgeschichte «undenkbar» wäre, die Lehre der Mariologie zu vernachlässigen. Sie muss «den richtigen Platz in Seminaren und theologischen Fakultäten erhalten». Diese Lehre besteht aus einer «systematischen Behandlung», die drei Kennzeichen hat: «organisch, d. h. ordnungsgemäss in den theologischen Lehrplan eingefügt»; «vollständig» und als «Antwort für die die verschiedenen Arten von Institutionen» (Nr. 27–28)1. Für theologische Fakultäten ist es von daher mindestens sehr naheliegend, die Mariologie im Vollstudium als eigenständigen Pflichtkurs anzubieten. Diesem Erfordernis entspricht beispielsweise die achtbändige Katholische Dogmatik von Scheffczyk und Ziegenaus, welche die Mariologie als fünften Band vorstellt, nach der Christologie und vor der Gnadenlehre und Ekklesiologie.

Maria wird immer wieder vereinnahmt, aktuell durch Maria 2.0 oder durch die feministische Theologie. Wäre da eine Aufwertung der Mariologie nicht sinnvoll?
Die erwähnten Strömungen trennen Maria vom Glauben der Kirche und haben, wenn ich recht sehe, kein spürbares Interesse, sie als unsere in den Himmel aufgenommene geistliche Mutter anzurufen. Dabei wäre gerade die Gestalt Marias der entscheidende Schlüssel, alle berechtigten Anliegen der Frauenbewegung aufzunehmen und in eine Gesamtsicht zu integrieren.2 Begriffen haben dies die meist jungen Frauen in Deutschland, die Maria in der Originalfassung vorstellen wollen mit dem programmatischen Namen «Maria 1.0».

Der neueste Band der Mariologischen Studien trägt den Titel «Maria, ‹Mutter der Einheit›».
Er betont die Aufgabe Marias, alle Menschen in der universalen Gemeinschaft der Kirche zu versammeln. Die Beiträge widmen sich den Grundlagen dieser Lehre in der Heiligen Schrift, in der Geschichte der Theologie, in der Liturgie, der Spiritualität und dem systematischen Nachdenken. Bedacht werden auch die Schwierigkeiten und Annäherungen vonseiten der evangelischen Theologie.

Ist es nicht gewagt, Maria als Mutter der Einheit zu bezeichnen, wenn Maria doch gerade bei den Kirchen der Reformation eher auf Ablehnung stösst?
In Maria zeigen sich die Glaubensgeheimnisse der Kirche wie in einem Brennpunkt. Wer Maria verehrt, nähert sich auch Christus und der Fülle der gottgeschenkten Einheit in der Kirche. Das Ziel der Einheit kann nicht darin bestehen, auf einen integralen Bestandteil des Glaubens zu verzichten, sondern in der Annahme der gesamten offenbarten Wahrheit, die von der Kirche verkündet wird. Ohne die Mutter kann eine menschliche Familie nicht zur Einheit gelangen. Ähnliches gilt für die Familie der Kirche, deren geistliche Mutter Maria ist.

Das Zweite Vatikanum wollte die Bezeichnung «Mutter der Einheit» nicht übernehmen. Wieso nicht?
Für manche Theologen war der Titel damals noch zu neu, obgleich die Formulierung schon bei Augustinus steht. Das erste mir bekannte ausdrückliche marianische Zeugnis findet sich 1940 als Titel eines Benediktinerinnenklosters in Sardinien. Dessen Gründerin war beeinflusst von der ein Jahr zuvor verstorbenen jungen Trappistin Maria Gabriella Sagheddu, die 1983 seliggesprochen wurde. Andere, vor allem deutsche Würdenträger, wollten alles vermeiden, was evangelische Christinnen und Christen stören könnte. Nicht der Titel, aber der Gehalt gelangte freilich, wie erwähnt, in den Text des Konzils. Der Titel «Mutter der Einheit» wird ausserdem seit 1965 von den Päpsten aufgenommen, vor allem bei Paul VI. und Johannes Paul II. Heute gehört er zum gängigen Wortschatz der Kirche.

Welchen Beitrag kann die Mariologie in der aktuellen – von Covid-19 geprägten – Zeit leisten?
Bei den Epidemien der Vergangenheit hat die Kirche immer wieder die Fürbitte der Gottesmutter angerufen und dabei oft wunderbare Hilfe erfahren. Die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Gestalt Marias weist auf das Ziel des menschlichen Lebens, mit der unsterblichen Seele und dem verklärten Leib an der ewigen Freude in der Gemeinschaft Gottes teilzunehmen. Hier zeigt sich die Hoffnung, dass der gesamte Kosmos durch den gekreuzigten und auferstandenen Christus seine Vollendung findet. Maria stand unter dem Kreuz, nimmt aber auch bereits in ihrer himmlischen Freude das Ziel voraus, auf das wir noch zugehen.

Interview: Rosmarie Schärer

 

 

 

1 Deutsch in: Sedes Sapientiae. Mariologisches Jahrbuch 23 (2019), 103–122..

2 Vgl. Hauke, Manfred, Gott oder Göttin? Feministische Theologie auf dem Prüfstand, Aachen 1993, 155–178.

 

Buchempfehlung: «Maria ‹Mutter der Einheit› (Mater unitatis)». Von Manfred Hauke (Hg.). Regensburg 2020. ISBN 978-3-7917-3146-9, CHF 55.90. www.verlag-pustet.de