Ist das Milizsystem zukunftsfähig?

In allen Lebensbereichen wird es immer schwieriger, Menschen für ehrenamtliche Tätigkeiten zu gewinnen, gerade wenn es dabei um Ämter mit Verantwortung und hoher Arbeitsbelastung geht.

Die Kantonalkirchen funktionieren grösstenteils im Milizsystem. Haben sie auch mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen? Die SKZ hat nachgefragt:1

Politische Gemeinden haben oft Mühe, Personen für den Gemeinderat zu finden. Trifft dies auch auf die kirchlichen Gremien in Ihrer Region zu?
Die Kantonalkirchen Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Obwalden und Schwyz erleben diese Schwierigkeiten. In Luzern und Zürich ist es in den einzelnen Kirchgemeinden sehr unterschiedlich. Je früher ein Rücktritt bekannt gegeben werde, desto höher sei die Chance, jemanden zu finden, erklärt Daniela Gallati (GL).
Gründe für diese Schwierigkeit gibt es viele. Urs Umbricht (SO) sieht es vor allem in der starken beruflichen Belastung, die neben Familie und Hobbys keine Zeit für kirchliches Engagement lässt. Urs Brosi (TG) führt auch längere Arbeitswege und abnehmendes Sozialprestige der Milizämter an. «Dort, wo höhere Entschädigung an Kirchenverwaltungsräte bezahlt werden, die in einem realistischen Verhältnis zum Aufwand stehen, ist ein Kirchgemeindeamt wieder attraktiver geworden», erklärt Thomas Franck (SG). Für Melanie Hürlimann (ZG) ist es ein Phänomen der heutigen Zeit, sich weniger für das Gemeinwohl zu engagieren. Ausserdem fehle den kirchlichen Gremien häufig eine interessante Ausstrahlungskraft. In Bern sind genügend Bewerberinnen und Bewerber für die Ämter vorhanden; dies aufgrund vieler mittelgrosser oder grosser Kirchgemeinden, die zudem dem kantonalen Gemeindegesetz unterstellt sind. Im Berner Jura sehe die Situation aufgrund der kleineren Kirchgemeinden ein wenig anders aus, erklärt Regula Furrer Giezendanner. In Schaffhausen bestehen bisher keine Schwierigkeiten, die Gremien zu besetzen.

Wie werden normalerweise neue Mitglieder gefunden?
Neben den üblichen Aufrufen im Pfarreiblatt oder in den sozialen Medien und dem Aushang im Pfarreischaukasten setzt man in den meisten Kantonalkirchen auf persönlichen Kontakt oder Mund-zu-Mund-Propaganda. Hier lohnt sich ein Blick auf die Neuzuzügerinnen und Neuzuzüger. In Glarus, Luzern, St. Gallen und Zug sind die politischen Parteien involviert, in Appenzell Innerrhoden auch der Gewerbeverband, Arbeitnehmergruppen usw. In einigen Orten wird eine Findungskommission eingesetzt. Die Landeskirche Aargau hat ein eigenes kleines Strategiepapier zur Unterstützung der Suche nach Behördenmitgliedern erstellt und bietet ca. eineinhalb Jahre vor den Gesamterneuerungswahlen jeweils Schulungsveranstaltungen an.

Wie kann «Vetternwirtschaft» verhindert werden? Positiv formuliert: Wie können Menschen motiviert werden, sich in der Kirchgemeinde zu engagieren?
Da vielen Menschen das duale System nicht bekannt ist, ist es wichtig, präsent zu sein, so die Rückmeldung aus vielen Kantonalkirchen. Kirchenapéros, persönlicher Kontakt, regelmässige Mitteilungen aus dem Kirchenrat und Presseberichte über pfarreiliche Aktivitäten helfen der Kirche, in der Region präsent zu sein. Solche Aktivitäten sind immer wieder Anknüpfungspunkte, um Interesse zu wecken, ist Gallati (GL) überzeugt. Ivo Corvini und Martin Kohler (BL) weisen darauf hin, dass ein Amt im Kirchgemeinderat ermöglicht, bereits in sehr jungen Jahren Erfahrungen in einem Exekutivamt zu sammeln und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Als weitere Motivationsgründe wurden genannt: Freiräume, neue Erfahrungen, positives, dankbares Echo aus der Gemeinde, persönliche und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten (AI); Freude an der Aufgabe, Stolz für eine gute Sache tätig zu sein, Erhöhung der eigenen Reputation, Steigerung des Bekanntheitswertes, Freude, gemeinsam etwas zu erreichen (BS); aufzeigen, was die Kirche leistet und leisten kann, Mitgestaltung des kirchlichen Lebens (ZG). «Eine gute Organisation mit Ressorts könnte eine Fachperson auch interessieren, weil sie ihre Ideen und Vorstellungen einbringen und umsetzen kann», ist Urs Umbricht (SO) überzeugt. Markus Hodel (ZH) findet «Vetternwirtschaft» in diesem Fall nicht schlecht: «Ein gut harmonierendes Team funktioniert besser als eine Gruppe Einzelkämpfer. Wenn man die Leute kennt und direkt anspricht, weiss man besser, wer da kommen könnte, als wenn sich jemand auf ein Inserat meldet.»

Wie werden die gewählten Mitglieder auf ihre Aufgabe vorbereitet und ins duale System eingeführt?
Es wird grosser Wert auf eine Einführung durch die Vorgängerin resp. Vorgänger gelegt, sogenanntes «Learning by Doing». Eine gute Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten, die bereits über die notwendigen Fachkenntnisse verfügen, erleichtert die Aufgabe. Alle Kantonalkirchen (und auch die RKZ) bieten Schulungen für die neuen Kirchgemeinderätinnen und -räte an und stehen persönlich bei Fragen zur Verfügung. Viele Unterlagen finden sich auf den verschiedenen Webseiten. In Glarus und Obwalden stehen auch externe Fachpersonen zur Verfügung (vor allem im Bereich Finanzen und Personal). Basel-Land und Luzern stellen zudem allen Neugewählten ein Handbuch zur Verfügung. In Bern organisieren der Kanton respektive die Regierungsstatthalter jährlich Einführungsveranstaltungen für neugewählte Ratsmitglieder, inklusive Kirchgemeinderäte. Die Landeskirche Aargau legt daneben auch grossen Wert auf den direkten Erfahrungsaustausch zwischen den Kirchgemeinden. Als Forum dienen hierzu die Kirchenpflegetagungen, an denen ein beträchtlicher Anteil der Kirchgemeinden regelmässig und teilweise in Vollbesetzung der Kirchenpflegen teilnimmt.

In Thurgau führt die Fachstelle für kirchliche Erwachsenenbildung zusammen mit dem evangelischen Pendant im Zweijahresturnus eine Reihe von Grundkursen für Behördenmitglieder (insbesondere Präsidentinnen und Präsidenten sowie Aktuarinnen und Aktuare) durch: Versammlungen leiten, Sitzungen leiten, Protokoll führen, Archivführung usw. Seit diesem Jahr bietet sie (ebenfalls ökumenisch) einen Einführungskurs im Bereich Buchhaltung und Personaladministration an. Daneben gibt es regelmässig Weiterbildungsveranstaltungen. Franck (SG) weist darauf hin, dass Kirchenverwaltungsräte Fachwissen auch extern einkaufen können, wenn Ratsmitgliedern die nötige Fachkompetenz fehlt. So werde die Finanzbuchhaltung bereits in vielen Kirchgemeinden von einem externen Treuhandbüro erledigt oder der Gebäudeunterhalt von einem externen Baufachmann.

Zusammenfassung
Es ist für alle Kantonalkirchen prinzipiell schwieriger geworden, die Ämter zu besetzen, wobei dies in den einzelnen Kirchgemeinden sehr unterschiedlich ist. Bei der Suche nach Kandidatinnen und Kandidaten setzen alle Kantonalkirchen vor allem auf den persönlichen Kontakt. In kleineren Kantonalkirchen werden öfters auch kirchliche Gruppierungen und Vereine angesprochen. In Appenzell Innerrhoden, Glarus, Thurgau, St. Gallen und Zug sind bei der Suche zudem die politischen Parteien involviert. In Luzern sind die Sitze in vielen Gemeinden gar unter den Parteien aufgeteilt, sodass die Parteien selbst an einer Neubesetzung interessiert sind. Findungskommissionen kommen nur in den beiden grössten Landeskirchen (Luzern und Zürich) zum Einsatz.

Die Umfrage zeigt, dass die Einführung der neuen Kirchgemeinderätinnen und -räte gut organisiert ist. Sowohl die Kantonalkirchen als auch die RKZ bieten entsprechende Veranstaltungen an.
Es fällt hingegen auf, dass in den kleineren Kantonalkirchen die neuen Ratsmitglieder im Normalfall durch ihre Vorgängerinnen und Vorgänger in ihre Aufgaben eingeführt werden, während in den grösseren Kantonalkirchen Einführungskurse, Handbücher usw. zur Verfügung stehen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Verantwortlichen für die wichtigen Ressorts Finanzen und Personal Fachwissen mitbringen oder sich aneignen können. Basel-Stadt z. B. beschäftigt 150 Mitarbeitende, hat Steuereinnahmen von CHF 11 Mio. und ein Liegenschaftsportfolio von CHF 230 Mio. Hier ist Fachwissen gefragt.

Die Antworten zeigen zudem auf, dass vielen Katholikinnen und Katholiken das Potenzial einer Mitarbeit in der Kirchgemeinde (noch) nicht bewusst ist; z. B. die Möglichkeit, aktiv in der Kirche mitzuarbeiten oder Erfahrung in einem Amt zu sammeln. Ein Hindernis ist sicher der hohe Arbeitsaufwand bei einer (oftmals) geringen Entschädigung.

Einig sind sich alle darin, dass das Image der Kirche mitentscheidend ist für die Suche nach neuen Kandidatinnen und Kandidaten. Aber auch der persönliche Kontakt mit Pfarreiangehörigen sowie Informationen über die Arbeit der Kirchgemeinde tragen massgeblich zu einer erfolgreichen Neubesetzung der offenen Sitze bei.

Rosmarie Schärer

 

1 An der Umfrage haben sich 16 der insgesamt 19 Deutschschweizer Kantonalkirchen beteiligt.

Folgende Kantonalkirchen haben an der Umfrage teilgenommen: Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Glarus, Graubünden, Luzern, Obwalden, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, St. Gallen, Thurgau, Zug und Zürich. Ausführliche Antworten siehe Bonusbeiträge.