Machtmissbrauch und Grenzverletzungen in der Seelsorge (I)

Als Psychotherapeutin legt Franziska Greber Erkenntnisse und Perspektiven zum Machtmissbrauch und Grenzverletzungen vor.1 Ihr Interesse gilt professionellen Beziehungen von Fachpersonen in der Seelsorge. Der Beitrag nimmt Bezug auf grössere Zusammenhänge, darauf aufbauend Fachteams in der Seelsorge ihre Beziehungen untereinander und die Erwartungen an ihre Rollen im gesellschaftlichen Umfeld klären können. Achtsame Schritte zur Prävention sind das Ziel.

Seit über zwanzig Jahren ist – dank der Frauenbewegung – das Thema «Ausnützung von Abhängigkeiten» im Fokus der Öffentlichkeit und damit Gewalt als Ausdruck eines Machtgefälles zwischen Mann und Frau. Ging man davon aus, dass Grenzverletzungen den Missbrauch von Macht voraussetzen, fokussierte man auf Abhängigkeitsbeziehungen. Erst später wurde deutlich, dass Grenzverletzungen auch in symmetrischen Beziehungen, das heisst ohne Abhängigkeit, vorkommen können.

Professionelle Beziehungen am Beispiel Seelsorge

Mehrere Ebenen sind angesprochen: die eigene Gewaltausübung kirchlicher Mitarbeitenden, die Gewalt von Kolleginnen und Kollegen und jene in anderen Organisationen oder im sozialen Nahraum. Gewalt zeigt sich sehr unterschiedlich, je nach Kontext, Alter oder Beziehungskonstellation, z. B. als Gewalt unter Erwachsenen oder gegen Kinder, Kinder und Jugendliche als Opfer und als Gefährdende bzw. Täterinnen und Täter.2 Ihre Formen sind vielfältig und können einzeln oder kombiniert vorkommen. Zugenommen hat vor allem die Cyber- Gewalt. Dazu kommen genderspezifische Unterschiede: Frauen erleben Gewalt überwiegend im privaten Raum durch männliche Beziehungspartner und erleiden häufiger schwere Gewalt mit Verletzungsfolgen.3 Männer erleben Gewalt meistens im öffentlichen Raum und mehrheitlich durch andere Männer. Gewalt gegen sie ist seltener sexualisierte Gewalt. Sie erleben seltener systematische Gewalt als eher spontanes Konfliktverhalten.4

Von Fachleuten, die mit den verschiedenen Facetten der Gewalt konfrontiert sind, wird erwartet, dass sie situativ bestimmte Dinge tun und andere unterlassen. Seelsorgende verfügen über Handlungskompetenz und können berufliche, wirtschaftliche, seelische, geistige und gesundheitliche Zusammenhänge von ratsuchenden Menschen definieren und gewichten. Das hohe gesellschaftliche Ansehen, die starke Einbindung in die Kirchgemeinde, die Sozialkompetenz und ihre Glaubwürdigkeit stützen ihre Macht. Darum stehen Seelsorgende «in Recht und Pflicht», sich an den beruflichen Standards zu orientieren, die ihr professionelles Vorgehen (Setting) bestimmen und die sie einzuhalten haben wie auch die Sorgfalts- und Fürsorgepflichten gegenüber ratsuchenden Personen. Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen können von Seelsorgenden im Kontakt zu Ratsuchenden sowohl fördernd als auch ausnützend eingesetzt werden.

Grenzen bestimmen

In vielen Fällen kennt also die Pfarrperson ein Gemeindemitglied und dessen Umfeld bereits aus unterschiedlichen Zusammenhängen. Das Besondere der Kirchgemeinde und dieser Art «Heimat» ist gleichzeitig das Heikle und Sensible. Jede Handlung kirchlicher Mitarbeitender ist eine professionelle und markiert als Beziehung zu Gemeindemitgliedern ein Verhältnis von Abhängigkeit, wenn auch gewisse Kontakte freundschaftlich sind. Mit dem Beginn der Beziehung verändert sich diese nochmals grundlegend. Seelsorgende sind fachliche Autoritätspersonen, was das Verhältnis von Macht und Abhängigkeit noch verstärkt. Im Rahmen der Beratungen stehen die Gefühle und Erfahrungen der Ratsuchenden im Zentrum. Inhalte, Ziele und Vorgehensweisen der Seelsorge orientieren sich an den Wünschen der Person und sind deshalb «einseitig» auf sie ausgerichtet, ausser diese Wünsche widersprechen dem professionellen Verständnis und dem ethischen Handeln der Fachperson. Das bedeutet aber nicht, dass abhängige Personen mit ihren, vielleicht unrealistischen Wünschen für die Entwicklung der Beziehung verantwortlich sind: z. B. «sie hat sich ja in mich verliebt. Es war deshalb eine einvernehmliche sexuelle Beziehung.» Dies ist eine Verschleierung einer eigentlichen Ausnützung der abhängigen durch die mächtige Person.

In ethischen Richtlinien und Standesregeln ist auch das jeweilige Verständnis professioneller Beziehungen definiert. Es geht um Gestaltung der Beziehung, Fragen der Verantwortung und die Art der Grenzen von Fachpersonen gegenüber ihren KlientInnen, z. B. Umgang mit Körperkontakt. Auch die Betriebs- und Organisationskultur, berufliche Gepflogenheiten und das allgemeine kulturelle und gesellschaftliche Verständnis sind im Umgang mit professionellen Grenzen massgebend.

Rahmenbedingungen (Setting)

In verschiedenen Kontexten gelten verschiedene berufsspezifische Settings. So fügt eine Zahnärztin einer Patientin beim Bohren möglicherweise Schmerzen zu und die Patientin gibt dazu sogar ihr Einverständnis. Der Kontext der Zahnarztpraxis macht klar, dass man hier für die Behandlung den Mund öffnen und nicht wie im Zug das Ticket zeigen muss. Die Verantwortung für die Gestaltung und Einhaltung des Settings obliegt immer der Fach- oder Bezugsperson. In der seelsorglichen Beratung entsteht oft eine aussergewöhnliche Nähe. Gespräche finden traditionsgemäss in der Privatsphäre der Pfarrperson oder der Ratsuchenden statt, was ein sorgfältiges Klären, Einhalten, aber auch Kommunizieren des Settings erfordert. Definierte Settings machen berufsspezifische Gepflogenheiten von Seelsorgenden transparent und ermöglichen auch deren sozialem Umfeld Orientierung. Meistens gehen dem Machtmissbrauch und den Grenzverletzungen eine «Grooming-Phase» (vorbereitende Handlungen) voraus. Das ausgewählte Opfer erfährt im Vorfeld eine Vorzugsbehandlung und baut zur ausnützenden Person Vertrauen auf. Dies erschwert sowohl dem Opfer als auch dem Umfeld die Wahrnehmung. Definierte Settings und klare Grenzen fördern die Selbstkontrolle der Fachperson und die Fremdkontrolle durch Ratsuchende und sind in diesem Sinne Abgrenzungshilfen, da sie Nähe und Distanz regulieren. Soziale Kontrolle ist dann eine Möglichkeit, dem Machtmissbrauch vorzubeugen. Setting-Abweichungen können eher wahrgenommen, angesprochen und falls nötig sanktioniert werden.

Täterinnen und Täter in professionellen Beziehungen

Auch hier können verschiedene Typen, Ursachen und Dynamiken unterschieden werden: jene, die sich narzistisch «am Opfer aufwerten», andere, die ihre Opfer bewusst und systematisch ausnützen, ihr Tun und die bestehende Abhängigkeit verleugnen und die Schuld dem Opfer zuschieben. Weiter finden sich bedürftige und defizitäre Fachpersonen, die sich selber als Opfer sehen, ihre Handlungen und die bestehende Abhängigkeit des eigentlichen Opfers nicht erkennen. Sie fühlen sich oft selbst ausgeliefert und ohnmächtig. Andere «rutschen» in diese Beziehungen rein, die sie dann aus Schuld-oder Schamgefühlen oder aus «Sorge» um das Opfer nicht beenden. Begründet wird dies etwa so: «Suizidale Opfer oder Opfer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten verlässt man nicht.» Schliesslich werden manche Fachpersonen als ursprüngliche Täterinnen und Täter zu einem späteren Zeitpunkt «Opfer ihres Opfers» und führen die Beziehung fort, aus Angst vor einem möglichen Aufdecken ihrer Verfehlungen oder rechtlichen Konsequenzen. Die «ursprünglichen Opfer und späteren Täterinnen und Täter» nutzen das Wissen um die Schuld der «ursprünglichen Täterschaft» aus, z. B. mit einer noch ausstehenden Strafanzeige oder dem Hinweis auf ein drohendes Berufsverbot. So werden Fachpersonen unter Druck gesetzt. Oft holen sie sich deshalb, auch bei massiver Gewalterfahrung, keine Hilfe oder thematisieren nur die Gewalt, aber die dahinterliegende Problematik ihres eigenen Machtmissbrauches nicht.

Tätertypologien

In unterschiedlichen Ländern und insgesamt 23 Studien über männliche, erwachsene Täter häuslicher Gewalt – vergleichbare Studien über minderjährige Täter bzw. erwachsene und minderjährige Täterinnen fehlen – wurden Tätertypologien bei häuslicher Gewalt aufgezeigt.5

Der angepasste, auf die Familie beschränkte Typus 1 beschränkt die Gewalt auf seine Partnerin. Er übt keine Gewalt in anderen Kontexten aus. Gegenüber Frauen ist er nicht negativ eingestellt, verfügt aber über wenig Sozialkompetenz. Diese Täter zeigen nach Vorfällen von Gewalt Reue, stehen unter Leidensdruck.

Auch der zyklische oder Borderline-Typus 2 beschränkt die Gewalt auf die Familie – teilweise auch auf die Kinder. Diese Täter haben oft als Kinder häusliche Gewalt erlebt. Psychiatrisch fallen sie mit Persönlichkeitsstörungen auf, sind emotional instabile Personen, die in der Beziehung den fehlenden Halt suchen. Zeigen Reue und stehen unter Leidensdruck.

Täter mit antisozialer oder psychopathischer Charakteristik 3 üben sowohl in der Familie als auch in anderen Kontexten Gewalt aus. Sie sind gegenüber Frauen grundsätzlich feindselig eingestellt. Ihre menschenverachtende Haltung trifft involvierte Kinder ebenso wie andere Personen. Häufig erfahren diese Kinder schwere Gewalt – sie wird als Mittel zur Konfliktlösung legitimiert. Zahlreiche Vorstrafen, Einträge im Strafregister und eine Alkohol- und Drogenproblematik charakterisieren diesen Tätertypus. Reue, Leidensdruck und Einsicht fehlen.

Der mittelgradig antisoziale Typus 4 ist oft schwer zuzuordnen. Einige üben die Gewalt nur in der Familie aus, andere auch in anderen Kontexten. Manchmal sind auch Kinder direkt betroffen. Die Gefährlichkeit, die Wahl und Wirkung von Interventionen, Massnahmen und Settings sind kritisch zu prüfen.

Üben Täterinnen oder Täter in verschiedenen Beziehungskonstellationen und Kontexten Gewalt aus, ist dies ein wichtiger Indikator für Gefährlichkeit.

 

1 Der Beitrag fokussiert auf das Thema Seelsorge. Vgl. Franziska Greber: Machtmissbrauch und Grenzverletzungen – Erkenntnisse und Perspektiven, in: Schaut hin! Missbrauchsprävention in Seelsorge, Beratung und Kirchen, hg. von Isabelle Noth, Ueli Affolter, Zürich 2015, 46–68.

2 Formen der Gewalt zeigen sich als Physische Gewalt / Psychische Gewalt / Sexuelle Gewalt – einschliesslich Sexting (Versenden von erotischem Bildmaterial) / Sexuelle Ausbeutung / Sexuelle Belästigung / (Cyber-) Stalking / (Cyber-)Mobbing / Bullying (ein spezielles Muster von aggressivem Verhalten im schulischen Kontext) / Bossing (systematische Schikane durch Vorgesetzte) / Vernachlässigung / Sozialer Machtmissbrauch (z. B. Verbot von Kontakten) / Spiritueller Machtmissbrauch.

3 Gewalt gegen Frauen ist häufig sexuelle Gewalt. Frauen leben häufiger in chronischen Gewaltverhältnissen.

4 Für Männer sinkt das Verletzungsrisiko, wenn die Gewalt von der Beziehungspartnerin ausgeht.

5 Holtzworth-Munroe et. al. (2003): Do subtypes of maritally violent men continue to differ over time? In: Journal of Consulting and Clinical Psychology, Vol 71(4), 728–740; Glaz-Ocik, J. & Hoffmann, J. (2011). Gewaltdynamiken bei Tötungsdelikten an der Intimpartnerin. In: Lorei, C. (Hrsg.), Polizei & Psychologie 2009, 263–286, Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft.

Franziska Greber

Franziska Greber, M.A.
Psychotherapeutin, Psychotraumatologin, Coach & Supervisorin; eh. Co-Leiterin IST Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt des Kantons Zürich; Mitgründerin und Co-Leiterin der AGAVA Arbeitsgemeinschaft gegen die Ausnützung von Abhängigkeiten; Lehrtätigkeiten und Fachpublikationen u. a. im kirchlichen Kontext; eh. Mitglied der aws; Vertrauensperson der evang.-ref Landeskirche des Kantons Zürich.