Liturgie und Ethik

Eine Kollekte wird eingezogen, eine Sakristanin zählt das Geld – pfarreilicher Alltag. In Schwechat (bei Wien) hat sich eine Pfarrei zu einem besonderen Projekt entschlossen: «‹Ab sofort zahlen wir für jede Messe, die bei uns gefeiert wird, einen Solidaritätsbeitrag von 10 Euro aus unserem Finanzbudget für die Ärmsten der Armen!›, so der Beschluss des Pfarrgemeinderates (…) Ende 2010, der mit dem neuen Kirchenjahr wirksam geworden ist! ‹Und für jede Sonntagsmesse zahlen wir das Dreifache – schliesslich ist sie Zentrum unseres Lebens als Pfarrgemeinde, und das muss sich noch viel stärker für die Armen auswirken!› Zehn Euro klingen nach nicht viel – über das Jahr verteilt wird der Betrag aber auf etwa 14 000 Euro anwachsen, die im pfarrlichen Budget gespart werden müssen.»1 Liturgie und Diakonie gehören zusammen, dieses Zeichen setzen Christinnen und Christen in Schwechat.

Wo vergessen wird, dass die liturgische Feier und der Gottesdienst des Lebens (vgl. Röm 12,1) aufeinander verwiesen sind, stimmt etwas nicht. Für die Konzilsväter war es ein Anliegen, dass die Gläubigen «im Leben festhalten, was sie im Glauben empfangen haben» (SC 10). Das klingt auch in vielen Schlussgebeten an: «Führe uns durch deinen Geist, damit wir uns nicht nur mit Worten zu dir bekennen, sondern dich auch durch unser Tun bezeugen.»2 Dennoch scheint es, als würden Feiern und Tun, Liturgie und Ethik gelegentlich auseinanderfallen: Vergessen Feiernde nicht zuweilen schnell, was sie gläubig in der Liturgie empfangen haben? Wie stehen jene, die sich politisch oder diakonisch für andere einsetzen, zur Liturgie? Gibt es Störungen, die möglicherweise mit der Liturgie selbst etwas zu tun haben? Das Liturgische Institut der deutschsprachigen Schweiz stellte die elementare Frage nach «Liturgie und Ethik» beim Jubiläumsanlass vom 17. Juni 2013 in Zürich mit Kolleginnen und Kollegen aus kirchlichen Fachstellen, Kommissionen und Arbeitskreisen ins Zentrum. Das Thema wird hier aufgenommen und weitergeführt.3

Soziales Verhalten vor, in und nach der Feier

Grundsätzlich lassen sich drei Aspekte unterscheiden: vor der Feier als Auseinandersetzung mit dem, was mir im Alltag begegnet, sei es individuell oder politisch. In der Feier bekommt das einen Ort vor Gott (leiturgia). Die Erfahrung von Gemeinschaft (koinonia) und göttlicher Gnade bringt wiederum etwas in den Feiernden in Gang, das ermöglicht und fordert, das Geschenkte weiterzusagen (martyria) und weiterzugeben (diakonia).4 Diese Grundstruktur hilft, das Verhältnis von Liturgie und Ethik konkret zu beschreiben. Angenommen, jemand engagiert sich für eine Familie, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Es weckt Gefühle von Wut oder Trauer, reizt zum Aufgeben oder Weiterkämpfen. Was kann in dieser Situation während der Feier passieren? Man kann für die Familie Geld sammeln, sie (je nach Religion) Gemeinschaft im Gottesdienst erfahren lassen. So werden Liturgie und Ethik in ein unmittelbares Verhältnis zueinander gesetzt. Zugleich wird eine andere Möglichkeit geöffnet: Die engagierten Personen übergeben ihre Verantwortung und Gefühle Gott. Sie dürfen sich im Gebet, im Hören des Wortes lösen von Ohnmacht oder eigenem Machenmüssen und in der Kommunion Gemeinschaft mit Gott und den Mitfeiernden erfahren. Die Liturgie unterbricht auf diese Weise das Engagement, jedoch nicht durch Verleugnung, sondern durch Überantworten an einen, der mehr vermag als Menschen. Zugleich stärkt sie neu zum Handeln heraus, wenn und weil die Liturgie Kraftquelle ist.

Gewissensbildung und Schönheit

Welche einzelnen Handlungsschritte aus der Sendung zum Gottesdienst des Alltags folgen, ist durch die Liturgie nicht vorgegeben. Das ist nicht ihre Aufgabe. Um zur Quelle zu werden, braucht es vielmehr die Schönheit, wie Fulbert Steffensky in seinem Festvortrag mit dem Titel «‹Den Schwachen verhalf er zum Recht. Das heisst: mich wirklich erkennen› (Jer 22,16). Liturgie und Lebensgüte» ausführte. Ihm sei auch an dieser Stelle das Wort übergeben.5

«Gottesdienste verfolgen keine Zwecke. Im Lob Gottes beabsichtigt man nichts, ausser ihn zu loben. (…) Das Schweigen, das Loben und die Absichtslosigkeit bilden unsere Seele. Man kann die Moralität von Menschen nicht unmittelbar beabsichtigen. Sie geht Umwege, sie braucht die Schönheit, Schönheit natürlich nicht nur formalästhetisch verstanden. Das Lob, die Ruhe, das Schweigen, der Gesang sind Grundformen jener Schönheit. (…) Die Hoffnung und die Einübung in die Gerechtigkeit brauchen die Lieder, die Gedichte und die grossen Erzählungen, um in den Herzen der Menschen zu nisten. (…) Die Hoffnung hat keine Zeit mehr, die Umwege zu vermeiden; die Umwege über die köstlichen Zwecklosigkeiten; die Umwege über die Lieder, die Erzählungen und das Gebet. Man muss die grossen und wundervollen Nutzlosigkeiten retten, die Brote unserer Gewissheit. Unsere Bibel ist voll von menschen- und gottesfreundlichen Geschichten der Schönheit, die Psalmen; die Geschichten, die davon singen, dass das Grosse nicht gross und das Kleine nicht klein bleibt; dass die Toten erweckt, die Sünden vergeben, die Tyrannen gestürzt und die Hungernden satt werden. (…)

Die Texte unserer Gottesdienste bilden unsere Seele, und auf diesem Umweg werden sie zu unserer Moral. Wir lesen die Bergpredigt, wir lesen die Propheten, wir lesen die rotzfrechen Geschichten Jesu von der Vergebung wie die von der Ehebrecherin. Diese Geschichten machen etwas mit uns. Wie lernen wir unser Gewissen? Wir lernen es nicht, indem wir als Erstes die Moral dieses alten Textes gegen uns selbst gerichtet sehen. Wir lernen unser Gewissen, indem wir die Schönheit, die Freiheit und die Würde wahrnehmen und anfangen, sie zu lieben. Christus ist schön, der niemanden verloren gibt und der sich mit der Niederlage des Rechts nicht abfindet. Seine waghalsige Freiheit ist schön, in der er den Geläufigkeiten ihr Recht aufkündigt; den Geläufigkeiten, dass die Armen arm, die Trostlosen ungetröstet und die Friedensstifter verlacht bleiben. Ich bewundere die menschenfreundliche Schönheit und Würde der Bergpredigt, und erst so pflanze ich sie in mein eigenes Gewissen; erst so wird sie zur Moral.»

Die praktischen Konsequenzen sind schnell gezogen: Dem Wort Gottes ist viel Raum zu geben in der Feier und den Hörenden genügend Stille, auf dass die befreiende Kraft des Wortes sie ergreifen kann; die Psalmen, Lieder des Lobes und Gedichte der Gerechtigkeit sollen erklingen und Herz und Verstand erfüllen. Es ist eigentlich ganz einfach – wenn Absichtslosigkeit denn einfach ist.

Ein ergiebiges Beispiel: die Fürbitten

Die Fürbitten zeigen, dass es nicht so einfach ist. Tatsächlich sind sie innerhalb einer Feier der Ort, an dem Menschen etwas von Gott wollen. Er soll handeln, etwas soll sich verändern. Liturgie und Ethik müssen, so werden manche Leserinnen und Leser mahnen, noch auf andere Weise zusammengehören, als bisher angesprochen wurde, wenn das alles mit dem Gottesdienst des Lebens zu tun haben soll. Ein Beispiel, wie das geschehen kann, fiktiv, aber so oder ähnlich im Gottesdienst zu hören: «Zeige den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie Machtstreben und Gewinnorientierung menschliche Beziehungen zerstören.» Aufgedeckt wird durch eine solche Bitte in der Feier unethisches Verhalten vor der Feier, gefordert wird ethisches Verhalten nach der Feier.

Worum es geht, ist nachvollziehbar und keineswegs falsch. Und dennoch ist eine solche Bitte problematisch: Wer so spricht, stellt sich selber auf die Seite der Gerechten, Solidarischen und Guten. Zugleich wird Gott, an den sich die Bitte richtet, zum Übervater, der die Verantwortungsträgerinnen und -träger in ihre Schranken weisen soll. Oder geht es darum, dass Politiker, CEOs und andere die Bitte hören, aufwachen und ihr Verhalten ändern? Aus der Bitte an Gott wurde unter der Hand ein moralischer Appell an andere. Die Bitte soll in diesem Fall einen bestimmten Zweck erfüllen. Das ist nicht der Sinn einer Fürbitte. Sie tritt für andere ein. Zuerst, dem Anspruch des Evangeliums und den Rufen der Propheten folgend, für die Opfer von Machtstreben und Profitorientierung, dann aber auch für alle, die gesellschaftliche Verantwortung übernommen haben – gerade weil Macht ambivalent ist: notwendig, um Entscheidungen zum Wohl der Allgemeinheit durchzusetzen, und zugleich für Missbrauch anfällig. Das Gebet für die Herrschenden gibt dieser Versuchung einen Ort vor Gott und relativiert zugleich die Absolutheitsansprüche menschlicher Macht. Das könnte auch ohne den moralischen Zeigefinger gehen: «Für die Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, um die Gabe der Klugheit und Gerechtigkeit.»

Auf diese Weise wäre dem Sinn der Fürbitte, dem Eintreten für andere, Genüge getan, aber sofort zeigt sich ein neues Problem: Diese Fürbitte ist sehr allgemein – Not, Leid, Gefahr sind dagegen konkret. Müsste man nicht deutlicher reden, auch politischer, wenn Liturgie und ethisches Handeln zusammengehören, ist man das den Opfern nicht schuldig?6 «Stürze die Mächtigen vom Thron, schaffe Recht!» Die Psalmen, die Propheten, die Evangelien stellen die Worte zur Verfügung, doch die Namen der Täter und der Opfer nennen sie nicht. Der diesen Gebetsschrei hört, kennt ohnehin ihre Namen. Manche Hinzufügungen sind wohl nicht für ihn bestimmt, sondern für die Mitfeiernden, die das Gebetsanliegen mit dem Ruf «Wir bitten dich, erhöre uns» zu ihrem eigenen machen.

Womit wir bei den Mitfeiernden wären. Nehmen wir an, sie schliessen sich im Gebet der Bitte für die Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft um Klugheit und Gerechtigkeit an, wie haben die so Betenden vor dem Gottesdienst ihre Verantwortung im Gemeinwesen, im Beruf, in der Familie oder anderen Lebensbereichen wahrgenommen? Welchen Stellenwert haben sie selbst der Gerechtigkeit in ihrem Handeln gegeben? Das eigene Tun geht dem Gottesdienst und damit auch der Fürbitte voraus, und es folgt daraus. Die Fürbitte kann das nicht ersetzen. Sie gerät sonst in den Geruch der Doppelmoral; ethisches Handeln und liturgisches Beten fallen auseinander. Das soll nicht sein, und doch weiss jede und jeder, wie schwer es ist, dem Anspruch des Evangeliums im Leben zu entsprechen. Auch dafür bieten Fürbitten eine Sprachform: «Lass uns die Folgen unseres ungerechten Verhaltens erkennen …». Diesmal ist der moralische Zeigefinger auf die Anwesenden gerichtet, aber es wird nichts Falsches gesagt. Eintreten für andere im Gebet sieht jedoch anders aus, und die intendierte Verhaltensänderung ist auch eher fraglich.

Die allermeisten Fürbittanliegen sind nicht moralisierend formuliert. Die moralisierenden sind Paradebeispiele für ein bestimmtes Verständnis von Liturgie und Ethik, dürfen aber nicht überbewertet werden. Entscheidend ist das Eintreten für andere, und dann sind sie ein starker Beitrag zur Ethik im Gottesdienst. Die Fürbitten können dann auch zur Einübung einer Haltung werden.

Die Liturgie als Einübung in die christliche Existenz

Der lutherische Theologe Bernd Wannenwetsch, Autor einschlägiger Studien, sowie eines Handbuchbeitrags, 7 sieht die ethische Dimension der Liturgie im grösseren Zusammenhang einer christlichen Lebenskunst. Die Regeln christlichen Handelns lernen die Feiernden nicht durch Theorie, sondern durch den Vollzug liturgischer Handlungen. Weil die Liturgie der erste und für ihn auch verbindliche Anwendungsfall dieser Regeln ist, ist sie Einübung einer vom christlichen Ethos getragenen Haltung. Auch die Fürbitte wird als ein solcher Lernort identifiziert. Anknüpfend an Spr 31,8 – «Tu deinen Mund auf für die Stummen» – benennt Wannenwetsch das Eintreten für andere als eine grundlegende politische Herausforderung für Christinnen und Christen. «Solche Fürsprache hebt nun bezeichnenderweise im Gottesdienst an, in welchem Menschen lernen, anderen Menschen ihren Mund zu leihen. Fürbitte besteht nicht primär in spektakulären Aktionen, (…) sondern im ‹beharrlichen› Eintreten für andere Menschen, wie dies in der Fürbitte eingeübt wird (Eph 6,18). So wird die gottesdienstliche Fürbitte auch zur Fürsprache ausserhalb des Gebets anleiten. Wer vor Gott seinen Mund für die ‹Stummen› auftut, vermag auch vor der Welt und ihren Mächtigen denen seine Stimme zu leihen, die keine eigene haben oder in der Welt kein Gehör finden.»8 Wie bei Steffensky geht es hier um Gewissensbildung durch die Liturgie, wie dieser spricht er sich gegen eine Verzweckung von Gottesdienst aus und thematisiert, wie die Feier das Verhalten prägt oder prägen kann.

Wannenwetsch legt Wert darauf, dass es nicht nur um die individuelle christliche Existenz und nicht nur um eine Individualethik geht: «Im Gottesdienst geht es um nicht weniger als um eine Einübung ins Bürgersein. Der Gottesdienst als zentrales Versammlungsgeschehen der ‹Mitbürger der Heiligen› (Eph 2,19) setzt eben nicht individuelle ‹Christenmenschen› ins Verhältnis zueinander, sondern ‹Christenbürger›, Menschen also, die als Glieder des Leibes Christi immer schon auf eine politische Weise aufeinander bezogen sind: von Christus, dem Haupt, regiert, dem ‹Gesetz des Herrn› (Röm 8,2) verpflichtet und zur gemeinschaftlichen Prüfung des Willens Gottes gerufen (Röm 12,2).»9

Für die Feier der Liturgie heisst das, die christliches Handeln prägenden Vollzüge müssen als solche identifiziert werden – die Fürbitte ist nur ein Beispiel, Wannenwetsch nennt ausserdem das Hören des Wortes Gottes, die Taufe, den Friedensgruss, «Darbringung» und Eucharistie, weitere liessen sich ergänzen –, und sie müssen ihrem genuinen liturgischen Sinn entsprechend vollzogen werden.

Ursachen für die Spannung von Liturgie und Ethik

Theologisch lässt sich viel Konstruktives über das Verhältnis von Liturgie und Ethik sagen. Das zeigte sich beim Festanlass zum 50-Jahr-Jubiläum des Liturgischen Instituts, das zeigt auch der Blick in die Literatur zum Thema. Aber übersteht das den Praxis- Test? In vielen Fällen wird man das bejahen können, denn Christinnen und Christen, die sich diakonisch, politisch, gesellschaftlich engagieren, bringen das, was sie dabei erlebt haben, im Gebet oder anderen Formen in die Liturgie ein, schöpfen Kraft durch die Feier und übersetzen das in den Gottesdienst ihres Lebens. Zuweilen wird das sehr unscheinbar sein, anderes wird öffentlich, z. B. bei einem Gottesdienst anlässlich des internationalen Menschrechtstags. Eine Spannung zwischen Liturgie und einem sich daraus speisenden christlichen Ethos, einer Lebensform, wird man wohl dennoch nicht leugnen können. Das hat viele Gründe, nur zwei seien hier abschliessend angesprochen.

1. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Wannenwetsch hat darauf hingewiesen, dass sowohl die Individualisierung der Ethik wie die Individualisierung im Gottesdienst neuzeitliche Phänomene sind. Neue Entwürfe von Sozialethik und das Interesse für die ethische Dimension der Liturgie waren in den USA in den letzten Jahrzehnten zeitgleich zu beobachten. Es stellt sich damit die Frage, welche Bedeutung die Gemeinschaft im Spannungsgefüge von Liturgie und Ethik spielt. Alttestamentlich gehören Bundesgott und Bundesvolk, Gebet und Leben aus der Tora zusammen. Neutestamentlich hat christliches Handeln seinen Ort in der Gemeinschaft der Getauften.

Die caritative Tätigkeit der frühen Kirche ging von der zur Feier versammelten Gemeinschaft aus. Diese Beobachtungen legen nahe, dass die Gemeinschaft von Christen, ihre Gottesdienste und Lebenspraxis zusammengehören.10 Wenn Gemeinschaft im Gottesdienst wenig erfahrbar ist oder individualisierte religiöse Bedürfnisse den Gottesdienstbesuch bestimmen, wird das Konsequenzen für das Verhältnis von Liturgie und Ethik haben: Es wird den Einzelnen überlassen, ob und wie sie damit umgehen. Das entspricht auch dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Christinnen und Christen sich bewegen. Wie das Beispiel der Pfarrei Schwechat zeigt, muss das nicht so sein. Eine Gemeinschaft wie «S. Egidio» zeichnet sich durch zugleich intensives liturgisches und beeindruckendes soziales und politisches Engagement aus.

2. Die Verbindung von Liturgie und Ethik muss in der Feier selbst erlebbar sein. Die Kollekte stellt ohne Zweifel den Zusammenhang beider Lebensbereiche her und kann deshalb noch einmal als Konkretion dienen. Erlebbar war die Einheit von Feier und diakonischem Handeln in den ersten christlichen Jahrhunderten, wenn die Feiernden bei der Gabenbereitung Naturalien brachten, die der Diakon hinterher an die Bedürftigen verteilte. Heute erfolgt der Transfer von der Liturgie zum Handeln in Form von Geld. Die sinnliche Qualität fehlt, die Kollekte ist ein eher technischer Vorgang. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Die allermeisten Bedürftigen klopfen nicht mehr an die Sakristeitür, denn sie leben in den unterschiedlichsten Regionen der Welt. Kirchliche Hilfswerke nehmen deshalb die kollektive, auch politische Diakonia wahr. Aus Gründen der Effektivität und Durchsetzbarkeit von Veränderungen ist das nicht nur sinnvoll, sondern geboten.

Der Zusammenhang von Liturgie und Ethik entzieht sich damit jedoch ein Stück weit der Erlebbarkeit. Der Schritt von der Liturgie zum Gottesdienst des Lebens wird schwieriger durch die abstrakte Geldgabe und die Delegation an eine Organisation. Die Gemeinschaft kann jedoch gestärkt werden, wenn jene, mit denen das Geld geteilt wird, ein Gesicht bekommen. Dazu tragen nicht zuletzt die kirchlichen Hilfswerke bei.

Das Thema ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Für die Arbeit des Liturgischen Instituts ergeben sich aus dem hier Dargelegten Impulse und Aufgaben: den Zusammenhang von Liturgie und Ethik thematisieren, den Gemeinschaftscharakter der Liturgie stärken, liturgische Grundvollzüge erschliessen wie das Hören des Wortes, das Einstehen für andere im Gebet, das Teilen von Gaben (Kollekte, Eucharistie) usw. und nicht zuletzt das absichtslose Feiern fördern.

 

 

1 Praxis gottesdienst Heft 9/2011, 1. Weitere Infos unter: http://www.pfarre-schwechat.info/joomla/pdf/Brot_teilen-Dezember2012.pdf (Zugriff 17. Juli 2013).

2 Schlussgebet am 9. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C.

3 Den Festvortrag hielt Prof. Dr. em. Fulbert Steffensky (dazu weiter unten). Mit Statements trugen Antonio Hautle (Fastenopfer), Werner de Schepper (teleBärn), und Prof. Dr. Birgit Jeggle-Merz (Liturgiewissenschaftlerin in Chur und Luzern) zur Diskussion bei.

4 Vgl. dazu z. B. den Sammelband: Die diakonale Dimension der Liturgie. Hrsg. von Benedikt Kranemann u. a. Freiburg i. Br. 2006.

5 Die Zitate stammen aus dem unveröffentlichten Manuskript von Fulbert Steffensky, dem herzlich gedankt sei für seinen Vortrag am 17. Juni 2013 in Zürich und die schriftliche Fassung.

6 Fulbert Steffensky war Mitbegründer des Politischen Nachtgebets. Im zweiten Teil seines Vortrags ging es um «Gottesdienste mit politischen Absichten», die genauso berechtigt sind wie die ohne Absichten.

7 Bernd Wannenwetsch: Gottesdienst als Lebensform. Ethik für Christenbürger. Stuttgart 1997; vgl. auch den lesenswerten Überblicksartikel des gleichen Autors, in: Handbuch Gottesdienst der Kirche: Die ethische Dimension der Liturgie, in: Theologie des Gottesdienstes, Bd. 2 ,2: Gottesdienst im Leben der Christen. Hrsg. von Martin Klöckener u. a. Regensburg 2008, 359– 401.

8 Wannenwetsch, Handbuch (wie Anm. 7 ), 385 f.

9 Ebd., 374.

10 Vgl. dazu Barbara Feichtinger: Liturgie und soziales Handeln. Afrikanische Praxis als Inspiration. Stuttgart 2008, besonders 296 –320.

Gunda Brüske

Gunda Brüske

Dr. theol. Gunda Brüske ist Co-Leiterin des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz.