Licht und Schatten unter dem Triglav

Slowenien steht fast 30 Jahre nach dem Übergang vom Kommunismus zur Demokratie vor grossen gesellschaftlichen Herausforderungen. Neuere Entwicklungen geben Hoffnung.

Im Jahr 1909 legte der Klassiker der slowenischen literarischen Moderne Ivan Cankar (1876–1918) in einer seiner Erzählungen der Hauptperson das folgende Lied auf die Lippen: «O Heimat, als Gott dich erschuf, segnete er dich mit beiden Händen und sprach: ‹Hier werden lustige Menschen leben!› Geizig bemass er die Schönheit, als er von Ost bis West die Erde bestreute [...] Zuletzt blieb ihm eine ganze Handvoll Schönheit; er schüttete sie nach allen vier Seiten, von den steirischen Weinbergen bis zur steilen Küste Triests und vom Triglav1 ins Bergland [...] Gottes Saat ging auf und trug – ein Himmelreich erwuchs um den Triglav.» Aber schon einen Augenblick später, als der Sänger sich in ein Dorf unten im Tal begibt, findet er dort nur Elend, Trauer, Krankheit und Alkoholismus.2

Konturen des Schattens

Auch 110 Jahre später behalten verschiedene Aspekte der Klage Cankars noch ihre bittere Aktualität. Das Alpenland, das Ende der 90er-Jahre wegen des erfolgreichen Übergangs vom Kommunismus zur Demokratie und zur besser funktionierenden Wirtschaft als Erfolgsgeschichte bezeichnet wurde und 2004 der EU beitrat, hat bis heute wichtige innere Probleme nicht gelöst. Die sogenannte «wilde Privatisierung» aus den ersten Jahren des unabhängigen Staates verursachte eine unverhältnismässige Verteilung des Reichtums; heute leben immer noch mehr als 18 Prozent der Bevölkerung unter oder knapp an der Armutsrisikoschwelle. Ein Zeichen fehlender Stabilität ist auch die Tatsache, dass jedes Jahr bis zu 10 000 slowenische Bürger das Land verlassen, während in der gleichen Zeit eine um Tausende höhere Zahl an Einwanderern aus den ärmeren Balkanstaaten einreist. Diese Arbeiter werden nicht selten für niedrige Löhne angestellt und in menschenunwürdigen Wohnungen untergebracht.

Insbesondere ist auch die Frage nach der Reli- gionsfreiheit zu stellen. Denn der Wechsel zu einem demokratischen Verständnis der Rolle der Religion findet in der Gesellschaft nur mit Verzögerung statt. Den Grund dafür sieht der slowenische Rechtsgelehrte Andrej Saje (*1966) vor allem in der geschichtlich belasteten Interpretation der strengen Trennung von Kirche und Staat. Besorgniserregend ist das immer häufigere Aufkommen von Hassreden und von Ungleichbehandlung von Gläubigen im öffentlichen Leben. Auch innerkirchlich ist die Situation nicht einfach: der Bankrott einer der sechs Diözesen im Jahr 2013 erschütterte das Vertrauen vieler Gläubigen.

Strahlen des Lichts

Auf der anderen Seite gibt es in der slowenischen Gesellschaft in den letzten Jahren nicht wenige positive Zeichen, dass der demokratische Übergang vielleicht doch gelingen wird. Über sein Engagement für das im Jahr 2017 errichtete Denkmal für alle Kriegsopfer des 20. Jahrhunderts hinaus ist beim Staatspräsidenten Borut Pahor zu spüren, dass seine Bemühungen für die Versöhnung zwischen den Erben der Kommunisten und denen der Anti-Kommunisten ernst gemeint sind. Eine positivere Rolle hat in der letzten Zeit das Verfassungsgericht, das nicht mehr nur die sogenannte «negative», sondern auch die «positive» Religionsfreiheit in Schutz nimmt.

Die katholische Kirche selbst ist immer noch einer der wichtigsten Akteure der Zivilgesellschaft, die jede Woche die grösste Anzahl an Menschen untereinander verbindet und ihnen Gelegenheit für das geistliche und soziale Engagement bietet. So gibt es beispielsweise in 458 von 687 Pfarreien eine Stelle der Caritas mit insgesamt fast 11'000 ehrenamtlichen Mitarbeitern. Die Caritas beteiligt sich an vielen Aktivitäten: Sozialhilfeprogramme unterstützen Drogenprävention und -rehabilitation, sensibilisieren die Öffentlichkeit für die Auswirkungen des Klimawandels, errichten Heime für Mütter und bieten Migranten und Opfern von Menschenhandel Hilfe an. Eine erfolgreiche Geschichte sind unter anderem die Aktion Sternsingen und die Sommerfreizeiten für Kinder in den Pfarreien.

Der Wirkungsraum der slowenischen Kirche bleibt breit, und sogar Cankars Sänger würde heute ein fröhlicheres Lied singen können. Aber die Herausforderungen der Zeit sind gross: Der Glaube ist tiefer und persönlicher und das Zeugnis klarer und leidenschaftlicher zu gestalten. Wie werden unsere Mitmenschen sonst erfahren können, dass die christliche Berufung eigentlich eine ständige Einladung zum Fest mit dem Herrn ist: «Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind»?

Matej Pavlic

 

1 Mit 2864 m. ü. M. der höchste Berg und das Nationalsymbol Sloweniens (Triglav = Dreikopf).

2 Vgl. Cankar, I., Kurent, dt. Übersetzung, Klagenfurt 1999.


Matej Pavlic

Dr. iur. can. Matej Pavlic (Jg. 1978) ist Priester der Erzdiözese Ljubljana und Mitarbeiter des Bischöflichen Kirchengerichts in Ljubljana.