Früchte auch für die Verlierer

1847 traten sieben Kantone aus der Eidgenossenschaft aus. Die anderen mobilisierten ein Heer von 100 000 Mann und siegten. Der Sonderbundskrieg gebar den Bundesstaat und prägte den Schweizer Katholizismus.

Die moderne Schweiz mit ihrer Verfassung, ihren konstitutionellen Organen und ihrem bis heute anhaltenden stolzen Selbstbewusstsein verdankt ihre Entstehung dem für uns Katholiken eigentlich verhängnisvollen Jahr 1847. Damals siegten die liberal-radikalen Kräfte im letzten Krieg, der auf Schweizer Boden gefochten wurde, im Sonderbundskrieg; sie schufen ausgehend davon im darauffolgenden Jahr den Bundesstaat und bestraften die besiegte Minderheit für Jahrzehnte mit diskriminierenden Artikeln in der Verfassung und dem Ausschluss von der politischen Exekutivmacht. Es dauerte Ewigkeiten, bis diese offensichtlich aus Rache und Angst vor Gegenreaktion erfolgten Ungerechtigkeiten beseitigt waren: Der erste Vertreter der Katholisch-Konservativen wurde erst 1891 in die Regierung gewählt (der Luzerner Josef Zemp), und die konfessionellen Ausnahmeartikel (das Verbot der Tätigkeit des Jesuitenordens, Artikel 51, und das Verbot der Schaffung neuer Klöster, Artikel 52) wurden gar erst 1973 nach einer gehässig geführten Volksabstimmung mit nur 54,9 Prozent Ja-Stimmen aufgehoben. Fünfeinhalb Stände, darunter auch Zürich und Bern, stimmten auch damals noch mit Nein. Von «meterhohem Schutt konfessionellen Haders» war in den Nachbetrachtungen zur Abstimmung die Rede. Einige Relikte blieben für immer: Im Kanton St. Gallen gab es noch bis heute keinen Erziehungsdirektor, der der CVP angehörte; freisinnige Katholiken hingegen war in diesem Amte erwünscht!

Es ist für uns mehr als einhundert Jahre später Geborenen nun schon eigenartig zu sehen, wie viel gerade die katholische Kirche in der Schweiz diesem für sie doch eigentlich verhängnisvollen Datum verdankt. Die Sieger diskriminierten zwar, aber das Gebilde Bundesstaat, das sie schufen, war kein zentralistisches Diktat Bismarck’scher Prägung, sondern ein aus heutiger Sicht eigenartig perfektes Produkt der Umsetzung zentraler Werte der christlichen Soziallehre, von Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität. Wer etwa den «NZZ»-Artikel von alt Ständerat Riccardo Jagmetti (26.10.2018) über die Diskussionen zwischen Johann Jakob Rüttimann und Alfred Escher im Vorfeld reflektiert, erkennt, dass auf der «Sieger-Seite» mehr Einsicht herrschte als etwa 1919 in Versailles!

Viele der Grundideen des Bundesstaates, etwa das Kollegialitätsprinzip und die Rotation der Macht in den Exekutiven, faszinieren darum als Elemente angebotener Versöhnung und bewussten Verzichts auf absolute Macht. Aber noch weiter und viel mehr: Der Bundesstaat prägte den Katholizismus. Wer die dem Zweiten Vatikanischen Konzil folgenden Synoden in den Diözesen erlebte und wer die Arbeit und Tonalität in einem Deutschschweizer Priesterrat wahrnimmt, erkennt, wie sehr die katholische Kirche in der Schweiz «schweizerisch-katholische Kirche» geworden ist, ein Terminus, den ein Mitbruder, der ursprünglich aus Nigeria stammt, ironisch-kritisch prägte.

Es lässt sich folgern, dass anständig und in pä- dagogisch nicht überzogenem Ausmass ausgeübte «Siegerjustiz» durchaus Früchte tragen kann, für die auch die damaligen «Verlierer» dankbar sind. Nichts macht dies deutlicher als die eigenartige Kritik eines Kirchenmannes, der die Ergebnisse dieser Entwicklung «dysfunktional» nannte. Man könnte mit Blick auf die Schweizer Geschichte seit 1848 und ungeheure Stabilität, die sie auch im konfessionellen Zusam- menleben schuf, umgekehrt durchaus von «funktional» und «organisch gewachsen» sprechen. Aber es existieren anscheinend unterschiedliche Betrachtungsweisen, je nachdem ob jemand in South Dakota oder etwa in einem der Schweizer Kantone mit gemischten Machtverhältnissen aufgewachsen ist.

Es lässt sich am Beispiel der Ausnahmeartikel aber auch feststellen, dass es durchaus schwierig und von langer Dauer sein kann, diskriminierende Strukturen als solche zu erkennen und rechtzeitig zu beseitigen. Dass der «zentralistische Apparat», als den unsere katholische Kirche bis heute immer wieder (zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt) wahrgenommen wird, dies erleichterte, muss uns Spätgeborenen Mahnung sein. Im demokratischen Spiel mitspielen fällt uns ja nicht so leicht!

Heinz Angehrn


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.