Lernende und Lehrende zugleich

Die klare Rollenverteilung zwischen Lehrperson als Lehrendem und Schüler als Lernendem löst sich auf. Im Religionsunterricht begegnen sie sich auf Augenhöhe und gehen gemeinsam auf einen Lernweg.

Partizipativer Unterricht macht den Lernenden Freude. (Bild: pxhere.com)

 

Die Religionspädagogin Frau X. betritt voll Elan den Unterrichtsraum. Stundenlang hat sie die heutige Lektion zum Thema Mahlgemeinschaft vorbereitet: Sie hat einen Bibeltext ausgewählt und didaktisch aufbereitet, Brot gebacken und Traubensaft gekauft. Die Jungen und Mädchen ihrer Lerngruppe sind bereits in eine Diskussion vertieft und rufen ihr entgegen: «Frau X., was sagt eigentlich die Bibel zum Klimawandel?» «Hätte Jesus auch gestreikt?» Was soll Frau X. nun tun? Alle ihre Pläne über den Haufen werfen und die gerade drängenden Fragen ihrer Lerngruppe aufnehmen oder den Unterricht wie geplant durchführen?

Hätte Frau X. in diesem Moment die Zeit und die Gelassenheit, das «Leitbild Katechese im Kulturwandel» zu konsultieren, würde sie im Leitsatz 3 unter dem Titel «Subjekt des Lernens» lesen: «In der Katechese sind alle beteiligten Mädchen und Buben, Frauen und Männer zugleich Lehrende und Lernende. Lernen ist ein konstruktiver und deshalb ein subjektbezogener Prozess und geschieht nicht durch Eintrichtern.»

Konstruktiv und subjektbezogen

Nach konstruktivistischem Lernverständnis muss Wissen von den Lernenden als Subjekt selbst aufgebaut, also konstruiert werden. Lernen ist ein aktiver Konstruktionsprozess, die Lernenden sind nicht passiv Aufnehmende, sondern aktive Gestalter ihres Lernprozesses. Beim Konstruieren ihres Wissens knüpfen sie an das an, was bereits als Vorwissen oder Präkonzept in ihnen vorhanden ist, ergänzen es mit neuen Erfahrungen und neuem Wissen oder müssen eine Korrektur oder Neukonstruktion vornehmen, wenn die bisherigen Konstrukte und die neuen Erkenntnisse nicht zueinander passen. Das Ergebnis des Lernprozesses ist ein verändertes Verständnis, das Postkonzept. Nicht nur hilfreich, sondern unbedingte Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Lernprozesses sind Emo- tionen und die persönliche Bedeutsamkeit des Inhalts für die Lernenden.

Hinter diesem Lernverständnis steht eine wertschätzende Sichtweise der Lernenden: Niemand kommt in den Unterricht als leeres Gefäss, das zu füllen ist. Vielmehr verfügt jeder schon über Erfahrungen und Wissen, die in das Lernen nicht nur einfliessen können, sondern an die sogar angeknüpft werden muss, damit es zu einer Erweiterung oder Veränderung des bisherigen Konzepts kommen kann.Für Frau X. heisst dies: Die Schüler könnten an ihr vorhandenes Wissen zu Klimawandel und Klimastreik anknüpfen, biblische Bezüge als neue Perspektive auf ein bekanntes Thema entdecken und beim Lernen von ihrem persönlichen Interesse getragen werden.

Lernen in der Gemeinschaft

Subjektorientierung bedeutet nicht, dass jede Person nur für sich allein lernt. Die Konstruktion geschieht nicht nur im individuellen Lernen, sondern hat auch eine soziale Komponente: Die Lernenden konstruieren ihr Wissen gemeinsam. Zusammen mit der Lehrperson bilden sie eine Lerngemeinschaft, profitieren voneinander und handeln neues Wissen in einem echten Dialog miteinander aus. Dieser gemeinsame Lern- und Verständigungsprozess wird als Ko-Konstruktion bezeichnet.

Frau X. müsste also keineswegs an dem geplanten Thema und Unterrichtsverlauf festhalten, weil sie nicht alle Fragen zum alternativen Thema spontan beantworten kann. Stattdessen könnte sie sich gemeinsam mit der Lerngruppe auf einen Lernweg begeben, auf dem sie mit ihrem inhaltlichen und methodischen Wissen das Lernen der Schüler unterstützt und nicht schon alle Antworten kennt.

Partizipation statt Belehrung

Aus einem aktiven Verständnis von Lernen folgt, dass es nicht Aufgabe der Lehrperson ist, Wissen zu vermitteln oder gar einzutrichtern. Vielmehr ist sie ein Coach, eine Lernbegleiterin. Im besten Fall, wenn Partizipation auch auf der Inhaltsebene stattfindet, entscheidet nicht die Lehrperson, was gelernt wird, sondern die Lernenden.

Entscheidend für den Mut und die Gelassenheit, Partizipation im Unterricht zuzulassen, ist das Rollenverständnis der Lehrperson: Sie sollte sich als Begleiterin der Lernenden verstehen und nicht als deren allwissende Belehrerin, die weiss, was richtig ist, und die auch, ohne nachzufragen, weiss, was die Lernenden interessiert. Alle Beteiligten müssen Unterricht als etwas Gemeinsames verstehen, an dem sie aktiv mitwirken und ihren Teil zum Gelingen beitragen. Wenn eine Lehrperson nicht die Fragen, Erfahrungen und das bereits vorhandene Wissen der Lernenden aktiviert und als Ausgangspunkt des Unterrichts nimmt, sondern einfach ihren Plan «durchzieht», kann aktives konstruierendes Lernen nicht stattfinden.

Konsequenz eines konstruktivistischen Lernverständnisses, das auf Partizipation Wert legt, kann sein, dass eine Lehrperson Themen und Unterrichtsmaterialien, die ihr ans Herz gewachsen sind, aufgeben muss, weil sie nicht mehr an die Fragen und Erfahrungen der Schüler anknüpfen. Auch inhaltliche Vorgaben von Lehrmitteln und Lehrplänen müssen sich an dem messen lassen, was die tatsächlichen Anliegen und Interessen der Schüler sind. Aufgabe der Lehrperson ist es, die Fragen der Lernenden zu erheben: Welche Fragen haben sie zu Beginn eines Lernjahres oder welche Fragen haben sie zu einem bestimmten Thema? Daraus kann ein differenzierter Unterricht erwachsen: Alle arbeiten am selben Thema, gehen aber auf unterschiedlichem Niveau und auf individuellen Lernwegen verschiedenen Fragen nach.

Mit einem konstruktivistischen Lernverständnis müsste sich Frau X. nicht grämen, dass die vorbereiteten Inhalte nicht gefragt sind. Vielmehr dürfte sie sich freuen, dass die Lernenden eigene Fragen in den Unterricht einbringen, die für sie persönlich relevant sind und sie zu Eigenaktivität animieren.

Lernen durch Handeln

Nach konstruktivistischem Verständnis geschieht Lernen vor allem im Handeln, also dann, wenn die Lernenden sich aktiv die Inhalte erarbeiten. Das kann durch eigenes Recherchieren und Experimentieren, aber auch durch das Führen eines Interviews oder die Arbeit im Bibelgarten der Kirchgemeinde geschehen.

Die Schüler von Frau X. könnten zum Schluss kommen, dass es aus christlicher Sicht wichtig wäre, sich am Klimastreik zu beteiligen und auf einem Plakat Position zu beziehen. Die Suche nach einem passenden Zitat aus der Bibel oder der päpstlichen Enzyklika «Laudato si'» für ihr Plakat würde sie in ganz anderer Weise zum Studium dieser Schriften motivieren als ein Hinweis der Lehrperson, dass das doch wichtige Texte seien, die man kennen müsse. Und wenn dann die Frage im Raum stünde, wie man Kraft und Mut gewinnt, um für die eigene Position einzustehen, könnte Frau X. sogar ihr ursprünglich geplantes Thema Mahlgemeinschaft nicht nur ins Gespräch bringen, sondern mit dem mitgebrachten Brot und Traubensaft ein stärkendes Gemeinschaftsmahl für die Lernenden erfahrbar machen.

Mehr als nur Unterrichtsqualität

Die Umsetzung des Leitsatzes 3 des «Leitbildes Katechese im Kulturwandel» sagt viel aus über das Menschenbild, das von einer Lehrperson und der Kirche, in deren Auftrag sie tätig ist, vertreten wird: Ein auf konstruktivistischem Lernverständnis beruhender Unterricht mit vielen Möglichkeiten zur Partizipation nimmt jedes Kind, jeden Jugendlichen, jeden Erwachsenen als unverwechselbares Individuum ernst und zeigt Wertschätzung für Vielfalt, die nicht als Bedrohung, sondern als Ressource gesehen wird.

Die sorgfältige Aufnahme der aktuellen Fragen und des vorhandenen Wissens im kirchlichen Unterricht kann ein Signal dafür sein, dass grundsätzlich in der Kirche das Individuum mit seiner Meinung und seinen Ressourcen gefragt ist. Und zwar nicht nur als Objekt, dem etwas vermittelt wird, sondern als Subjekt, dem man auf Augenhöhe gegenübertritt und das als Dialogpartner mit eigenständigen Überzeugungen gefragt ist und einen wertvollen Beitrag für das gemeinsame Lernen, Denken und Handeln leistet.

Eva Ebel

 

Die SKZ veröffentlicht in loser Folge Beiträge zu den zwölf Leitsätzen zum «Leitbild Katechese im Kulturwandel». Weitere Informationen zum Leitbild finden sich unter www.reli.ch

 


Eva Ebel

Prof. Dr. Eva Ebel (Jg. 1971) ist Dozentin für die Didaktik des Faches «Religionen, Kulturen, Ethik» am Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Mitglied der Synode der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich.

 

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