Leibhaftig Beten

Warum beten Menschen und was passiert im und durch das Gebet? Was unterscheidet das Gebet vom meditativen theologischen Nachdenken? Eine durchbetete Theologie, die das rationale Denken mit der spirituellen Erfahrung in Verbindung setzt und dabei auch den Lebensbezug wahrt, erscheint als Garant von Authentizität. Thomas Fries gibt Einblicke in ein Forschungsprojekt.

Die Kirchenväter waren ganz selbstverständlich "betende Theologen". Und auch der mittelalterliche Theologe Anselm von Canterbury ging davon aus, dass sich im Beten der Glaube, der sein Verstehen sucht, zu klären vermag. Im 20. Jahrhundert betonten u. a. Karl Rahner und ebenso Gerhard Ebeling die Notwendigkeit des Zueinanders von Gebet und Theologie, wobei für Letzteren der Gebetsvollzug Grundlage seines theologischen Denkens und seiner Dogmatik gewesen ist. Für jede "durchbetete Theologie" und jeden "durchbeteten Glauben" kann gelten: Die Glaubenseinsicht soll sich nicht allein und nicht primär auf dem Wege einer vom Lebenskontext abstrahierten wissenschaftlichen Reflexion einstellen, sondern verknüpft sein mit dem Vollzug des Betens. Das Beten wiederum bewegt sich nicht jenseits von (theologischem) Denken und Verstehen, auch wenn es dessen Grenzen auslotet und das Verstehen zu weiten vermag.

An die Grenzen des Verstehens kommt das Gebet gleich in mehrfacher Hinsicht: indem es eine Wirklichkeit anspricht, die alles Verstehen übersteigt (Gott); indem es Lebensphänomene zur Sprache bringt, die sich dem Verstehen widersetzen (z. B. Leid); indem es selbst einen Lebensvollzug darstellt, der sich dem Verstehen entzieht ("mystische Dimension" des Gebets).1 Die Eigenart des (religiösen/theologischen) Verstehens, das im und durch das Gebet erschlossen wird, wurde bisher noch kaum untersucht. Diese Lücke aufgreifend widmete sich ein an der Universität Zürich verortetes und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstütztes Forschungsprojekt mit dem Titel "Beten als verleiblichtes Verstehen. Hermeneutische Zugänge zum Ereignis des Gebets". Es geht also um die Erschliessung dessen, was durch den Gebetsvollzug an religiösem Verstehen geschieht. Die folgenden Überlegungen schliessen an dieses Projekt an und umreissen einige Kerngedanken zur Frage, was das Gebet ausmacht und welche Bedeutung das Beten mit Leib und allen Sinnen für eine zeitgemässe Spiritualität haben kann. Dabei wird das nicht immer einfache Verhältnis der christlichen Spiritualität zur menschlichen Leiblichkeit durchstreift und der exemplarische Bezug zu Fragen der spirituellen Begleitung und der Gebetspraxis aufgegriffen. Gerade im Kontext von Krankheit, die den Menschen bis in seine Leiblichkeit hinein berührt, können sich existenzielle Fragen einstellen, die im Gebet nach einem Verstehen suchen.

Beten, um zu verstehen

Was geschieht im Gebet? Was zeichnet das Gebet aus? Eine einfache Feststellung mag als Denkanstoss genügen: Dem Betenden kann sich im Vollzug des Gebets etwas erschliessen, was sonst verschlossen bleibt. Beten ermöglicht ein Verstehen, das über rein kognitives menschliches Verstehen hinausreicht bzw. dieses ergänzt. Dabei geht es um ein Verstehen religiöser Art, das im Gebet ermöglicht werden kann, das dort zugleich aber auch an seine Grenzen gerät. Gerade an den Grenzen des Verstehens, wo das grosse "Was? Wie? Warum?" erklingt, erweist sich die besondere hermeneutische Qualität des Gebets. Solche Grenzen sind erreicht angesichts des Widersinns des Leidens ebenso wie beim Nicht-Verstehen seiner selbst und der Unbegreiflichkeit Gottes.

Darum darf im Ereignis des Betens das Nicht-Verstehen seinen Platz haben und Neu-Verstehen sich einstellen. Und doch werden, trotz des responsiven Charakters des Gebets, nicht einfach fertige Antworten auf die existenziellen oder situativen Fragen gegeben wie etwa diejenige nach dem Sinn einer Krankheit. Gott reicht uns als Gegenüber im Gebet keine fertigen Konzepte für den Umgang mit Widersinn. Wo dem Menschen die Worte angesichts von Unheil und Leid verstummen oder das Erstaunen über Widerfahrenes die Sprache verschlägt, setzt das Schweigen ein. Wortreiches oder wortloses Beten, Beten angesichts von Leid und Schmerz, Beten an der Grenze des Verstehens sind unterschiedliche Facetten des einen betenden Vorgangs. Dabei rückt auch die leibliche Dimension des Gebets in den Fokus des ökumenisch angelegten Forschungsprojekts.

Welche Bedeutung kommt der leiblich-sinnlichen Dimension des Gebets für das religiöse Verstehen zu und wie ist die (leib-sinnliche) Sinnerschliessung im Gebet zu fassen? Besondere Relevanz erhalten diese Fragen, da die Dichotomie von Leib und Seele, wie sie in der okzidentalen Geistesgeschichte seit der Antike anzutreffen ist, bis heute in die christliche Spiritualitätsgeschichte hineinwirkt. Die Überwindung der Kluft zwischen Leib, den Sinnen und Spiritualität kann durch neuere phänomenologische Ansätze gelingen und entfaltet ihre Tragweite bis in die Gebetspraxis und die spirituelle Begleitung hinein.

Ambivalentes Verhältnis zum Leib und den Sinnen

Dass Spiritualität und Leiblichkeit/Sinnlichkeit in der christlichen Theologie in einem unvorteilhaften Spannungsgefüge stehen, hat im Laufe der Geschichte zu manchen, aus heutiger Sicht betrachtet, befremdlichen Frömmigkeitsvorstellungen und -praktiken geführt. Dem Leib und den Sinnen wurde und wird eine gegenüber der Seele/ dem Geist subordinierte, wenn nicht sogar pejorative Rolle beigemessen – als ob der Leib platonisch gesprochen der "Kerker der Seele" sei.2 Oft ist von der Leib- und Sinnenfeindlichkeit der christlichen Spiritualität die Rede, für die gerne der Einfluss des für die okzidentale Theologiegeschichte bedeutenden Theologen und Kirchenvaters Augustinus geltend gemacht wird. Mit Blick auf Augustinus selber aber lässt sich sagen3: Dieses Urteil greift zu kurz, wird doch übersehen, dass die antike hellenistische Geisteswelt durchzogen war von tendenziell oder explizit dualistischen Weltanschauungen, die insofern "kulturell-kontextuell" dichotomisch anmutende Denktendenzen in Bezug auf Leib und Seele wie selbstverständlich rezipiert haben. Zudem war die Gebetspraxis der Gläubigen schon in der Alten Kirche, im Mittelalter und der Neuzeit von einem leiblichen Bewusstsein geprägt, wenngleich die Bedeutung des Leibes für das Gebet über Jahrhunderte hinweg theologisch wie unterbelichtet erschien oder nur am Rande in die theologische Reflexion Eingang fand. Die Leiblichkeit wurde auf spezifische Vollzüge in Gebet oder Liturgie, wie etwa das Kreuzzeichen oder das Sich-Niederknien, begrenzt und bestenfalls allegorisch gedeutet, wie etwa in den (früh-) mittelalterlichen Messauslegungen. Jedoch wurde der Leiblichkeit keine sinnerschliessende Aufgabe zuerkannt, sondern theologische Ideen wurden auf die leiblichen Vollzüge interpretiert. Damit ist angezeigt, die Rolle der Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschen im Gebetsvollzug für heute theologisch zu bedenken und zu würdigen. Tatsächlich finden bisher diese Überlegungen in der Gebetstheologie wenig Beachtung, obgleich mit der Liturgie und den Sakramenten höchst leibliche Vollzüge in die konkrete Gebetspraxis Eingang finden. So gilt es, phänomenologisch von der leiblichen Sinnerfahrung im Gebet auszugehen, um das religiöse Verstehen, das im Gebet geschieht, zu verstehen.4

Leib-sinnliche Sinnerschliessung im Gebet

Welche Rolle spielt der Leib und spielen die Sinne im Gebetsgeschehen? Wie sind die Sinne mit dem im Gebet stattfindenden Verstehensprozess verbunden? Das Gebet ist ein vielfältiges Geschehen. Neben dem expressiven und verbalen Gebet wie dem Lob, dem Dank, der Bitte und der Klage gibt es rezeptive Gebetsformen wie das Meditieren und die Kontemplation. Allen Gebetsweisen, seien diese individuell oder gemeinschaftlich ausgeübte, scheint gemein, dass sie auf leibliche Weise zur Verinnerlichung des Gebetsinhalts führen. Dies gilt für das Gebet unter Einbeziehung der Stimmlichkeit und des Gehörsinnes (Gebet und Musik/Gesang) ebenso wie für die mentalen Gebetsformen. Auch ist der Leib immer mit einbezogen in den Gebetsvorgang (Sitzen, Stehen, Knien, Gehen, Liegen). Wer betet, der lässt sich darauf ein, dass ihm Gott als der Angeredete eine Antwort gibt, und zwar möglicherweise anders, als der Betende es sich vorgestellt hat. Gottes gegebenes und vom Menschen gehörtes Wort ist der Anfang des Gebets. Dieses Wort will sodann innerlich "verkostet" werden, damit sich daraus eine Frucht ergibt, die im Leben "leibhaftig" umgesetzt wird. Leibhaftig ist das Gebet jedoch schon vor der möglichen Umsetzung einer gewonnenen Einsicht in die Tat. Dies wird besonders durch den ekklesialen Charakter des liturgischen Gebets deutlich: "Das leibliche Beten der Gemeindemitglieder ist getragen durch das Gebet der Kirche als Leib Christi und damit stets mehr als das, was sich dem beobachtenden Blick auf seine bloss äusseren Vollzüge erschliesst."5 Was für das Gebet in Gemeinschaft gilt, gilt ebenso für das Gebet des Einzelnen "im stillen Kämmerlein", denn jedes Gebet eines Christen steht in Bezug zu Christus und der Kirche. Einzuschwingen in das Gebet der Kirche sorgt dafür, dass sich bereits präreflexiv über den leiblichen und sinnlichen Vollzug (Gesten, Gebärden, Hören, Wahrnehmen und Empfinden) ein Verstehen dessen, was gebetet wird, einstellen kann. So lässt es sich erklären, weshalb bereits Kinder mitbeten können und sie durch das Mitbeten und Selberbeten eine religiöse Prägung und Identität erhalten. Sinn und Sinnlichkeit durchdringen sich gegenseitig im Gebet: "In der intersubjektiven bzw. zwischenleiblichen öffentlichen Praxis gemeinschaftlichen Betens verflechten sich auf sinnlich-performative Weise objektive Sinnmanifestation und subjektive Sinnkonstitution. Der Raum des Verstehens, der durch eine solche Gebetspraxis eröffnet wird, ist weiter als der Raum der Gründe, in dem sich die Theologie bewegt."6 Mit anderen Worten gesagt stellt bereits die Anwesenheit des/der Betenden eine leibliche Präsenz dar, die für eine (zwischenleibliche) Resonanz sorgt, der ein spiritueller und theologischer Charakter eigen ist. Grenzen des (leib-sinnlichen) Verstehens sind nicht zuletzt dort erreicht, wenn es um Lebensphänomene geht, die das "alltägliche" Verstehen übersteigen, wie etwa in schwerer Krankheit.

An den Grenzen des Verstehens: Krankheit als Herausforderung

Beten Menschen anders, wenn sie krank sind? Welche Rolle spielen gewisse Gebetsformen wie das Bitt-, das Lob- oder das Dankgebet in Zeiten von Krankheit? Welche spirituellen Bedürfnisse und welche Erwartungen an das Gebet haben schwer erkrankte Menschen? Welche Rolle spielt die leib-sinnliche Komponente beim Gebet in Krankheit? Dies alles sind relevante Fragen, wenn es um die konkrete Gebetspraxis und die spirituelle Begleitung von Menschen vor allem auch in der Spitalseelsorge geht.7 Es gibt gewisse Krankheiten wie die Demenz, die den Menschen derart kognitiv einschränken, dass dieser keinen bewussten Glaubensinhalt abzurufen vermag. Wie kann dabei das Beten gelingen?

Der schottische Professor John Swinton (Aberdeen) ist ein Impulsgeber, der aufzeigt, dass gerade bei an Demenz erkrankten Menschen ersichtlich werden kann, wie sehr ein Leben lang eingeübtes leibliches Beten zur Verinnerlichung unseres Gebets- und Glaubenslebens führen kann.8 Swinton geht aus vom "liturgischen Selbst", das nicht rein auf der Kognitionsebene verankert ist, sondern sich durch unzählige Male (auch durch die Teilnahme am liturgischen Gebet der Kirche) wiederholte Gebetsrituale im Leib-Gedächtnis des Menschen ausbildet. Auch der erkrankte Mensch greift drauf zurück. Das Verstehen bewegt sich in diesem Fall jenseits der Kognition, jedoch geschieht es durch den Gebetsvollzug und verbunden mit dem Leib. Der Mensch versteht, indem er leiblich betet: Das Kreuzzeichen wurde viele Male im Leben eingeübt und die Bezeichnung mit dem Kreuz erhält durch den betenden Vollzug ihre verinnerlichte und verleiblichte Bedeutung. Ebenso verhält es sich mit Gebetsworten wie dem Vaterunser, dem Ave Maria oder auch bestimmten Kirchenliedern, die ein Mensch ein Leben lang gehört und verinnerlicht hat.

Das Gebet ist ein komplexes Phänomen, das sich unserem Verstehen auf den ersten Blick entzieht, bei dem jedoch unser ganzes Sein als Menschen "im und mit Leib" ernst zu nehmen ist. Der betende Vollzug selbst, mit Leib und Sinnen, kann uns auf die Spur führen, immer besser zu verstehen, worum wir bitten und wie wir beten sollen, wie Paulus es bereits gesagt hat: "Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können" (Röm 8,26).

 

 

1 Ausführliche Leitgedanken in Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller (Hg.): Beten als verleiblichtes Verstehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets, Quaestiones Disputatae 275, Freiburg Br. 2016.

2 Vgl. aus profangeschichtlicher Sicht Peter Dinzelbacher: Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn u. a. 2007.

3 Vgl. u. a. zum leiblichen Beten bei Augustinus Thomas Fries: Eucharistische Spiritualität bei Augustinus von Hippo (Cassiciacum 53). Würzburg 2016. Ein weiteres Buch, das u. a. das leibliche Beten bei Augustinus als Impuls für die eucharistische Spiritualität aufgreift, wird in Kürze im Echter-Verlag in der Reihe "Augustinus heute" erscheinen.

4 Vgl. als gelungenes Gegenbeispiel den sakramententheologischen Entwurf von Louis-Marie Chauvet: Symbol und Sakrament. Eine sakramentale Relecture der christlichen Existenz (Theologie der Liturgie 8), übers. v. Thomas Fries, Regensburg 2015. Dieser geht aus phänomenologischer Sicht von der Leiblichkeit des Menschen aus, um die Rolle der Sakramente im christlichen Leben zu denken.

5 Vgl. Anm. 1 die Einleitung zu Ingolf U. Dalferth / Simon Peng-Keller (Hg.), 15.

6 Vgl. ibid.

7 Das nun auch an der Universität Zürich vertretene Fach "Spiritual Care" widmet sich diesen konkreten Fragen der Bedeutung von Spiritualität, der spirituellen Bedürfnisse und der spirituellen Begleitung von Menschen in Krankheit oder im Sterben.

8 Vgl. den Bericht zu einer Gebetstagung, zu der Prof. Swinton eingeladen war: Thomas Fries, Josef-Anton Willa: Diesseits und jenseits leiblichen Verstehens. Beten im Kontext von Spiritual Care (Tagung an der Universität Zürich, 1./2. Juli 2016), in: Spiritual Care 5 (2016), 335f. Ende 2017 wird ein Tagungsband erscheinen, in dem Swintons Gedankengang nachzulesen ist.

Thomas Fries

Dr. theol. Thomas Fries ist wissenschaftlicher Mitarbeiter mehrerer Forschungsprojekte an der Universität Zürich und Referent zu Spiritual Care, Spitalseelsorger und Mediator.