Lebenslange Passion für Franz von Assisi

Der Kapuziner Anton Rotzetter (1939–2016) hat ein immenses schriftstellerisches Werk hinterlassen. Sein Mitbruder Adrian Holderegger erschliesst dieses in einem umfangreichen Buch neu.

Stephan Leimgruber: Anton Rotzetter ging als grosser spiritueller Denker in die geistliche Landschaft des deutschsprachigen Raums ein. Sie haben ein prächtiges Lesebuch mit seinen wichtigsten Texten herausgebracht. Was bewog Sie dazu?
Adrian Holderegger1: Ich war während einiger Jahre Weggefährte von Br. Anton Rotzetter im Kapuzinerkonvent in Freiburg i. Ue. Wir standen – wie sollte es anders sein – in einem regen Austausch miteinander. Da lernte ich nicht nur seine Passion für Franz von Assisi kennen, sondern auch seine schriftstellerische Fähigkeit und rhetorische Kraft. Ursprünglich wollte ich mit ihm zusammen zu seinem 75. Geburtstag seine wichtigsten wissenschaftlichen Texte zu Franziskus herausgeben. Dieses Projekt verzögerte sich, und sein unerwarteter Tod am 1. März 2016 setzte diesem Vorhaben zunächst einmal ein Ende. Sein Tod, der auch vieles andere unvollendet zurückliess, war mir aber Anlass, das Vorhaben wieder aufzugreifen: Diesmal sollte das Buch nicht bloss wissenschaftliche Artikel umfassen, sondern als Lesebuch einen Querschnitt über sein gesamtes, immenses schriftstellerisches Werk bieten. Dies nicht zuletzt auch aus der Überzeugung heraus, dass er Bleibendes und Inspirierendes zur franziskanischen Spiritualität und zur «spirituellen» Theologie gesagt hat.

Im Zentrum seines Lebenswerks stand Franz von Assisi mit seiner Schöpfungsspiritualität. Wie relevant ist der Bezug zum Poverello in der heutigen Zeit?
Pädagoge wie er war, versuchte Br. Anton von Beginn seiner Auseinandersetzung mit Franz von Assisi, Botschaft und Anliegen in einer Art «Kurzformel» zusammenzufassen, um sie immer wieder neu auf Theologie und Spiritualität, aktuelle Situationen in Kirche und Politik zu beziehen und darauf hinzudeuten. Er war der Meinung, dass sich der Kern der franziskanischen Lebensform und Spiritualität in einigen «Brennpunkten» kreativ für Suchende und Fragende von heute formulieren lasse. Beispielsweise lebte Franziskus eine Spiritualität und Mystik des Paradoxes: Der Allerhöchste («altissimu») findet sich im Unscheinbaren, im Kleinen und Armen; er erweist sich als der Allerhöchste in der dienenden Hingabe. Im Bereich des Sozialen hatte Franziskus eine Vision der universalen Versöhnung, einer universalen Tischgemeinschaft aller, einer geschwisterlichen Beziehungsgemeinschaft, die als Konstitutivum aller Gemeinschaften zu gelten hat. Für die Schöpfung hatte Franziskus eine Vision, in der alles und jedes einen Hinweischarakter auf den Schöpfer hat und alles miteinander im Prinzip der Geschwisterlichkeit verbunden ist (vgl. Sonnengesang). Dadurch erhält alles Seiende, insbesondere das Lebendige, sein individuelles «Gesicht». Das mir «Zuhandende» erschöpft sich deshalb nicht im Nutzwert. Was ich hier nur andeuten kann, war für Br. Anton von grösster Aktualität. Diese Impulse hat er unzählige Male in faszinierender und überzeugender Art und Weise ausbuchstabiert.

Umstritten waren Rotzetters Äusserungen zu den Tieren. Welche Konturen soll eine Tierethik heute haben?
Umstritten ist vor allem die Übertragung des Begriffs «Subjekt» auf die Tiere. In der Tat: Dies ist eine Provokation, zumal der Begriff «Subjekt» in der ethischen und moralphilosophischen Tradition dem Menschen als einem urteils- und moralfähigen Wesen vorbehalten ist. Mit dieser Vokabel griff Br. Anton aber einen Grundgedanken von Franziskus auf, der alle Geschöpfe in einen quasipersonalen Raum hob, in dem sie insgesamt Geschwister sind. Und Schöpfung ist erst dann als solche begriffen, wenn sie ein Beziehungsnetz ist, in dem alles einander Bruder und Schwester ist. Diese Gedanken sind in einer «spirituellen Sprache» formuliert, die sich der Analogie, der Bilder und Symbole bedient. In dieser Hinsicht kann man die üblichen Begriffe durchaus überdehnen. So sind die vielen rührend-poetischen, manchmal auch paradoxen Tiergeschichten, die von Franziskus erzählt werden, Symbolhandlungen. Sie verweisen auf eine grundsätzliche Haltung im Umgang mit der Schöpfung und insbesondere den Tieren: Dem Tier kommt eine eigene «Würde» zu, eine Art «Selbstzwecklichkeit», die einen respektvollen und nicht ausschliesslich instrumentalisierenden Umgang mit ihnen erfordert. Franziskus sah diese «Würde» der Tiere, die wir in gewisser Weise mit ihnen teilen, darin begründet, dass sie wie wir Angesprochene des Schöpfers sind und zum «Lobe Gottes» fähig sind. Für Br. Anton war daher klar, dass das Gebot der Nächstenliebe nicht nur dem Mitmenschen, sondern auch dem Tier gegenüber gilt. Der ethische (nicht der theologische) Kerngehalt seiner Position wird heute von vielen Ethikern geteilt.

Franziskus hatte einen unmittelbaren Zugang zur Heiligen Schrift und zielte sogar auf ihre buchstäbliche Befolgung. Ist eine solche Auslegung im Zeitalter der historisch-kritischen Exegese noch möglich?
Rotzetter äusserte sich in mehreren Studien zum Schriftverständnis von Franziskus. Für ihn war klar, dass Franziskus die Schrift radikal, aber nicht gesetzlich und buchstäblich auslegte. Dies gilt insbesondere auch für einige Stellen der Aussendungsreden (vgl. Mt 10,10), der Bergpredigt (Mt 5,48) und der Berufungs- und Nachfolgegeschichten (vgl. Mt 19,21; Lk 18,22), die zum Kerngehalt der franziskanischen Lebensform gehören. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach die erste Regel aus diesen wenigen Sätzen bestand, ergänzt um einige Bestimmungen, die für das gemeinsame Leben erforderlich waren. In der konkreten Praxis zeigte sich, dass Franziskus ein dynamisches Verständnis der evangelischen Radikalität hatte. Beispielsweise kommt in der Aussendungsrede (Mt 10,10) Schuhwerk für denjenigen, der die Botschaft hinausträgt, nicht in Frage. In der Auslegung durch Franziskus heisst es dann aber: «Die durch Not gezwungen sind, können Schuhwerk tragen» (nichtbullierte Regel 2,14). Und in einem Brief an seinen Gefährten Bruder Leo formuliert Franziskus so etwas wie ein Auslegungsprinzip: «Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn zu gefallen und seinen Fussspuren und seiner Armut zu folgen, so tu es mit dem Segen Gottes, und im Gehorsam gegen mich» (Franziskanische Quellen FQ 107). Der Ordensgründer entlässt seine Gefährten in die Freiheit der jeweils als besser erkannten Nachfolge. Das ist bemerkenswert. Ohne die Radikalität, in der sich Franziskus auf das Evangelium einlässt, aufzugeben, macht er deutlich, dass die Auslegung nichts mit einer gesetzlichen, fundamentalistischen Ausdeutung zu tun hat, aber mit einer Dynamik des Geistes, die das je Bessere sucht. Die ganze Geschichte der Kirche ist ein Ringen zwischen der Radikalität des Vermächtnisses Jesu und der «Inkorporation» in die jeweilige geschichtliche Situation. Aus dieser Spannung konnte sich der Orden des Franziskus auch nicht heraushalten. Aber seine grundlegende und vorgelebte Erkenntnis bleibt: Christliche Praxis ist nicht zu haben, ohne die radikal-geistliche Bindung an das Evangelium, aber auch nicht ohne kreative Auslegung in der «Freiheit des Geistes».

Kapitel IV ist mit «Spiritualität des langen Atems» überschrieben. Welche Impulse sind daraus für heute zu entnehmen?
Br. Anton versuchte, die franziskanische Botschaft bzw. Spiritualität in fünf Schwerpunkten zu fassen. Diese haben – wie er selbst vielfach ausdeutet – auch für eine heutige christliche Spiritualität ihre Bedeutung. 1) Der befreiende Bezug auf das Evangelium – für Franziskus war Gott ein Geheimnis, das sich im konkreten Menschen Jesus von Nazareth manifestierte. In der «Nachfolge» sind die Menschen aufgerufen zur freien, kontrafaktischen Bezeugung seines Geistes. 2) Die geschwisterliche Beziehung als Ort der Realisierung dieser «frohen Botschaft» – die Geschwisterlichkeit sah Franziskus in einer weltumspannenden Perspektive, und insofern revolutionär. 3) Der Absturz Gottes in die Niederungen des Menschlichen – die Armen, die «Minderen» der Gesellschaft bilden das zentrale Kriterium, an dem persönliches, kirchliches und öffentliches Handeln gemessen werden muss. Mit dem eigenen Leib soll unter ihnen Hoffnung entfacht werden. 4) Die Welt ist das Kloster – Franziskus kann sich in Absetzung von der monastischen Tradition nicht in ein festes Kloster zurückziehen; er muss zu den Menschen gehen in der ganzen damals bekannten Welt. Der religiöse, kulturelle und nationale Raum wird entgrenzt auf eine globale Perspektive. 5) Kirche als bleibender Bezug des franziskanischen Lebens – Franziskus weiss, dass nur die Einwurzelung in das spirituelle Erbe der Vergangenheit und die Einbettung in die ganze Tradition der Kirche das Tor offen hält für die Gottes- und Menschenbegegnung. Ist dies nicht Inspiration genug?

Interview: Stephan Leimgruber

 

 

1 Prof. em. Dr. Adrian Holderegger OFMCap (Jg. 1945) lehrte von 1982 bis 2012 Theologische Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Ue. Er ist Mitglied der Kommission «Würde der Tiere» des Bundeamtes für Veterinärwesen (BLV) wie auch Mitglied der Kommission für Tierversuche des Kantons Freiburg; ausserdem ist er «Ambassador for Peace» der UNO.

Buchempfehlung: «Leidenschaft für Franz von Assisi». Von Adrian Holderegger. Für den Kapuziner Anton Rotzetter stand die Gestalt des Franz von Assisi im Zentrum seines Lebenswerks. Das Buch schöpft aus der überreichen Fülle seiner Schriften. Sie sind thematisch aufgefächert und führen zum Kern der franziskanischen und christlichen Spiritualität.
Münster 2018. ISBN 978-3-402-13312-5, CHF 59.90, www.aschendorff-buchverlag.de


Stephan Leimgruber

Prof. em. Dr. theol. Stephan Leimgruber (Jg. 1948) war von 1998 bis 2014 Professor für Religionspädagogik an der Universität München. Nachher war er Spiritual am Seminar St. Beat des Bistums Basel und priesterlicher Mitarbeiter in verschiedenen Pfarreien.

 

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