Lebensfülle in Einfachheit

Franz von Assisi (1182–1226) fasziniert die Menschen noch heute. Seine radikale Lebensentscheidung zugunsten von Armut und Einfachheit machte ihn zu einem reichen Mann.

Franziskus gibt seinem Vater die Kleider zurück (Giotto di Bondone ca. 1297–99). (Bild: Wikipedia)

 

Weltweit beliebt, sprechen drei Bildszenen aus der Biografie des Franz von Assisi verschiedene Dimensionen befreiender Einfachheit an: als reicher Kaufmannssohn nackt im bischöflichen Gericht, in rauer Kutte einer bunten Schar von Vögeln zugewandt und schweigsam auf dem kargen Berg La Verna in einer mystischen Lichtvision. Die drei Schlüsselszenen lassen sich als Ermutigung lesen, der franziskanischen Art des «simplify your life» in der eigenen Lebenswelt Raum zu geben.

Nackt – mit freien Händen Fülle finden

Die Schriften des Poverello sprechen von den tieferen Motiven für seine radikale Lebenswende im Frühjahr 1206. Der junge Modefachmann stolperte über seinen Ehrgeiz und seine Karriereträume, verlor im Gefolge einer Schlacht und langer Kriegsgefangenschaft seine Lebensfreude und suchte ausserhalb seiner Stadt nach neuem Sinn. Dem Mitglied der führenden Zunft und einer Familie, die acht Häuser besass, mangelte es weder an Geld noch an Freunden. Dennoch half ihm niemand, seine traumatischen Erfahrungen zu verdauen und «Licht für das Dunkel seiner Seele» zu finden. Es waren Menschen im Elend («miseri»), aus der Stadt verstossene Aussätzige, die sein Herz («cor») weckten. Die Erfahrung erlebter und gelebter «misericordia» weckte eine Liebe, die der Luxuskaufmann bisher nicht kannte. Begegnungen mit den Ärmsten der Gesellschaft bereiteten den Suchenden auf eine ebenso überraschende Gotteserfahrung vor: In San Damiano berührte ihn eine Ikone, die Christus ganz menschlich, lichtvoll und «misericors» zeigt: Gottes Sohn auf Augenhöhe, mit leeren Händen und offenen Armen, offenen Augen, einem offenen Ohr und offenem Herzen.

Kurz darauf setzte Franziskus den Rat Jesu an den reichen Mann um: sich von aller Habe zu lösen, den Erlös «Habenichtsen» zu geben und Christus mit freien Händen zu folgen. In der Lebensregel der entstehenden Gemeinschaft wird Franziskus seine Brüder ermutigen, «arm an Dingen und reich an Leben» zu sein. Mein Lehrmeister im Noviziat brachte das Versprechen eines möglichst einfachen Lebens auf den Punkt: «Wir geloben nicht, möglichst wenig zu haben, sondern möglichst viel zu teilen – materiell, aber auch ganzheitlich, Wohnraum, Erfahrungen, Zeit, Sorgen und Freuden, kurzum Leben!» Freihändig und beherzt teilen kann jedoch nur, wer sich nicht an viele Dinge, an Orte oder auch an Menschen klammert.

Schöpfungsliebe ohne Eingrenzung

Enterbt und obdachlos aus seiner Stadt verbannt, entdeckte Franziskus sein neues Zuhause in der weiten Schöpfung. Erst jetzt, da er sich nicht mehr in Assisis steinerner Stadtwelt bewegte und sich auf die eigenen Immobilien fixierte, eröffnete sich ihm der tiefere Sinn der Bergpredigt: Sie spricht von den Blumen des Feldes, die Gott selber kleidet, und von den Vögeln des Himmels, die der Schöpfer nährt – einer geschaffenen Welt, der Gottes Zuwendung gilt und die zu Menschen spricht. Franziskus wurde ein Freund und Vertrauter der Geschöpfe, ohne einer sentimentalen Naturromantik zu verfallen. Auch bei Szenen wie der legendären «Vogelpredigt» liegt das tiefere Motiv im Evangelium: Der Auferstandene sendet seine Freunde, die Botschaft «bis an die Grenzen der Erde» zu tragen und «allen Geschöpfen zu verkünden». Paulus spricht im Römerbrief von «der ganzen Schöpfung, die sehnlich darauf wartet», dass wir Menschen «uns als Söhne und Töchter Gottes erweisen».

Ein frühfranziskanisches Mysterienspiel schildert den «Bund des Franziskus mit Frau Armut». Letztere wird als Freundin Jesu vorgestellt, die ihn von der Krippe bis zum Kreuz begleitet. Sie fragt die ersten Brüder, wo denn ihr Kloster sei. Sie führen die «edle Frau Armut» auf einen Berg und antworten: «Schau, so weit dein Blick reicht: Die Welt ist unser Kloster», der Ort, wo sie arbeiten und feiern, beten und ruhen. Der erste Biograf des Poverello spricht von einer Naturmystik, die moderne Klimadebatten und -programme an das Grundlegendste erinnert: die Welt, in der wir leben, mit dem Herzen zu sehen! «Franziskus freute sich als glücklicher Wanderer an den Geschöpfen, die in der Welt sind […] Er sah die Welt als klaren Spiegel von Gottes Güte. In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler. Was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer. Er pries in allen Werken die Hände des Herrn, und durch das, was sich seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den Urgrund und die Lebensquelle aller Dinge. Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst. Alles Gute rief ihm zu: ‹Der uns erschaffen hat, ist der Beste!›» (Thomas von Celano, 2 C 165).

Pilgernd – Himmel und Erde verbinden

Das dritte der verbreitetsten Bilder vom Heiligen zeigt ihn auf seinem Lieblingsberg La Verna. In seinem brüderlichen Wanderleben, das ihn bis nach Spanien und Ägypten führte, zog er sich immer wieder für Wochen an stille Orte zurück. Franziskanische Eremitagen liegen ausnahmslos in unberührter Natur, auf Inseln oder Bergen, die einen weiten Blick in die Welt eröffnen. Intensivzeiten in der Stille führen in die eigene Tiefe, verbinden Erde und Himmel und inspirieren das Engagement für die Welt. Und Kontemplation lässt gerade an kargen Orten besonders eindrücklich erfahren, was Dorothee Sölle in eine fein- und tiefsinnige Weisheit fasste: Gott ist «mehr als alles»! Nach seiner Begegnung mit Sultan al-Kamil im Nildelta spürte Franziskus 1224 auf La Verna seinem eigenen «schönsten Gottesnamen» nach. Dabei vermisste der Poverello sowohl in der Gebetskunst des Islam wie in seiner eigenen Kirche weibliche Farben in der Gottesrede. Der Lobpreis von La Verna wandte sich dem göttlichen DU zu, das sich in der Schöpfung und im Leben der Menschen auch von seiner weiblichen Seite zeigt: inspirierend und beflügelnd, befreiend und bergend, als Ruhe und Tatkraft, Zärtlichkeit und Liebe. Auch Schönheit, erfüllte Stille und Freude sind Namen Gottes und Zeichen seiner Gegenwart.

Sowohl Franziskus wie Klara erinnern in ihrer Ordensregel daran, dass Brüder wie Schwestern sich als «Pilgernde und Gäste auf Erden» fühlen und verhalten sollen. Wer selber Pilgerwege unter die Füsse genommen hat, kennt sowohl deren materielle wie spirituelle Herausforderung. Das Gepäck will wohl bemessen sein und der Weg ist auf ein Ziel ausgerichtet. Für jedes Wetter und jeden Weg ausgerüstet, sind jene leichtfüssig unterwegs, die keinen unnötigen Ballast mitschleppen, weder äusserlich noch innerlich. Der Weg hat ein Ziel, und um diesem näherzukommen, lassen Pilgernde auch schöne Orte wieder los und ziehen weiter. Das Ziel hilft, auch durch Strapazen hindurch unterwegs zu bleiben, und der gemeinsame Weg verbindet mit Gefährtinnen und Gefährten, mit denen sich Freude und Leid teilen lassen. Das Motiv des Pilgerseins entnahmen Franziskus und auch Klara der Bibel. Der Petrusbrief bezieht es auf die Existenz jedes Christen und jeder Gläubigen (1 Petr 2,21): Auch wer sesshaft lebt, bleibt auf einer vergänglichen Erde Gast. Franziskus fügte seinem Schöpfungslied eine Strophe auf «unsere Schwester, den lieblichen Tod» hinzu. Er tat es in einer Zeit, die den Tod als männliche Schreckgestalt, als Krieger, Wegelagerer, Schnitter oder Sensenmann darstellte. Der Mystiker sprach den Tod jedoch im Lied und im eigenen Sterben liebevoll als weibliches Geschöpf Gottes an: Wo Menschen ihre Liebsten zurücklassen und den Übergang in die Neue Schöpfung antreten, nimmt sie eine Gefährtin an der Hand, die den Weg kennt und die durch das Dunkel des Todes in das Licht Gottes führt. In dessen grossem Fest liegt das Ziel, das Menschen von vielen verschiedenen Pilgerwegen her vereint – in einer Geschwisterlichkeit ohne Grenzen.

Niklaus Kuster

 

 


Niklaus Kuster

Br. Niklaus Kuster (Jg. 1962) ist Kapuziner und promovierter Theologe. Er studierte Geschichte, Theologie und Spiritualität in Freiburg i. Ü., Luzern und Rom. Er lebt heute im Kloster Olten und lehrt an der Universität Luzern sowie den Ordenshochschulen München und Madrid.
Der Autor zahlreicher Bücher vernetzt mit dem Tauteam die franziskanische Schweiz und begleitet Kurse, Intensivzeiten und spirituelle Reisen.