Kraftvoll vertontes Prophetenschicksal

Während sich Heinz Angehrn dem Oratorium von aussen genähert hat, zeichnet Thomas Markus Meier den Weg des Propheten und dessen Ringen nach.

«Wie kann man einen Text über wahre oder falsche Gottheiten singen, wenn im Nahen Osten derzeit Menschen wegen ihres Glaubens umgebracht werden?» Diese Frage stellte der Präsident des «Konzertchors Klangwerk Luzern» Robert Duss im Programmheft zu einer Aufführung des Oratoriums Elias im Kultur- und Kongresszentrum Luzern im Jahr 2016.

Wenn wir heute nicht einfach unkritisch und unreflektiert biblische Gewalttexte schön-reden (resp. «schön-singen») wollen, scheint uns das etwas abzuheben von früheren Generationen.
Allerdings kennen gerade auch wir Begriffe des Schönredens, die uns allzu leicht von den Lippen gehen – ohne Anhaltspunkt in der Geschichte. Es ist heutzutage nahezu selbstverständlich, vom christlich-jüdischen Abendland zu reden, wobei vergessen geht, dass das selten so harmonisch war, wie es der Name anklingen lässt. Im Gegenteil: Das Christliche vereinnahmte das Jüdische, überformte es, kritisierte es, bekämpfte es. Wer als Jude wer sein wollte, musste sich angleichen, wie im vorhergehenden Artikel von Heinz Angehrn beschrieben. Felix Mendelssohn aber war sich seiner jüdischen Herkunft immer bewusst, liess sich auch von Freunden zu Sabbatfeiern einladen, und als er die Bach-Renaissance einleitete, bemerkte er spöttisch, dass es ausgerechnet ein Judenjunge sein müsse, der den Leuten die grösste christliche Musik wiederbrächte …

Die biblischen Leerstellen füllen

Beim Oratorium Elias ist bereits das Intro speziell: Nach ein paar bedrohlichen Bläsersätzen verkündet wie aus heiterem Himmel Elija, dass der Himmel nunmehr heiter bleibt, sprich, dass jeglicher Regen ausbleibt. Und dann erst kommt sozusagen die Ouvertüre. Damit ist Mendelssohn sehr bibelnah: Denn auch dort taucht Elija ohne grosse Einführung auf und sagt ohne Umschweife, was Sache ist.

Während die Bibel nun erzählt, wie Elija am Bach Kerit die Dürre bestehen kann, malt sich Mendelssohn aus, was die Dürre mit den gewöhnlichen Leuten macht. Er füllt sozusagen die biblischen Leerstellen und leiht jenen eine Stimme, die in der Erzählung verstummen. Es ist somit nicht nur ein «Schönsingen» angesagt, sondern auch ein Klagelied über die – im Kriegsjournalismus würde man sagen – «Kollateralschäden».

Elija also hat die Dürre angesagt und sie trifft, wie so oft, nicht zuallererst die anvisierten Reichen und Mächtigen, sondern das einfache Volk. Die Leute beklagen sich mit Worten aus Jeremia und den Lamentationes, den Klageliedern Jeremias. Erst mit der Nummer 6, dem Rezitativ des Engels, nimmt Mendelssohn dann den unterbrochenen Faden wieder auf und komponiert die Verse 3 und 4 aus 1 Könige 17 aus. Vorher aber zeigt er uns breit die Dürre. Und das nicht nur als mangelnder Regen, sondern gleichsam auch als Dürre des Glaubens. Als Trockenstrecke im Glaubensleben.

Die Frage nach dem wahren Gott

«Die jungen Kinder heischen Brot!» – das ist es ja, was besonderen Widerspruch provoziert: Was können die Kinder, die Kleinen dafür? Warum leiden Unschuldige? Im Chor Nummer 5 wird aus den 10 Geboten zitiert, dass Gott ein Eifernder sei, der die Strafe verfolge bis in die dritte und vierte Generation. Das klingt eifrig, übereifrig gar. Nimmt aber ernst, dass es im altisraelitischen Haushalt etwa vier Generationen waren, die zusammen unter dem Zeltdach wohnten. Sprich: Wenn etwas bei den Alten «lätz» läuft, so bekommen es auch die Jungen zu spüren, bis in die Urenkel-Generation also. Aber dann ist Schluss. Die Gnade und Barmherzigkeit hingegen gehen in die Tausenden, sind gleichsam unbegrenzt. Das Unbegrenzte spiegelt sich im Elija-Zyklus dann so, dass er die Grenze überschreitet, und im Ausland, bei der Witwe in Zarpath, überlebt. Mendelssohn muss hier etwas abkürzen, aber die Quintessenz bleibt: Bei der Frage nach dem wahren Gott wird es darum gehen, welcher Gott Leben schenkt. Welche Gottesvorstellung nährt? Bin ich selber gottesfürchtig, oder verbreite ich Furcht vor meiner Gottesvorstellung?

In Bibel und Oratorium führt das zum grossen Showdown. Zum Gottesurteil auf dem Karmel: Wer hat recht? Wer hat den rechten Gott? Elija oder die Baalspriester? Bibel und Oratorium ziehen alle Register, erzählen voll Dramatik, das Blut fliesst in Strömen. Und hier, auf dem Höhepunkt des Konflikts (in Klammer: Es war eine literarische Rache-Fantasie und keine reale Abschlachtung), hier also, auf dem Höhepunkt des Konflikts, erlauscht Mendelssohn die Tiefe biblischer Gottesvorstellungen. Eine Frauenstimme singt aus dem Hoseabuch, wie Gott leidet, wenn er strafen muss. (Das Alt-Arioso Nummer 18). Mendelssohn kennt sie gut, seine Bibel, wenn er die trauernde Gottheit durch eine Frauenstimme vertont. Hosea prägte das Bild von Gott als stillender Mutter, der sich distanziert von jeglichem machohaften Getue: «Gott bin ich, und kein Mann!»

Was in der Bibel in kurzen fünf Versen folgt, nämlich das Regenwunder, baut dann Mendelssohn aus zu einer dramatischen Gebetsszene, womit der erste Teil endet. Da scheint also Elija der grosse Sieger zu sein beim Gottesurteil auf dem Karmel – aber er kriegt in der Folge sein eigenes Urteil zu hören: Er sei des Todes, lässt ihm die Königin Isebel ausrichten. Himmelhoch jauchzend – zum Tode betrübt. Jedenfalls endet dieser religiöse Kampf mit der Flucht des Elija, mit seiner Infragestellung «was soll das Ganze?» und mündet in seiner Depression. (Arie 26: «Es ist genug! So nimm nun Herr, meine Seele!»)

In der Stille, nicht im Sturm

In der Katechese bleibt es meist dabei stehen, dass Elija in der Höhle eine ganze Szenerie von Naturgewalten erlebt – und Gott ist dann eben ausdrücklich nicht im Sturm, im Erdbeben, in der Gewalt. Nein, in den leisen Tönen wird Gott spürbar. Im Sanften, nicht im Gewaltverherrlichenden. Was meist überlesen wird: Vor und nach der sogenannten Gottesbegegnung am Horeb bekommt Elija zweimal die genau gleiche Frage gestellt («Was willst du hier?»), und gibt zweimal die genau gleiche Antwort. Mit leidenschaftlichem Eifer habe er, Elija, gekämpft und sei allein geblieben1. Wir könnten das auch hören als leise Infragestellung. Überdenk das nochmals! Und nein, alleine bist du nicht. Wird dies meist überlesen, so umgekehrt in den Text gelesen, Gott sei im Säuseln gewesen, was so eben gerade nicht gesagt wird. Die Bibel ist hier stiller, leiser, diskreter!

Vom Eifer zum Eiferer

Im Oratorium nun eilt Elija im Schnellzugstempo zurück und der Blick öffnet sich auf seine Himmelfahrt, die allen den Blick in den Himmel, in eine bessere Zukunft, öffnet. «Wie kann man einen Text über wahre oder falsche Gottheiten singen, wenn im Nahen Osten derzeit Menschen wegen ihres Glaubens umgebracht werden?» Es ist ein ziemlicher Unterschied, ob Texte Fragen behandeln und vertonen, zum Nachdenken anregen, Erzählungen wiedergeben – oder ob Texte als Freipass genommen werden, zu tun und zu lassen, wie es einem selber zupass kommt.

Eigentlich ist es ganz interessant, was der biblische Elija mit dem Gottesurteil auf dem Karmel vorhat. Er startet gewissermassen ein Experiment, eine Fallstudie: Die Versuchsanordnung ist für alle gleich und der richtige Gott soll sich selber erweisen. Im Taumel des Erfolgs aber, als das Volk den richtigen Gott erkennt, macht, modern gesprochen, Elija den Fehler, dass es ihm zu wenig ist, den wahren Gott zu erkennen. Nein, jetzt will er auch die falschen Gottesvorstellungen austreiben. Das Wunder, dass Feuer vom Himmel fiel, führt sozusagen dazu, dass er nun selber feurig angesteckt wird und sich, im Bild, die Finger verbrennt.

Mendelssohn fügt nach der Pause einige Stücke ein, die er aus der Bibel zusammenklauben muss. Um so, was die Bibel eben mit einem eigenartigen Bruch erzählt, den Wechsel vom Sieg zum Scheitern des Propheten zu vertonen. Der Kampf zwischen wahren und falschen Gottesvorstellungen wurde auf dem Karmel zwar dramatisch inszeniert, aber noch nicht eigentlich entschieden. Elija fällt in ein Loch, sein Eifer hat ihn übers Ziel hinausschiessen lassen. Er hat noch einen langen Weg vor sich, zu lernen, Gott im Stillen, im Suchenden, im Leisen aufzusuchen.

Er hat kein gutes Image, der biblische Gott, wenn er als «Gott der Rache» benannt wird. Aber gesagt ist damit, dass die Rache eben gerade uns Menschen entzogen ist. Gott schaut selber für sich, niemand muss sich für ihn ins Feuer legen. Niemand muss ihn rächen – das wäre Gotteslästerung. Diese Lektion hat auch Elija lernen müssen. Darüber dürfen wir nachdenken, singen, zuhören. Und, in neuen, anderen Zeiten, auch neue, andere Töne anschlagen.

Thomas Markus Meier

 

1 1 Kön 19,9–14.


Thomas Markus Meier

Dr. theol. Thomas Markus Meier (Jg 1965) arbeitet als Pastoralraumleiter der Pfarrei St. Anna Frauenfeld und ist Mitglied der Redaktionskommission der SKZ. Auf Facebook betreibt er die Seite Biblioblog. Dort bespricht er Beobachtungen zur Bibel und kommentiert auch die Übersetzungsänderungen der revidierten Einheitsübersetzung – es fehlen nur noch die Samuelbücher, Teile von Jesaja und Ezechiel sowie das ganze Jeremiabuch. www.facebook.com/Nutzernamenfrei