Kleine christliche Gemeinschaften weltweit – eine Chance für die Schweiz

Afrika, Asien, Amerika und Europa: Kleine christliche Gemeinschaften blühen fast überall in der katholischen Kirche. Sie sind eine Quelle für eine mögliche Erneuerung, auch für die Diözesen in der Schweiz. Am 26. September 2012 organisierten Missio und das Zentrum für vergleichende Pastoraltheologie der Theologischen Fakultät an der Universität Freiburg eine Impulstagung zu Beginn des Weltmissionsmonats. Thema des zweisprachigen Impulstages waren die Erfahrungen der Weltkirche mit kleinen christlichen Gemeinschaften. In den vorgestellten Erfahrungen aus Tansania, Südostasien und der Westschweiz lassen sich mehrere gemeinsame Elemente herausschälen. Menschen, nicht in jedem Fall Gläubige, versammeln sich, um das Wort Gottes zu hören, ihr Leben klarer zu sehen, Freundschaft im Evangelium zu leben, sich selbst besser kennenzulernen, gemeinsam zu beten und sich für Gerechtigkeit und die Verkündigung der Frohen Botschaft einzusetzen. In diesen verschiedenen Dimensionen verwirklichen die kleinen christlichen Gemeinschaften die Kirche in der Spiritualität der Gemeinschaft, wie es das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat: Eine Kirche der Armen und von allen, Sakrament des Wortes, die sich selbst evangelisiert, indem sie das Wort an ihre Mitglieder weitergibt. Auf diese Weise können sie der Neuevangelisierung Schwung verleihen, wie die Bischofssynode im Oktober 2012 hervorgehoben hat.

Suche nach Sinn

Die Suche nach dem Sinn des Lebens und die Zentrierung auf die Person, das Suchen nach authentischen Beziehungen und die Sorge um eine nachhaltige Entwicklung: Das sind einige Merkmale unserer postmodernen Welt. Nun aber erleichtert die Teilnahme an einer kleinen Glaubensgemeinschaft diese Suche nach authentischem Menschsein und eröffnet ganz neue Perspektiven. Einerseits entwickeln die Menschen in diesen Gemeinschaften eine grössere Offenheit, sie eignen sich die Fähigkeit des Hörens und gegenseitigen Respektes an und lernen, selbst das Wort zu ergreifen und sich gegenseitig zu helfen. Bande der Geschwisterlichkeit und der Solidarität entstehen unter ihnen. Andererseits können sie durch die Begegnung mit Christus – in der Öffnung hin auf die Transzendenz – und durch den Einbezug der verschiedenen Dimensionen ihr Menschsein vertiefen. Für Menschen, die sich wieder auf den Weg des Glaubens begeben, erleichtert eine kleine Gruppe den Zugang und die Zugehörigkeit zu einer grösseren Gemeinschaft. Sie hilft, eine Kirche der Nähe und der Menschlichkeit zu sehen, eine Kirche, die «Familie Gottes» ist, eine Kirche «daheim», eine Kirche, die Berufungen weckt und Lust macht, eine Kirche, die jede und jeden zu ihrer und seiner menschlichen und spirituellen Identität verhilft.

Das Teilen des Wortes Gottes

In den kleinen Versammlungen (wie in der Initiative in der Westschweiz, das Markus- und Lukasevangelium zu lesen – «Mit de Bübla i d’Stùba») hat das Evangelium die Chance, aufs Neue als Frohe Botschaft gehört zu werden, die das Leben Gottes hervorbringt. Es ist diese Sichtbarkeit des Wortes, um die sich die Kirche, als Sakrament der Gegenwart Gottes in der Welt, zuerst sorgen muss, denn die kleinen Gemeinschaften geben der Kirche ein Gesicht, das dem Evangelium entspricht. In den kleinen Gruppen teilen sich die Mitglieder auf einfache Weise ihre persönlichen Erfahrungen mit einem Text der Heiligen Schrift mit. Sie erfahren die Aktualität des schöpferischen Wortes, das sie bewegt und sie drängt, die Kirche der Zukunft zu gestalten. So evangelisiert sich die Kirche selbst, indem das Wort Gottes im Schoss des Volkes Gottes kreist, vor allem unter denjenigen, die im Allgemeinen keine Stimme in der Gesellschaft haben.

Die Teilnahme an der Evangelisierung

Die kleinen christlichen Gemeinschaften haben Anteil an dieser neuen Evangelisierung, wie sie schon im Dekret über die Mission («Ad Gentes», 1965) und im Apostolischen Schreiben über «die Evangelisierung in der Welt von heute» (Evangelii Nuntiandi, 1975) umrissen wurde, und wie sie Johannes Paul II. («Ecclesia in America», 1999; «Tertio millenio adveniente», 2001) und Benedikt XVI. mit der Schaffung des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung (2010) gewünscht haben, die «neu in ihrem Eifer, in ihren Methoden, in ihren Ausdrücken» (Johannes Paul II., Rede an die XIX. Versammlung der CELAM, Port-au- Prince, 9. März 1983, Nr. 3) sein soll. Die kirchlichen Basisgemeinschaften weltweit sind die Orte der Evangelisierung, denn sie helfen den Menschen, das zu sein, was sie sind, mit ihrer Ganzheit, im Lichte Christi und der Schätze der Tradition, und weil sie teilhaben an der Veränderung ihrer Mitglieder, der Kirche und der Welt. Selbst evangelisiert, werden sie zu Verkünderinnen und Verkündern des Evangeliums, die in Dialog mit Gläubigen anderer religiöser Traditionen treten. Sie sind die neuen Orte der Kirche, die die Sonntagsmessen ergänzen. Sie ermutigen ihre Mitglieder zum Zeugnis und unterstützen sie in ihrer Verantwortung als Getaufte. Die gemeinsame Verantwortung und die Teilnahme der Laien in der Kirche fördern sie. Zudem wecken sie in anderen ein Interesse, sodass diese ihrerseits zu Jüngerinnen und Jüngern Christi werden. Sie sind die Tätigkeitsfelder der echten Inkulturation des Evangeliums heute, im Kampf gegen die Gefahren des Synkretismus, des Aberglaubens und den Bedrohungen der Sekten, die den Gläubigen auflauern.

Die Erfahrungen des Gebetes

In diesen kleinen Versammlungen begegnen die Menschen einer Spiritualität, die persönlich und gemeinschaftlich ist, und Christus selbst, durch den Austausch über das Wort und die Stille des Gebetes. Das Gebet ist der «theologische» Ort schlechthin, d. h. es ist der Ort, an dem Gott sein Gesicht offenbart, seine unendliche Vielfalt von Gesichtern. Durch gegenseitige Unterstützung schöpfen die Mitglieder der kleinen christlichen Gemeinschaften aus einem erneuernden und schöpferischen Gebet, das sich an der Schrift, an den Erfahrungen und das Mitteilen des Lebens nährt. Es ist ein Gebet, das Frieden gibt, zu sich führt und das Herz auf die Gegenwart Gottes hin öffnet. Es ist ein Gebet, das die Geister zu unterscheiden weiss, um das Wort und den Glauben in die Tat umzusetzen.

Soziales Engagement

Die Erfahrungen mit dem sozialen Engagement ist eine weitere, zentrale Dimension, die während der Impulstagung in Freiburg vorgestellt wurde. In der Verbindung von Evangelium und Alltag, die im Gebet verankert ist, begleiten die kleinen Gemeinschaften ihre Mitglieder, damit sie Sauerteig im Teig der Welt werden und so für das Kommen des Reiches des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung arbeiten. Sie verwenden die Methode der praktischen Theologie:

sehen und beobachten der Lebensumstände;

– urteilen, analysieren und verstehen, was geschieht, mit dem Licht des Wortes und der Botschaft des Glaubens erhellen, aber auch Unrecht anklagen und ihre Ursachen suchen;

– konkret handeln und soziale und politische Gesten für den Respekt der Menschenrechte setzen;

– und schliesslich den Abschluss des Engagements feiern und um den Heiligen Geist der Kraft und der Unterscheidung bitten.

Manche Basisgemeinschaften haben sich im Aktivismus und im politisierten Kampf verloren, was viele Menschen zu den Freikirchen gebracht hat. Genau hier gilt es, das Gleichgewicht zwischen der eigenen Glaubensvertiefung, der Suche nach Christus und dem Kampf für Gerechtigkeit in der Welt zu finden. Die gläubigen Gemeinschaften müssen in erster Linie die Menschen in die Nachfolge Christi rufen. Sich an der Veränderung der Umgebung zu beteiligen ist das Ergebnis, nicht der Zweck des Seins. Das erfordert, dass jede Gemeinschaft in einem grösseren Netz(-werk) eingebunden ist, das sie in ihrer Sendung unterstützt.

Pfarreien im Netzwerk

Besonders in der Schweiz bilden die kleinen Gemeinschaften einen der Wege für die Erneuerung der pfarreilichen Struktur, angesichts der Anonymität in den grossen Städten, der weniger werdenden ländlichen Pfarreien und der Grösse der neuen Seelsorgeeinheiten. Sie regen eine neue Art des Pfarreiseins an: eine Gemeinschaft von Gemeinschaften, ein Netzwerk aus kleinen Gruppen, Vereinigungen und lokalen Gemeinschaften, deren Einheit und Zusammenhalt durch den Pfarrer mit seinem Seelsorgeteam gewährleistet werden. Sie erlauben auch die konkrete Zusammenarbeit zwischen Laien und Priestern. Das Konzept von einer Pfarrei im Netzwerk ermöglicht es, verschiedene Versammlungsorte zu haben, die von den Menschen entsprechend ihren Zugehörigkeiten und Bedürfnissen (Familien, Jugendliche, Bibelteilen, Gebetstreffen, Solidaritätsgruppen …) gewählt werden, und erfordert, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Das impliziert,

– dass die Verantwortlichen eines Bistums und die Bischöfe einer Bischofskonferenz die Bildung solcher Gruppen fördern, sie in ihren pastoralen Entwicklungsplänen berücksichtigen, Personen ernennen, um ihre Einsetzung und Animation zu begleiten, und Sorge tragen zur Ausbildung der Laien, die sie leiten;

– dass die Repräsentanten dieser Gemeinschaften Einsitz haben in den Pfarreiräten oder Räten der Seelsorgeeinheiten und dass sie in ständigem Kontakt mit den zuständigen Priestern und Laien der Seelsorgeeinheit sind;

– dass in einigen Regionen ein Unterstützungsteam gegründet wird, um die Sichtbarkeit dieser kleinen Versammlungen anzuregen, sie in ihrer Entwicklung zu fördern, sie offen zu halten für die Aufnahme neuer Mitglieder und sie mit der Lokal- und Weltkirche in Verbindung zu halten;

– dass die sonntägliche Eucharistie turnusmässig durch eine oder mehrere Gemeinschaften gestaltet werden kann (der Priester oder ein Mitglied des Seelsorgeteams muss die Gemeinschaften regelmässig besuchen);

– dass ihnen während der regionalen oder diözesanen Zusammenkünfte Zeiten der Bildung geboten werden, sie die Einheit unter sich und mit der Gesamtkirche feiern, um so den Rückbezug auf sich selbst zu verhindern.

Das Phänomen der Entstehung der kleinen, lebendigen Gemeinschaften in der katholischen Kirche ist ein spirituelles Abenteuer. Es schenkt der Kirche als Gemeinschaft eine neue Dimension und erneuert ihre Sendung. Dort, wo solche kleinen Gruppen auftauchen, entsteht eine neue Art, Kirche zu sein, mit Nähe, Kreativität und der Übernahme von gemeinsamer Verantwortung zwischen Getauften und Geweihten. Ein Hauch von Hoffnung für die Kirche des 21. Jahrhunderts!

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Der vorliegende Artikel erschien unter dem Titel «Une aubaine. Les petites communautés chrétiennes» in: Choisir, nr. 636 – décembre 2012, 9 –12. Er wurde von Siegfried Ostermann (Missio) ins Deutsche übersetzt.

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Die Impulstagung «Kleine christliche Gemeinschaften weltweit – eine Chance für die Kirche in der Schweiz» machte die Lerngemeinschaft Weltkirche zu Beginn des Weltmissionsmonats spürbar.

Vor allem in den Kirchen des Südens und Ostens bilden kleine christliche Gemeinschaften den lebendigen Kern. Sie bauen auf der Volk-Gottes-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils auf. Im Zentrum dieser Gemeinschaften steht das Wort Gottes, das die Kraft hat, Menschen zu verändern. Diese Impulse aus der Weltkirche versuchte Missio, zusammen mit der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg, an die Kirche in der Schweiz zu vermitteln.

Das Eröffnungreferat hielt Arnd Bünker, Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts St. G allen: «Die (Pastoral-) Theologische Verortung kleiner christlicher Gemeinschaften auf der Grundlage des 2 . Vatikanischen Konzils».

Internationaler Gast war der Kapuzinerpater Br. William Ngowi, der an der Jordan-University in Morogoro ( Tansania) Bibelwissenschaften unterrichtet.

Sein Vortrag auf Englisch hatte die Feier des Wortes Gottes in den Kleinen Christlichen Gemeinschaften zum Thema. Über die «Chancen und Grenzen des asiatischen integralen pastoralen Ansatzes (AsIPA) für die Schweiz» sprach Brigitte Fischer Züger.

Und über die Lektüre des Evangeliums zu Hause «Évangile à la maison», wie sie in der Westschweiz initiiert wurde, referierte Béatrice Vaucher.

François-Xavier Amherdt

François-Xavier Amherdt

Pfarrer Franz-Xaver Amherdt ist Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Universität Freiburg.