Die Zeiten ändern sich

Informationsbedarf über Kirche und Gesellschaft in Ost-West-Fragen

Es gibt das lateinische Sprichwort: «Tempora mutantur et nos mutamur in illis» – die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in (mit) ihnen. Die erste Hälfte ist offensichtlich, die zweite wird oft unterschlagen. Was hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil geändert: die Kirche? (welche?) die Gesellschaft? Was hat mit dem Zusammenbruch des Weltkommunismus geändert? Die Lage in den Oststaaten – wirtschaftlich? sozial? kirchlich? Und wir all dem gegenüber? Die Fragen zeigen, dass wir ziemlich in Verlegenheit sind. Zumeist fehlen uns für ein abgeklärtes Urteil einfach die nötigen Informationen. Hier sei auf ein Institut und eine Zeitschrift verwiesen, die höchsten Ansprüchen genügen, aber eben bisweilen etwas in Vergessenheit geraten.

Die Problematik des Namens

Schon in der SKZ-Nr. 27–28/2003 fragt sich der damalige Redaktionsleiter Rolf Weibel: «Gerät der christliche Osten in Vergessenheit?» Er bezog sich auf das Institut G2W («Glaube in der 2. Welt»), dessen Zeitschrift damals schon als Untertitel «Forum für Religion und Gesellschaft in Ost und West» gewählt hatte. Das G2W ist als «Logo» beibehalten worden, um alte Freunde nicht zu brüskieren. Das Institut war 1972 vom reformierten Pfarrer Eugen Vogt gegründet worden, dessen Mutter Russin war. Er war über die selektive Information aus dem Osten entsetzt. Damals hielt sich der Westen für die Erste Welt, der kommunistische Osten war die Zweite Welt, die Enwicklungsländer die Dritte Welt. Diese klaren Linien sind von der Globalisierung endgültig verwischt worden, es gibt nur noch die eine Welt – mit vielen kontinentalen, nationalen, regionalen und lokalen Eigenheiten.

Die Vielfalt der Aufgaben

Was also abgekürzt immer noch «G2W» heisst, ist eine Organisation, die aus einem Verein, einem Institut und einer Zeitschrift besteht. Sie ist seit ihrer Gründung ökumenisch, seit je arbeiten Leute aus allen christlichen Kirchen mit, und es wird auch über alle christlichen Kirchen – und darüber hinaus über alle im Osten vorhandenen Religionen (Juden, Muslime, Evangelische) – umfassend informiert. Unter

«Osten» ist primär gemeint: Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, aber bisweilen greift das Institut auch in den Nahen Osten und den ganzen Bereich der Ostkirchen aus. Das Institut ist das geschäftsführende Organ des Vereins, es betreut v. a. die Zeitschrift und betreibt konkrete Hilfsprojekte. Präsident des Vereins ist gegenwärtig Prof. Dr. Georg Rich. Das Institut finanziert sich aus den Mitgliederbeiträgen und Spenden, v. a. der Landeskirchen, die erkannt haben: «Es handelt sich um deine ureigene Sache» («tua res agitur») – was dort geschieht an geistigen Entwicklungen, gesellschaftlichen Vorgängen, kirchlichen Ereignissen geht uns hier unmittelbar an, weil wir davon lernen oder uns dadurch warnen lassen können.

Das Institut

Das Institut wurde immer von Fachleuten betreut: Der Gründer Eugen Vogt (geboren 1926) stand ihm 1972 bis 1991 vor. Seinem Impuls, seiner Beharrlichkeit und seinem Einfühlungsvermögen verdankt das Werk sein Überleben auch in Krisenzeiten, v. a. seit dem Umbruch 1989, der die Verhältnisse völlig neu gestaltete. Ihm folgte Erich Bryner (1991–2005), geb. 1942, Titularprofessor für Kirchengeschichte Osteuropas, der wissenschaftliche Forschung, persönliche Beziehungen und offene Ökumene miteinander zu verbinden verstand. Nach einem kurzen Unterbruch folgte ihm Franziska Rich, die ihre Projektarbeit in Russland aber deswegen nicht unterbrach und das schwankende Boot wieder in ruhige Fahrwasser lenkte. Leider musste ihre Nachfolgerin Rahel Cerna- Willi wegen Verlegung ihres Wohnsitzes ins Ausland die Stelle wieder aufgeben. Die beiden Ressorts arbeiten aber selbständig weiter.

Die Zeitschrift

«Religion und Gesellschaft in Ost und West» umfasst 12 Nummern im Jahr zu je etwa 32 Seiten (A 4) und enthält vier Rubriken, immer aus erster Hand; die Redaktoren, aus verschiedenen Ländern und Konfessionen, verfügen über die entsprechenden Sprachkenntnisse in den slawischen Sprachen:

– Rundschau: Aktuelles (in Kurzform) aus Kirche und Gesellschaft;

– Hauptteil: Hintergrundartikel zu Schwerpunktthemen (2 bis 4 Seiten), oft auch von auswärtigen Fachleuten verfasst;

– Projektbericht: Vorstellung zivilgesellschaftlicher Initiativen;

Buchanzeigen: Präsentation wichtiger Neuerscheinungen.

Als Leser seit Jahrzehnten kann ich bezeugen, dass hier erstklassige Arbeit geleistet wird. Es werden auch Themendossiers angeboten, d. h. verschiedene Artikel zu bestimmten Themen werden gebündelt, z. B. zu «Orthodoxie in Europa», «Die orientalischorthodoxen Kirchen», «Menschenrechte in Russland», «Islam in Südosteuropa» usw. – ja man kann sogar Themendossiers zu einem gewünschten Thema erbitten. Die Länge der Hintergrundartikel ist zumutbar, die Artikel sind gut lesbar und mit allen Nachweisen versehen, es sind nicht einfach Touristenreportagen, sondern gründlich erarbeitete, hieb- und stichfeste Studien, gut aufbereitet. Einige wenige, aber informative Illustrationen bieten das nötige Anschauungsmaterial. Chefredaktor ist Stefan Kube, dipl. theol.

Die Projekte

So handfest und solid wie die Zeitschrift sind auch die Hilfsprojekte, die angesichts der prekären zivilgesellschaftlichen Verhältnisse in den Oststaaten dringend nötig sind. Der Kommunismus hat ja in keiner Weise die Selbstverantwortung der Bürger (Untertanen) geweckt und gefördert, und auch die Kirchen sind hier in einem Bewusstseinsprozess. Man kann schon da und dort (in Russland, in Polen, anderswo) junge, initiative Bischöfe kennen lernen, die sich keineswegs auf die Liturgie beschränken, sondern die desolaten Lebensverhältnisse der Leute verbessern helfen. Hier hat «G2W» seine ureigene Aufgabe, wiederum mit wenig Personal, aber in direktem Kontakt mit der Bevölkerung und nachhaltigem Einwirken auf die Behörden. Es ist erstaunlich, was hier oft ganz im Verborgenen in geduldiger Arbeit aufgebaut wurde, ohne Angst vor den unermesslichen Weiten der Länder. Hier ein paar Aufgaben:

– Hilfe für Strafgefangene: Der Staat steckt die Leute ein und überlässt sie einer unqualifizierten Behandlung; er sorgt v. a. nicht für die Zeit danach;

– Kirchliches Jugendzentrum: Es braucht Unterkünfte, Betreuungsleute, Angebote;

– Drogenprävention/-rehabilitation, inkl. Aids- Zentrum;

Strassenkinder und jugendliche Staftäter;

– Beratung für Wehrdienstleistende; die Zustände in der russischen Armee spotten jeder Beschreibung;

– Seniorenzentren. Darüber hinaus gibt es in Polen Kinderlager für Tschernobyl-Kinder, Medikamentenlieferungen an ein Kinderspital im Südirak und Beihilfe an die Theologenausbildung in Ungarn. Zur Hauptsache geht es um Hilfe zur Selbsthilfe: So bald als möglich sollen die angelaufenen Projekte selbstständig werden bzw. im eigenen Land bestritten werden, so dass neue Projekte möglich sind. Es ist ein Grundanliegen, sich mit den staatlichen und kirchlichen Behörden gut zu stellen und sich deren Wohlwollen und Unterstützung zu sichern. Ebenso wichtig ist die Zusammenarbeit mit ähnlichen, am Ort befindlichen Hilfswerken.

Der geistige Hintergrund

Das Institut nennt sich «Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West» – die Bezeichnung ist etwas lang, dafür umfassend. Ein sehr gutes Spiegelbild bot die Jahrestagung 2012: Zuerst sprach Dagmar Heller, Referentin für Glauben und Kirchenverfassung beim Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, evangelische Pfarrerin aus Deutschland, über «Ökumene vor neuen Herausforderungen». War der ÖRK vorher ein stark europäisch-nordamerikanisch und protestantischanglikanisch geprägter Rat, ist er seither vom globalen Süden und von den pfingstlerisch geprägten Gemeinschaften eingeholt worden; die Orthodoxen haben ein neues Selbstbewusstsein gewonnen, was das Zusammenleben nicht immer leichter macht. Zielsetzung und Methoden müssen anhand dieser neuen Entwicklungen neu überdacht werden, ganz abgesehen von den finanziellen Einbussen, die der Rat in Kauf nehmen muss. Im Vordergrund stehen wieder Begegnung, gegenseitiges Kennenlernen und Austausch und nicht so sehr Konsens oder Konvergenz um jeden Preis. Sodann äusserte sich der orthodoxe Theologe Evgenij Pilipenko aus Russland zu den Herausforderungen aus orthodoxer Perspektive. Er plädierte dafür, dass ökumenische Theologie vermehrt als wissenschaftliche Disziplin anerkannt werde und nicht unter dem Verdacht des Glaubensverrats stehe. Nur objektiver und kritischer Umgang mit den anderen Kirchen und Gemeinschaften kann den Grund legen für ein besseres Verständnis. Dazu gehört auch ein Verzicht auf die alleinige Ausrichtung an der Patristik: Die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte können nicht mehr allein für den Dialog mit der heutigen Zeit die nötigen Argumente liefern. Die Kirche wird nicht durch Restauration in altchristlicher Perspektive und durch metaphysische Reduktion auf die innertrinitarische «communio» ausreichend beschrieben und überlebensfähig gemacht. Es braucht mehr Anthropologie und mehr Einbezug der Christologie mit dem Drama des Lebens Christi, das im Aufschrei am Kreuz gipfelt, um von einem idealistischen, idealisierten Kirchenbild wegzukommen, das der Erneuerung im Wege steht. Schliesslich äusserte sich der Rektor der Universität Freiburg i. Ü., der Dominikanerpater Guido Vergauwen aus dem flämischen Belgien, mit einem hübschen Vergleich aus Johannes Tauler (bei Anlass der 40. Jahrfeier von G2W): In den ersten 40 Jahren könne ein Mensch noch gar nicht das Beste geben, es brauche noch mindestens zehn Jahre Reifen – sozusagen ein Hoffnungsschimmer für die nächste Etappe. Er stützte sich stark auf die «Charta oecumenica», die vor gut zehn Jahren auch einen Aufschwung nahm und dann fast dem Vergessen anheimfiel. Er orientierte sich auch stark an Blaise Pascal und Dieter Bonhoeffer: «Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus [dem] Beten und Tun.»

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Für eine nachhaltige Wirksamkeit von «G2W» braucht es nicht nur Geduld, sondern auch Unterstützung finanzieller Art. Die Koordinaten des Instituts: Institut G2W, Birmensdorferstrasse 52, Postfach 9329, 8036 Zürich, E-Mail: ,

Homepage: www.g2w.eu

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).