Kirchenzeit – Weihnachtszeit?

Kirche in der Weihnachtszeit? Die Frage scheint paradox. Kirche ist in dieser Festzeit schlichtweg da, die vielen Gottesdienste überaus präsent. Zu keiner anderen Zeit des Jahres «brummt» und «summt» der Kirchenraum so sehr wie jetzt, und es gilt, sich rechtzeitig einen Platz zu sichern, um an Krippenspiel und Vespergottesdienst, Eucharistie oder Mitternachtsmesse teilnehmen zu können.

Wie kaum sonst im Jahr wissen die Prediger, dass sie mit einer aussergewöhnlich grossen und auch lebendigen Gemeinde rechnen können. So nehmen sie sich womöglich deutlich mehr Zeit für die Vorbereitung des Gottesdienstes und ihrer Festansprache als während aller anderen Gelegenheiten des übrigen Jahres. Nicht auszuschliessen ist, dass selbst die routiniertesten Liturgen jetzt hoffen, dass alles gut gehen möge. Sie sind sogar ein wenig angespannt, gar nervös – was nicht die schlechteste Ausgangsvoraussetzung für ein konzentriert-aufmerksames gottesdienstliches Handeln ist! Ganz offenkundig ist, dass die Menschen an den Festtagen wie selbstverständlich in die Kirchen strömen und dies, bedrohlich-schön gesagt, «nach wie vor» oder «immer noch». In den Familien muss kaum verhandelt werden, ob man an Heiligabend oder einem der Festtage zum Gottesdienst geht. Selbst die Jungen, sonst das Jahr über durchaus adoleszent-widerständig, sind in ihre Daunenjacken dick eingepackt, stumm, aber nicht ohne besondere Beobachtungsgabe, mit dabei. Von Verweigerungshaltung kaum die Rede. Im Gegenteil gehört nun der Kirchenbesuch zum Teil des familiär-vertrauten Festtagsensembles. Jeder freut sich, wenn «Oma und Opa» dabei sein können – wer weiss, vielleicht das letzte Mal.

Weihnachtszeit – Kirchenzeit!

Selbst diejenigen, für die zu anderen Zeiten des Jahres die Schwelle in den Kirchenraum fast unüberwindbar hoch ist, haben nun scheinbar weniger Zugangsschwierigkeiten. Aus empirischen Untersuchungen zu den sogenannten «Distanzierten» weiss man, dass diese an Weihnachten die Nähe zum gottesdienstlichen Geschehen suchen, einige jetzt bewusst darauf hoffen, dass ihre alltägliche Sehnsucht ihre Antwort erfährt. Man sollte insofern mit der etwas abfällig geäusserten Bemerkung der «Weihnachtschristen» ausgesprochen vorsichtig sein. Wir sehen vor uns keine reduzierte Form von Glaubenspraxis, sondern möglicherweise eine punktuell sehr intensive, gar lebensbedeutsame Art und Weise, die eigene Verbundenheit mit der christlichen Tradition und kirchlichen Kultur zum Ausdruck zu bringen. Wie kaum während des Jahres, lassen sich Menschen hörend, singend, feiernd auf die weihnachtlichen Geschichten, Bilder, Botschaften herzensoffen und andachtsgestimmt ein. Für viele ist der weihnachtliche Gottesdienst vermutlich von erheblicher Bedeutung und prägt den Charakter dieser Tage wesentlich mit. Dass die Reputation der beiden grossen Volkskirchen in Frage steht, ist wenigstens jetzt – auf den ersten Blick! – nicht das zentrale Thema.

Wozu braucht es die Kirche wirklich?

Was bedeutet dies für das kirchliche Angebot? Um es weniger hoffnungsvoll zu sagen: Zu keiner Zeit des Jahres sind die Gottesdienste und Verkündigungssituationen einer ähnlich grossen Gefahr ausgesetzt wie jetzt. Niemals sonst – vielleicht abgesehen von Abdankungsanlässen – ist das Risiko für die kirchliche Praxis so hoch. Zu keinem Zeitpunkt können die positiven Erwartungen der hörenden Gemeinde so massiv enttäuscht werden. Wie sonst nie können die Befürchtungen einzelner Gottesdienstteilnehmer so sehr bestätigt werden. Noch deutlicher gesagt: Gerade an Weihnachten steht grundsätzlich auf dem Prüfstand, ob es noch gute Gründe für ein gemeindliches und gemeinsames Feiern gibt, das über die rein äusserliche Ritualpraxis hinausgeht.

Tatsächlich steht das weihnachtlich-kirchliche Handeln bei aller Selbstverständlichkeit längst auf Messers Schneide. Die Festgemeinde ist sich bewusst, dass dieser Gottesdienst nur eine Ausnahme im Jahr darstellt. Die Weihnachtszeit ist von höchst profanen Dingen geprägt, das familiäre Jahresritual zum brüchigen Ritual geworden, mit dem man versucht, die Streitigkeiten des Jahres notdürftig zu kitten. Der tiefere Sinn des Festes erschliesst sich nicht mehr automatisch. Das liegt nicht nur am Kommerz, sondern weil der mögliche Tiefengehalt von Weihnachten selbst seltsam ferngerückt ist. Man mag sich als Erwachsener zwar daran erfreuen, wenn sich die eigenen Kinder am Krippenspiel beteiligen, aber was hat das mit «meiner Lebenswelt» zu tun? Tatsächlich zeigen sich bis in den kirchgemeindlichen Kernbereich hinein fundamentale Infragestellungen. In der Zürcher Milieustudie von 2012 finden sich eindrückliche Aussagen. Ein Arrivierter aus eher grossbürgerlich-etabliertem Stand, meint: «Wir feiern Ostern, Weihnachten und den Dreikönigstag, alles ohne kirchlichen Bezug. Ich denke, wir feiern diese Tage so wie die meisten Leute sonst auch, ohne gross an die Bedeutung des Tages zu denken.» Ein «Status-Orientierter» in wohlstandsgesicherter Lage markiert die grundlegende Veränderung: «Mein Geburtstag ist für mich das Höchste, danach kommt Weihnachten. Aber ja, ich habe es gefeiert, aber ich habe aufgehört. Ich habe es gefeiert, weil ich Kitsch gerne mag …» Jemand aus dem Milieu der Eskapisten konstatiert: «Weihnachten und Ostern werden etwas überbewertet. Heutzutage wissen die Leute gar nicht mehr, warum sie das feiern. Nicht, dass ich christlich wäre. Aber ich habe den Eindruck, dass das so voll vorbei ist. Es ist einfach so überbewertet mit Geschenken.» Selbst aus traditionellem Milieu kann man hören: «Manchmal würde ich gerne mehr an die religiöse Bedeutung von Weihnachten glauben, aber es gelingt mir nicht immer.» So ist vielen bewusst, dass sich im Lauf ihrer eigenen Biographie manches grundstürzend zu verändern beginnt. Insofern ist das weihnachtliche frohgestimmte «Brummen und Summen» kein ewiges Naturgesetz, mit dem pünktlich am 24. 12. für alle Zeiten verlässlich gerechnet werden kann. Darum ist davon auszugehen, dass viele der «Distanzierten», auch der «Kerngemeinde», wenn sie noch einen Weihnachtsgottesdienst besuchen, höchst genau beobachten und wahrnehmen, was in dieser Stunde wirklich passiert. Die das Jahr über solidarisch gemeinte, beobachtende Distanz vieler Kirchenmitglieder wird für diesen Moment durch eine Art zeitnaher Prüfung ersetzt, deren Ausgang offen ist. Was schon für diese gilt, stellt sich bei den «Entfernten» mit Sicherheit noch fraglicher dar.

Ruf der Kirche auf dem Spiel

Der Ruf der Kirche steht damit in denkbar grösster Weise und auch massiver Stummheit auf dem Spiel. Darum ist es gerechtfertigt, vom grösstmöglichen Risiko weihnachtlichen Handelns zu sprechen. Wo von einem Risiko die Rede ist, ist der grösstmöglich anzunehmende Unfall nicht auszuschliessen. Damit sehen sich Pfarrerinnen und Pfarrer mit der grundsätzlichen Frage konfrontiert, was denn diese besondere Zusammensetzung der Weihnachtsgemeinde für ihr eigenes Predigen bedeutet. Sie scheinen sich dieser geschehenen oder drohenden Verlustgeschichte bewusst zu sein. In vielen entsprechenden Predigten spürt man indirekt die Not, mit den festtäglichen Spannungen umzugehen: Soll man die Gelegenheit nutzen und endlich einmal vor aller Augen und Ohren sagen, dass die Kirche nicht nur an Weihnachten Gottesdienste feiert? Soll man zwischen den Zeilen anklingen lassen, dass die Kirchgemeinde nicht nur an Weihnachten existiert? Soll man endlich einmal den Tarif durchgeben, die Kernpunkte überzeugenden Christseins durchbuchstabieren und die Festgemeinde zur entschiedenen Mitwirkung durch das ganze Jahr hindurch aufrufen? Wer einmal eine solche Verkündigungsstrategie an Weihnachten miterlebt hat, den beschleichen eher zwiespältige Gefühle. Man fühlt sich getroffen, nicht häufiger anwesend zu sein, man ist vom schlechten Gewissen geplagt, sich eben «nur heute» und nicht auch sonst während des Jahres blicken zu lassen.

Anspruch prophetischer Botschaft

Deshalb braucht es mehr denn je die Bereitschaft, sich selbst auf den Tiefensinn der christlichen Botschaft einzulassen und diesen so klar und provokativ wie eben nur möglich zum Vorschein zu bringen. Der Ruf der Kirche ist nicht in erster Linie eine Frage der Reputation, sondern des theologisch anspruchsvollen und zugleich des seelsorgerlich-ermutigenden Rufens. In diesem Sinn kann die weihnachtliche Botschaft keinen geringeren Anspruch als den einer prophetischen Botschaft tragen. Kirchgemeindliche Sattheit ist nicht nur an Weihnachten körperlich wie geistlich schlichtweg unerträglich! Man sollte tatsächlich so Gottesdienst feiern, als ob es das letzte Mal wäre! Und im Sinn der letzten dringenden Gelegenheit des Predigers, seine Gemeinde wirklich so stark und intensiv wie möglich zu berühren und herauszufordern, gedanklich wie emotional. Eine solche «endzeitliche» Grundhaltung könnte dazu motivieren, entschieden die wichtigen Dinge auf den Punkt zu bringen. Gerade in diesen Zeiten ist routinierte Lauheit oder Nachlässigkeit unzulässig. Der Ruf der Kirche hängt nicht davon ab, dass sie ihre Reputation durch Marketingmassnahmen zu erhöhen versucht. Sondern dadurch wird das weihnachtliche Angebot auch zukünftig wahrgenommen, wenn glaubwürdig vor aller Ohren und Augen verkündigt wird, worum es eigentlich geht. Deshalb sind nachhaltig überzeugende Gottesdienste angesagt. Zum anderen aber – um diese «jahreseinmaligen» Anlässe nicht zu überlasten, muss sich die weihnachtliche Glaubwürdigkeit christlichen Handelns das ganze Jahr hindurch im pastoralen und kirchgemeindlichen Handeln selbst zeigen.

Vor und nach Weihnachten

Menschen einer Gemeinde müssen praktisch an 360 Tagen im Jahr die Kirche und deren Personal als überzeugend miterleben können. Dann werden sie auch zukünftig bereit sein, das ganz persönliche Risiko weihnachtlicher Gottesdienste einzugehen. Es könnte tatsächlich Sinn machen, sich wieder einmal persönlich auf das einzulassen, was sich hinter der Weihnachtsbotschaft versteckt: Sich nicht fürchten zu brauchen, dafür aber anderen Menschen mit eigenem Wohlgefallen zu begegnen, auch denen, die uns fremd erscheinen. Dieser sonderbaren Herausforderung sollten sich all diejenigen bewusst sein, die das notwendige Risiko auf sich nehmen, prophetisch von Jesu Geburt und dessen menschenfreundlich-barmherzigen und politischen Folgewirkungen zu sprechen – sei es, dass sie darüber sprechen, davon hören oder darüber im wahrsten Sinn des Wortes hoffentlich und herzlich nachdenken.

 

Thomas Schlag

Dr. Thomas Schlag ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie und Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE).