Hineingenommen in das Heilshandeln Gottes
In der öffentlichen Wahrnehmung tritt die katholische Kirche vermehrt mit Negativschlagzeilen in Erscheinung. Berichte von sexuellem und geistlichem Missbrauch erschüttern sie. Immer mehr wird deutlich, dass Machtmissbrauch und Klerikalismus nicht nur Einzelphänomene sind, sondern auch strukturelle Ursachen haben. Nachrichten von Rekordzahlen an Kirchenaustritten verwundern in diesem Zusammenhang nicht. Schleichend hatte sich schon lange angekündigt, dass die Selbstverständlichkeit, einer der grossen Landeskirchen anzugehören, an ein Ende gekommen ist. Auf diesem Hintergrund ist die Erneuerung von Kirche ein Gebot der Stunde.
«Es bedarf Orte, an denen erfahren werden kann, dass Gott auch in der Gegenwart mit seiner Kirche unterwegs ist.»
Eine solche Erneuerung geschieht allerdings nicht allein durch Debatten und Auseinandersetzungen um theologische Fragestellungen, sondern es bedarf Orte, an denen erfahren werden kann, dass Gott auch in der Gegenwart mit seiner Kirche unterwegs ist. Berührende und inspirierende Gottesdienste sind ein solcher Erfahrungsort. Gerufen von Gott kommen hier Menschen zusammen, erfahren Gemeinschaft im Heiligen Geist und beleuchten ihr Leben, ihre Freuden und Sorgen im Licht der frohen Botschaft. Auf diese Weise werden die Feiernden in das Heilshandeln Gottes mithineingenommen, sozusagen transformiert, gewandelt in das durch Anamnese und Epiklese vergegenwärtigte Heilshandeln Gottes. In dieser Erfahrung können die Feiernden immer wieder neu zu dem werden, was sie in der Taufe geworden sind und dieses Sein als Christusähnliche (vgl. Röm 6) in ihrer Gegenwart leben. «Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» fragt explizit: Welche Gestalt muss das gottesdienstliche Feiern finden, damit Menschen die erneuernde und verwandelnde Kraft der Begegnung zwischen Gott und Mensch im Gottesdienst erfahren und dies im Alltag ihres Lebens einbringen können?
Prof. Dr. Birgit Jeggle-Merz ist Professorin für Liturgie an der TH Chur und der Universität Luzern
Menschen in ihrer je eigenen Lebenswelt aufsuchen
«Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» – diese Formulierung weckte in mir spontan Widerstand. Leistet das nicht einem Rückzug in die Sakristei Vorschub, wie ihn Papst Franziskus kritisiert? Wird da nicht einseitig eine der Grundfunktionen von Kirche als relevant für die Erneuerung überbetont? Warum nicht «Kirchenerneuerung durch Diakonie»? Erst recht weckt die Wendung bei mir Unbehagen, weil ich sie fast wörtlich auch von Verfechtern der tridentinischen Liturgie höre: Die Feier der hl. Messe gemäss der Tradition sei der einzige Weg zur Erneuerung der Kirche.
«Ist nicht die diakonische Haltung der erste Schritt, der notwendig jeder Verkündigung vorausgehen muss?»
Folgt man Papst Franziskus, dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, in unseren eigenen Räumen zu bleiben und dort selbstgenügsam Gottesdienst zu feiern. Menschen in ihrer je eigenen Lebenswelt aufzusuchen, mit ihnen Freuden und Leiden zu teilen – ist nicht diese diakonische Haltung der erste Schritt, der nach Evangelii Gaudium 128 notwendig jeder Verkündigung vorausgehen muss und damit auch jeder Erneuerung von Kirche? Das zu bedenken scheint mir wichtig, damit die Rede von der Kirchenerneuerung durch Liturgie nicht Schlagseite erhält. Natürlich stimme ich zu: Ohne eine lebendige Feier des Glaubens wird es keine Erneuerung von Kirche geben. Wenn Zeiten und Räume fehlen, in denen sich eine Kommunikation zwischen Gott und den Menschen ereignen kann, verliert Kirche ihr Herz. Die geheimnisvolle Erfahrung jener «Schönheit, ewig alt und ewig neu» (Augustinus) braucht die Pflege der Schönheit in der Liturgie. Um Altes und Neues, starke überlieferte Formen und lebendige Ausdrucksweisen des Glaubens zu verbinden, bietet besonders die Kirchenmusik grosse Chancen: Musik trägt schon in sich die Erfahrung von Transzendenz. Ich hoffe, die Dekanatsfortbildungen 2023 zu «Kirchenmusik angesichts säkularer Gesellschaft» werden einen Beitrag zur Erneuerung der Kirche leisten.
Andreas Diederen ist bischöflicher Beauftragter für die Fortbildungen im Bistum Chur
Die Strahlkraft der sonntäglichen Glaubensfeier
Folgende Erfahrung liegt meinem Statement zugrunde: Die diözesanen Pastoralkonzepte halten am territorialen Prinzip der Seelsorge fest. Durch den Weiterbestand aller Pfarreien einerseits und die Autonomie der Kirchgemeinden andererseits ist der Druck auf die Pastoralverantwortlichen hoch, das breite Angebot der Sonntagsgottesdienste zu erhalten. Versuche, sie zu reduzieren, stossen zum Teil auf massiven Widerstand. Dazu kommen die bekannten personellen Engpässe. Zu Recht wird deshalb die Frage laut, ob aufgrund der teilweise geringen Beteiligung an den sonntäglichen Feiern eine Ausgestaltung noch möglich ist, die den Festcharakter in seiner Tiefe und Breite erfahrbar macht und eine bestimmte Lebendigkeit und Freude aufkommen lässt.
«Um die Strahlkraft des sonntäglichen Gottesdienstes zu erhalten, bedarf es einer Standortbestimmung.»
Darum erachte ich es als dringliche Aufgabe, dass die Voraussetzungen geprüft werden, wie der Sonntagsgottesdienst ein herausragender Ort bleibt, wo Menschen im Glauben gesammelt werden zu einer aufbauenden Erfahrung der Gegenwart Gottes und zur Ermutigung für solidarisches Handeln in Alltag. Damit das gelingen kann, halte ich u. a. folgende
Voraussetzungen für notwendig:
- Die Zusammenführung der Gläubigen und die Konzentration der Kräfte.
- Eine sorgfältige Verkündigung des Wortes Gottes und seine Auslegung im Hinblick auf die Bedeutung für das konkrete Leben.
- Der Einsatz der verschiedenen liturgischen Dienste in ihrer Vielfalt.
- Lieder und Kirchenmusik, die auf die Inhalte der Verkündigung abgestimmt sind.
- Einen Ort für Kinder, sich in der Kirche wohlzufühlen.
- Momente der Stille sowie Aufmerksamkeit für die Gestaltung der Rituale.
- Die Verlässlichkeit und Beständigkeit von Ort und Zeit des Gottesdienstes.
Um die Strahlkraft des sonntäglichen Gottesdienstes zu erhalten, bedarf es einer Standortbestimmung darüber, wo Voraussetzungen auf Dauer gegeben sind, dass der Gottesdienst den Inhalt, den wir feiern, stimmig zum Ausdruck bringen kann.
Dr. theol. Thomas Ruckstuhl ist seit 2017 Stadtpfarrer in Solothurn
Menschen einen Raum vor Gott anbieten
«Bei den Leuten» – so nannte Johann Weber, früherer Bischof von Graz-Steckau, sein kleines Buch, in dem er Begegnungen von sich mit den Menschen beschreibt. Zum Thema «Kirchenerneuerung durch Gottesdienst» schreibe ich aus der Perspektive einer Seelsorgerin in fünf Dörfern in Appenzell-Ausserrhoden. Wir befinden uns zwischen Säntis und St. Gallen auf ehemals reformiertem Boden. Viele Familien sind konfessionsübergreifend geprägt. Viele katholische Christen haben Migrationshintergrund. Es gibt viele Freikirchen.
«Gottesdienste sind auch heute wunderbare Möglichkeiten, Menschen im Leben zu begleiten.»
- Kirche als Welt-Institution organisiert im römisch-katholischen Recht ist hier oben für die meisten eine Grösse, die mit dem Leben nichts tun hat. Viele machen nicht mit und vermissen nichts. Die Engagierten und Interessierten sind enttäuscht: Erneuerung dauert. Wenn sie noch daran glauben, fragen sie: Erleben wir’s noch? Die anderen kommen nicht zu mir.
- Die wöchentlichen Gottesdienste werden von wenigen wöchentlich besucht. Einige besuchen Gottesdienste noch zu besonderen Anlässen: Weihnachten, Erstkommunion, Beerdigung, Chinderfiir, Jodlermesse. Die Mehrheit der gemeldeten Katholiken und Katholikinnen besucht keine Gottesdienste. Kirche als Gottesdienstgemeinschaft durch Gottesdienste erneuern zu wollen, wird so kaum Früchte tragen.
- Bleibt noch Kirche als Glaubensgemeinschaft. In den Sonntagsgottesdiensten selber bin ich in der Regel die Einzige, die über den Glauben an die Dreifaltigkeit und das Leben damit redet. Ich merke, wenn meine Leute gedanklich mitgehen, nicken, den Kopf schütteln. Was danach passiert, entzieht sich meist meiner Kenntnis. Bei Vorbereitungen zu Taufen und Beerdigungen sind es manchmal ein paar mehr, die reden. Danach sind auch sie erst einmal wieder weg.
Was von dem aufgehen wird, was ich in den Gottesdiensten versuche zu säen, weiss ich nicht. Trotzdem bin ich überzeugt: Gottesdienste sind auch heute wunderbare Möglichkeiten, Menschen im Leben zu begleiten und ihnen in ihren Lebenssituationen einen Raum vor Gott anzubieten.
Juliane Schulz ist Seelsorgerin in der Seelsorgeeinheit Appenzeller Hinterland