Ein Meer – viele Ufer

Lebens- und Glaubenswege, die durch das Mittelmeer führen

Im Januar 2014 eröffnete das Säkularinstitut der Scalabrini-Missionarinnen eine kleine Gemeinschaft in Agrigent, Provinzhauptstadt in Sizilien, zu der auch die Mittelmeerinsel Lampedusa gehört. Nahe Agrigent liegt der Hafen Porto Empedocle, einer der Anlegeplätze der Operation «Mare Nostrum». Von Januar bis heute brachte diese breit angelegte Aktion der italienischen Marine mehr als 25 000 Flüchtlinge vor allem vom Horn von Afrika und aus Syrien an Land. Für viele von ihnen ist Italien jedoch nur ein Transitland in der Hoffnung, andere europäische Staaten zu erreichen. Das Mittelmeer ist inzwischen zu einem der vielen Kreuzwege der Migration in der Welt geworden, die nicht nur durch Armut, sondern auch durch Kriege, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verursacht werden. Sie stellen unsere politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, unseren Lebensstil in Frage und zeigen uns, wie notwendig es ist, unsere Gesellschaft erneut auf den Werten von Solidarität und Miteinander- Teilen anstelle von Egoismus und Konsum zu begründen.

Im Mittelpunkt des Scalabrini-Fests di Primavera 2014 vom 2. bis zum 4. Mai, das jedes Jahr im internationalen Bildungszentrum «G.B. Scalabrini» (IBZ) in Solothurn stattfindet, stand dieses Jahr das Thema: «Ein Meer, viele Ufer. Lebens- und Glaubenswege, die durch das Mittelmeer führen». Dabei ging es nicht nur um eine Sensibilisierung der Teilnehmenden in Bezug auf die aktuellen Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum, sondern im Mittelpunkt stand auch die suchende Frage, ob Leid und Hoffnung, Lebens- und Glaubenserfahrung der Migranten nicht auch versteckte Spuren einer neu entstehenden Welt beinhalten, der nach geschwisterlichen Beziehungen dürstet. Eben darin besteht die Vision des seligen Bischofs G. B. Scalabrini in Bezug auf die Migration. Er konnte bereits am Ende des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit der Massenauswanderung von Europa nach Amerika – in der Migration ein Zeichen der Zeit erkennen. Es gelang ihm, wirkungsvoll in die konkreten Probleme einzugreifen, ohne je dabei den Plan Gottes für die Welt aus den Augen zu verlieren, einen Plan, nach dem Menschen und Völker berufen sind, sich in der einzigen Menschheits-familie einander zugehörig zu entdecken.

Im Kleinen zur Geschichte Gottes mit den Menschen beitragen

Im Rahmen des Forums des Scalabrini-Festes befassten sich verschiedene Referenten mit diesem Thema. Abba Mussie Zerai, der als Priester für die katholische eritreische Gemeinde orientalisch-alexandrinischen Ritus in der Schweiz verantwortlich und für sein Engagement für die Flüchtlinge vom Horn von Afrika bekannt ist, schilderte die Ursachen der Migration in verschiedenen afrikanischen Ländern und beschrieb die vielfältigen Gefahren, denen die Flüchtlinge bei ihrer Reise durch die Sahara und Libyen und auf dem Mittelmeer ausgesetzt sind. Ausserdem gab er ein eindrückliches Zeugnis seines unermüdlichen Einsatzes zu Gunsten der eritreischen Diaspora in verschiedenen europäischen Ländern.

Alessia Aprigliano, die seit Januar 2014 in Agrigent lebt, beschrieb die ersten Schritte der Scalabrini-Gemeinschaft dort in Zusammenarbeit mit der Ortskirche und deren Erzbischof Francesco Montenegro und mit der Caritas: «Wir sind in Agrigento, um am Leben der Menschen Anteil zu haben, zuzuhören, mitzutragen (…). Wir haben weder den Anspruch, noch sind wir in der Lage, die vielen und grossen Probleme der Flüchtlinge und der Einheimischen zu lösen. Es ist aber unser Wunsch, mit ihnen vor Ort, als ‹Migrantinnen unter Migranten›, unterwegs zu sein, um im Kleinen zur Geschichte beizutragen, die Gott – auch durch das Drama der Migration hindurch – mit der Menschheit schreibt.»

In Anbetracht der grossen Ungerechtigkeiten, die zu schmerzhaften Situationen vieler Migranten führt, ist es besonders wichtig, nicht zu resignieren. Der christliche Glaube und das Wort Gottes bieten uns eine weit greifende Vision zur menschlichen Geschichte, die uns helfen kann. Anna Fumagalli erläuterte einige biblische Abschnitte aus der Offenbarung des Johannes und betonte, dass jeder auf dem von Jesus aufgezeigten Weg der Liebe den eigenen und unersetzlichen Beitrag zum Plan Gottes für die Menschheit leisten könne.

«Werkstätten» eines neuen Miteinanders

Zirka 320 Teilnehmer aus 32 Herkunftsländern und aus verschiedenen Städten in der Schweiz waren in diesem Jahr zum Fest in Solothurn angereist: Sie kamen aus Deutschland, Italien, der Slowakei, Polen, Luxemburg und Holland. In Austauschgruppen und Workshops konnten sich alle mit dem Thema des Festes auseinandersetzen. In Gottesdiensten durften alle die lebensspendende Gemeinschaft erfahren, aus deren Kraft heraus alle immer mehr zu einer grenzenlosen Familie zusammenwachsen dürfen.

An verschiedenen Momenten des Scalabrini- Fests nahmen auch Vertreter der Ortskirche sowie Priester anderer Diözesen und Scalabrini-Missionare, darunter auch der Obere der Region Afrika-Europa, teil. Im Hintergrund des Scalabrini-Festes sowie anderer Begegnungen im IBZ steht die Erfahrung, dass das Zusammenleben in der Achtung vor der Einzigartigkeit eines jeden «Werkstätten» braucht, d. h. geschützte Räume, wo es möglich ist, ein neues Miteinander in der Vielfalt auszuprobieren. In diesen Werkstätten kann ein gegenseitiges Zuhören, die Bereitschaft zur Vergebung und zum Teilen, die Wertschätzung der Andersartigkeit des Anderen und ein Sich-Freuen-Können über den Erfolg des Anderen eingeübt werden, damit dies auch im Alltag möglich wird.

 

Luisa Deponti (Bild: zVg)

Luisa Deponti

Luisa Deponti gehört zum Säkularinstitut der Scalabrini-Missionarinnen und ist im Studienzentrum für Migrationsfragen (CSERPE) in Basel tätig