«Kirche des Ostens», Neuanfang in Zeiten grosser Bedrohung

Mit Gewargis III. Sliwa (73) hat die Assyrische Kirche des Ostens am 18. September 2015 ihren 112. Patriarchen gewählt. Die angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den islamistischen Fundamentalismus entstandenen Unionsbestrebungen innerhalb der assyrischen Kirchen, die vom chaldäischen Patriarchen Sako vorangetrieben wurden, sind zwar vorerst kein Thema mehr, die getrennten Kirchen wollen jedoch angesichts der Gefahr durch den "Islamischen Staat" (IS) immer mehr gemeinsam agieren. Die Wahl des neuen Patriarchen erfolgte während der Synode der Assyrischen Kirche des Ostens am 18. September 2015 in Erbil in der kurdischen Autonomiezone im Nordirak. Das Amt war seit dem Tode von Patriarch Mar Dinkha IV. im März vakant. Die alte Kirche des Ostens geht auf die frühchristliche Evangelisierung in Mesopotamien zurück. Diese Kirche war eine blühende Kirche, die als erste die Botschaft Jesu Christi nach Arabien, Persien, Indien und bis nach China gebracht hatte, sie war viele Jahrhunderte die missionskräftigste Kirche überhaupt. Erst mit dem Mongolensturm im 14. Jahrhundert war ihre Kraft erlahmt, und ihre Hierarchien zogen sich in die Bergregionen des Nahen Ostens zurück, die Missionskirchen, ausser in Indien, gingen zu Grunde. Gewargis III. Sliwa wurde am 23. November 1941 in Habbaniya im Irak geboren. Seine Studien absolvierte er in Bagdad und in den USA. 1980 wurde er zum Priester geweiht, seit 1981 ist er Metropolit des Irak, Jordaniens und Russlands. Bekannt wurde sein Besuch in China im Jahre 1996, als er neben den Ruinen der Daqin Pagoda, die 640 von den Assyrern als älteste Kirche im Reich der Mitte erbaut worden war, die Liturgie der Kirche des Ostens feierte. Papst Franziskus hat dem neuen Patriarchen der Assyrischen Kirche des Ostens angesichts der Christenverfolgung im Irak und in Syrien seine besondere Solidarität zugesichert. In einer vom Vatikan veröffentlichten Papstbotschaft an den Patriarchen beklagt Papst Franziskus die "tragische Situation" für Christen und andere religiöse Minderheiten im Nahen Osten. Er schliesse sich im Gebet für die Leidenden an und bitte Gott um die innere Stärke für die Christen, an ihrem Glauben festzuhalten. Der Papst wünsche sich eine weitere Vertiefung der Freundschaft und des Dialogs zwischen den beiden Kirchen.

Von der nestorianischen Kirche zur Kirche des Ostens

Die Kirche des Ostens geht auf die Apostel Thomas und Addai zurück, ihre ersten Gläubigen kamen als Kriegsgefangene der Sassaniden ins persische Reich. Dort verselbstständigte sich diese Kirche um 424 unter Patriarch Nestorius, der 428 als Bischof von Konstantinopel eingesetzt worden war, und trennte sich von der alten Kirche. Seiner Lehre nach hat Christus nicht nur eine göttliche, sondern auch eine menschliche Natur. Kyrill von Alexandria hatte diese Lehre heftig kritisiert, sodass sie auf dem Konzil von Ephesos 431 und dem Zweiten Konzil von Konstantinopel 553 als Häresie verurteilt wurde. Da nur die Kirche des Ostens noch die nestorianische Lehre vertrat, wurde diese fortan auch als nestorianische Kirche bezeichnet. Anders als die anderen Ostkirchen war die Kirche des Ostens nie Staatskirche, sondern bildete immer eine Minderheit unter einer mehrheitlich nichtchristlichen Bevölkerung. Gerade dies war jedoch das Erfolgsrezept für die weltweite Mission dieser Kirche, denn um das Jahr 1000 gehörten über ein Drittel aller Christen weltweit dieser Kirche, die 27 Metropoliten und 230 Diözesen besass, an. Trotz der geografischen und geistigen Abgeschiedenheit behielt die nestorianische Kirche Kontakte zu Rom, die von Bagdad abhängigen Nestorianer an der Malabarküste in Indien betrachteten sich sogar bis zur Ankunft der Portugiesen als katholisch. Erst als die nestorianische Hierarchie von den Portugiesen in Goa im 16. Jahrhundert abgesetzt wurde und die Liturgie latinisiert wurde, trennte man sich von Rom. Die Kirche des Ostens erlebte eine erste Spaltung, als sich mit Jean-Simon Sulaka 1552 ein nestorianischer Bischof abspaltete und sich mit der Kirche Roms zur chaldäischen Kirche unierte. Eine weitere existenzielle Bedrohung für die Kirche des Ostens waren die Christenverfolgungen im Osmanischen Reich, die 1915 ihren Höhepunkt fanden, als neben 1,5 Millionen Armeniern auch etwa 500 000 Assyrer ermordet oder vertrieben wurden. Dieses heute weitgehend als Genozid anerkannte Christenmassaker führte dazu, dass der Patriarch der Assyrischen Kirche des Ostens seinen Sitz aus dem im Südosten der Türkei gelegenen Ort Kutschanis über Zwischenstationen im Irak und in Zypern schliesslich 1940 in die USA verlegte. Teile seiner im Nahen Osten versprengten Gemeinde wurden seit 1923 vom Völkerbund im nordsyrischen Khabour-Gebiet unter französischem Mandat neu angesiedelt, wo sie bis zum Februar dieses Jahres, als der IS diese Region eroberte, in mehr als 40 Dörfern lebten. Kurdische Peshmerga-Einheiten und christliche Selbstschutzmilizen haben zwar diese Region wieder zurückerobert, aber an eine Rückkehr der einstigen Bewohner in das heutige Frontgebiet ist nicht zu denken. Die Chaldäer hatten bereits im letzten Jahr, als die Grossstadt Mossul und die Stadt Karakosch sowie die Niniveebene mit Ausnahme von Alqush im Norden des Iraks in die Hände des IS fielen, grosse Teile ihrer alten Heimat verloren.

Annäherung an Rom

Der im März verstorbene Patriarch Mar Dinkha IV. hatte am 11. November 1994 Papst Johannes Paul II. im Vatikan getroffen, sie unterzeichneten bei diesem historischen Treffen eine Konsenserklärung zur Christologie. Dabei erklärten beide Seiten die "volle Kirchengemeinschaft" zum Ziel ihres weiteren "Theologischen Dialogs". Danach verbesserten sich die Beziehungen auch zur mit Rom unierten chaldäischen Kirche, sodass seit 2001 unter gewissen Bedingungen eine gegenseitige Teilnahme an der Eucharistie möglich ist. Am 21. Juni 2007 besuchte Mar Dinkha IV. auch Papst Benedikt XVI. im Vatikan. Während die chaldäische Kirche bis zur Besetzung des Iraks durch die US-Armee 2003 vorwiegend im Irak verankert war und dort auch heute noch 300 000 Mitglieder zählt, hat die Assyrische Kirche des Ostens schon lange ihr Zentrum in den USA, Westeuropa und Australien, also im Exil. Im Nahen Osten leben nur noch wenige tausend Mitglieder dieser Kirche. Wegen der Exil- Situation des Patriarchen spaltete sich von der Assyrischen Kirche des Ostens 1964 der irakische Teil der Kirche ab, der sich seither Alte Assyrische Kirche des Ostens nennt. Katholikos dieser Kirche im Irak ist seit 1970 Patriarch Addai II. mit Sitz in Bagdad, aber auch diese Kirche zählt nur wenige tausend Kirchenmitglieder im Irak. Insgesamt gehören zu den beiden Assyrischen Kirchen des Ostens etwa 150 000 Christen weltweit, während die Mitgliedschaft der chaldäischen Kirche dagegen eine halbe Million beträgt.

Kirchengemeinschaft vorerst kein Thema mehr

Angesicht der immer grösseren Vertreibungswellen ostsyrisch-aramäischer Christen im Irak und in Syrien, verursacht durch den IS, hatte Patriarch Louis Raphaël I. Sako von Babylonien, Oberhaupt der mit Rom unierten chaldäisch-katholischen Kirche, letztes Jahr seinen Rücktritt angeboten, um den Weg zur Wiedervereinigung der drei assyrischen Konfessionen frei zu machen, die sich auf die ostsyrische Tradition der alten Kirche des Ostens berufen. Seit 2013 fanden auf Initiative von Patriarch Sako Annäherungsgespräche statt, die vom verstorbenen Katholikos Dinkha IV. der Assyrischen Kirche des Ostens begrüsst wurden. Auch Patriarch Addai II. der Alten Assyrische Kirche des Ostens hatte die Einheitsbestrebungen des chaldäischen Patriarchen unterstützt und war bereit gewesen, für die Neuwahl eines gemeinsamen Patriarchen sein Amt zur Verfügung zu stellen.

Der Tod von Katholikos Dinkha IV. Khanania im März hat dem Wiedervereinigungsaufruf von Patriarch Sako einen Rückschlag versetzt. Der Unionsplan von Patriarch Louis Raphaël I. Sako sah die Vereinigung zu einer kirchenrechtlich eigenständigen, aber weiterhin mit Rom unierten Kirche vor. Was die Anerkennung des Papstes in Rom anbelangt, verwies Louis Raphaël I. Sako auf die 1994 von Papst Johannes Paul II. und Katholikos Dinkha IV. unterzeichnete gemeinsame christologische Erklärung, wonach die Assyrische Kirche des Ostens und die chaldäisch-katholische Kirche denselben Glauben an Jesus Christus bekennen. Die alten christologischen Kontroversen, die der eigentliche Grund der Trennung von Rom waren, waren zum grössten Teil Missverständnissen geschuldet.

Mitte Juli hat die Assyrische Kirche des Ostens noch während der Vakanzphase des Patriarchats, den "Vorschlag zur Einheit" mit den Chaldäern abgelehnt, weil das Verhältnis zu Rom nicht in ihrem Sinne geklärt worden war. Die Unionsgespräche wurden zunächst einmal abgesagt. Der neue Patriarch wird zunächst wohl nicht auf weitere Gespräche eingehen, da er seine Autorität erst einmal festigen muss. Allerdings hat auch die Kirche des Ostens verstanden, dass ihre Existenz mit dem Vordringen des Islamismus auf dem Spiel steht. Schon seit 2007 gibt es Bestrebungen, den Patriarchensitz, der sich seit 1940 in der Nähe von Chicago befindet, wieder in die Herkunftsregion der Kirche, nämlich nach Erbil im Nordirak zurückzuverlegen. In Bagdad residierte bereits seit 780 der Patriarch der Kirche des Ostens. Gläubige der assyrischen Kirche sind durch das Vordringen des IS in Syrien und im Irak in ihrer Existenz bedroht. Nur im Libanon, im Iran und in Armenien können die Gemeinden dieser Kirche noch weitgehend sicher und friedlich leben. Die überwiegende Mehrheit der Kirche lebt bereits seit den 1930er-Jahren in Europa, den USA und Australien.

Immer wieder in Zeiten der Bedrängnis wurden Bestrebungen zur Wiedervereinigung getrennter Kirchen wach. Noch als die Muslime Konstantinopel jahrelang belagerten, hatte der Patriarch von Ostrom Unionskonzile einberufen und auf Hilfe aus dem Westen gehofft, bis zur Einnahme Konstantinopels im Jahre 1453. Der seit drei Jahren amtierende Patriarch Louis Sako ist ein unermüdlicher Kämpfer für das Überleben und die Rechte seiner Kirche. Auch das Streben nach einer Wiedervereinigung wollte er als Mittel zur Stärkung des Überlebenswillens seiner bedrängten Gemeinde einsetzen. Das Scheitern dieses Projektes hat ihn nicht entmutigt, im Gegenteil. Vor kurzem hat er in Erbil bei einer internationalen Konferenz die Gründung einer "Chaldäischen Liga" bekannt gegeben. Der Präsident dieser Liga ist ein Laie, der Apotheker Safah Hindi. Diese Liga soll nicht nur die sozialen Projekte der Kirche selbstständig durchführen. Sie soll auch erstmals den Laien mehr Mitsprache in den bis dato sehr von der Hierarchie geprägten orientalischen Kirchen geben. 

 

 


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».