Brisante Biografie

Den zweiten Jesuitengeneral aus dem Schatten geholt

Der Gründer und erste Generalobere der Gesellschaft Jesu, Ignatius von Loyola, ist allbekannt, recht gut auch der dritte Generalobere, Francisco de Borja, aber der zweite, Diego Laínez (1512–1565), ist bisher ausserhalb des Ordens nur partiell aus dem Schatten der Geschichtsschreibung getreten. Dabei zeigt schon der Untertitel des hier anzuzeigenden Buches,1 was hinter dieser Persönlichkeit steckt: Er ist jüdischer Abkunft, war ein enger Vertrauter des Ordensgründers und ein herausragender Theologe am Konzil von Trient. Gleich sei vorweggenommen, dass das Buch zwar einen englischen Titel hat, aber 31 Beiträge in den fünf Sprachen der Buchreihe aufweist (Deutsch neun, Spanisch acht, Italienisch sieben, Englisch fünf, Französisch zwei), wobei jeder Beitrag durch eine Zusammenfassung in zwei bis drei Sprachen zugänglich ist. Wer von den Umständen (oder der Vorsehung) in einer aufgewühlten Zeit an leitende Stelle in der Kirche gerät, hat es gleich mit der ganzen Welt zu tun. Das war bei Diego Laínez der Fall, und zwar zunächst in den drei Bereichen, die schon angetönt wurden.

Juden und Muslime in Spanien

Von 711 bis 1492 war der Islam "eine politisch, religiös, sozial und kulturell bestimmende Macht in diesem Teil Europas".2 Muslimische Araber und Berber waren ins Reich der Westgoten eingebrochen und hatten gesiegt. Die nachfolgende "maurische Epoche ist ein Teil der europäischen Geschichte". Aber sie ist nicht das multikulturelle Paradies, das man gerne der späteren katholischen Unterdrückung gegenüberstellt, obwohl für beide Strömungen starke Zeugnisse vorliegen. Die relative kulturelle Freiheit zog auch Juden an, sodass um 1400, da Spanien etwa neun Millionen Einwohner zählte, etwa je eine halbe Million Juden und Muslime dort wohnten. Diese wurden mit staatlicher Gewalt vor die Alternative Auswanderung oder Konversion gestellt, was den Übertritt oft nicht als gläubige "Bekehrung" erscheinen liess. Als die "Neuchristen" wirtschaftlich und bildungsmässig bedrohlich wurden, erhob sich ein weitverbreiteter "Antisemitismus" (gegen Juden und Muslime), organisatorisch unterstützt von der Inquisition, die allem Verdächtigen nachspürte. Schliesslich musste man, um Karriere zu machen, einen Nachweis der Rassenreinheit vorlegen, so nach einem Statut von 1547, das bis 1833 in Kraft war. Sogar der Jesuitenorden liess sich in den Sog mitreissen und bestimmte an der fünften Generalkongregation von 1593, dass nur noch Neuchristen, deren Vorfahren fünf Generationen früher sich bekehrt hatten, in den Orden aufgenommen werden konnten – nach dieser Vorschrift hätte Laínez gar nicht eintreten können, denn erst sein Urgrossvater war übergetreten. Die jüdische Abkunft des zweiten Jesuitengenerals wurde durch alle Jahrhunderte tunlichst verschwiegen. Laínez selber aber wird gegen Ende seiner Amtszeit im Zusammenhang mit der chinesischen Mission des Ordens unterstreichen, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben sei und man anderen Religionen gegenüber Respekt bezeugen müsse.

Der enge Vertraute des Ignatius

Diego Laínez wechselte nach Studien in Alcalá nach Paris über, wo er Ignatius von Loyola kennen lernte, bei dem er die Grossen Exerzitien machte und dem er sich mit weiteren Gefährten anschloss. Am 15. August 1534 legten sie auf dem Montmartre die Gelübde ab, 1540 wurde die wachsende "Gesellschaft Jesu" päpstlich anerkannt. Von einer zunächst eher kollegial bzw. synodal geprägten Gruppe wurden sie zu einem pyramidal von Rom aus geleiteten Orden. Ignatius, der von Anfang an global dachte – aber auch vom Weltreich Spanien geprägt war, das er in seinem inneren Funktionieren kennen gelernt hat- te –, erkannte, dass der Vielfalt der Religionen und den sich spaltenden Christenheiten gegenüber am besten eine zentral geführte Truppe im Gehorsam gegenüber dem Papst standhalten konnte. Laínez stand ihm immer sehr nahe und übernahm seine Grundintentionen getreu, sodass er nach dem Tod des Ignatius 1556 zunächst für zwei Jahre Generalvikar und dann ab 1558 Generaloberer wurde; als er den Orden übernahm, zählte er etwa 1000 Mitglieder, nach dem Tod von Laínez sieben Jahre später etwa 3500.

Auf dem Konzil von Trient

Als angesichts des wachsenden Protestantismus die Kirche einsah, dass auch für sie eine Reform fällig war, fiel die Idee eines Konzils, das dann auf 1545 nach Trient einberufen wurde, einer eigentlich wegen der mangelnden Infrastruktur ungeeigneten Stadt, aber innerhalb des Reiches von Kaiser Karl V. gelegen und nur drei Reisetage für einen Eilboten von Rom entfernt. In der ersten Sitzungsperiode nahmen etwa 100 Bischöfe und 100 Theologen teil, an der letzten über 200 in bischöflichem Rang stehende Prälaten usw. Ignatius hielt von solcherlei Verhandlungen wenig, aber liess Laínez als Theologen ziehen (in der zweiten Sitzungsperiode als päpstlicher Theologe), in der dritten Sitzungsperiode war er als Ordensoberer Teilnehmer. Seine Voten, theologisch gut fundiert und rhetorisch überzeugend vorgetragen, wurden sehr beachtet; man konnte damals stundenlange Voten abgeben, auch einen ganzen halben Tag beanspruchen. Neben vielen wichtigen Themen wurde auch darüber diskutiert, ob die Residenzpflicht der Bischöfe "göttliches Recht" sei oder nicht und ob die Bischöfe ihre Jurisdiktion vom Papst erhielten oder durch die Weihe verliehen bekämen; Laínez war in dieser Beziehung deutlich päpstlich- kurial. An den Reformbestrebungen nach dem Konzil beteiligte sich der Orden ganz entscheidend.

Der Ordensalltag

Zielsetzung und Hauptaufgabe des Jesuitenordens zeichneten sich in den ersten Jahren immer deutlicher ab, und Laínez steuerte die Gesellschaft ruhig und aus einer tiefen, ganz auf den Exerzitien beruhenden Frömmigkeit heraus in seinen vielen Sektoren. Wichtig waren ihm einerseits die Exerzitien, eine geistige Schulung der geistlichen und weltlichen Elite, aber auch die Volkspredigt und in diesem Zusammenhang der Katechismus, für den Petrus Canisius bahnbrechend war. Eigentlich hätte auch Laínez ein Handbuch des katholischen Glaubens für ein höheres intellektuelles Niveau schreiben sollen, aber er brachte es nicht fertig. Er war mündlich für Predigten, Vorträge, Voten mehr geeignet als für schriftliche Abhandlungen, mit Ausnahme der Briefe, die er bzw. sein Sekretär in seinem Auftrag schrieben; allerdings war seine Handschrift so unleserlich, dass er an seinem relativen Randdasein in der Ordensgeschichte auch selbst schuld war.

Ganz besondere Sorgfalt wandte er den Kollegien zu, den Schulungsstätten für den Orden, aber auch für Aussenstehende. Dutzende wurden gegründet, und immer hatte der Ordensobere mit Lehrermangel zu kämpfen. Zum Schuldienst gehörten auch die Theateraufführungen mit meist lateinischem Text und grossartigen Kulissenbauten und Kostümen. Für die Schulen und Ordensniederlassungen mussten Gebäulichkeiten und Gebetsstätten beschafft werden, und es bildete sich ein "modo nostro" in der Architektur aus, eine "unsrige Art", ohne Prunk, funktional, gefällig – bisweilen so rasch und billig hergestellt, dass kurz darauf nochmals gebaut werden musste. Später schloss sich der Orden der allgemeinen Kunstentwicklung an und kam auch zu barocken Kirchen und Gebäuden. Als Ordensgeneral hatte er mit weltlichen und kirchlichen Behörden zu tun, und es kam sehr darauf an, dass man mit allen gut auskam. Aber es war eine schwierige Zeit: das Lavieren zwischen Papst und Kaiser, die sich rasch folgenden Päpste (einmal in 41 Jahren deren sieben!), das Auskommen mit den Papstnepoten (u. a. Carlo Borromeo, der persönlich integer war), die aus rein familienpolitischen Gründen emporgehisst wurden und meist kaum geistliche Neigungen hatten.

Die Ordensleitung wurde dank eines genau geregelten Korrespondenzsystems aufrechterhalten, die Mitteilungen von unten nach oben und die Weisungen von oben nach unten zirkulierten reihum, aber der Weg war primär pyramidal, direkte Beziehungen "unten" waren nicht vorgesehen. Nebst den Jesuiten waren vor allem die Reformfranziskaner, die Kapuziner, für die Kirchenreform tätig, ihre Zusammenarbeit bewährte sich oft sehr gut, eng aber erst nach dem Tod von Laínez. Der Jesuitenorden breitete sich kontinuierlich in vielen Ländern Europas aus, wegweisend wurde er aber auch in der sogenannten Neuen Welt.

In der Neuen Welt

Die aussereuropäischen Kontinente erschlossen sich erst langsam. Marco Polo hinterliess einen farbigen, aber sachlich nicht ganz zuverlässigen Bericht über China; von Afrika – d. h. vor allem Äthiopien – hatte man einige legendäre Kenntnisse (von einem Priesterkönig Johannes, der über ein Riesenreich regierte); Amerika wurde 1492 entdeckt und somit "Missionsland", da man die armen Heiden fürs ewige Leben retten wollte. Franz Xaver kam bis Japan, starb aber vor den Toren Chinas, die Herrscher dort hatten wenig Lust, Europäer einzulassen, schrittweise und sachte wurde es möglich; erst 20 Jahre später gelang es dem Jesuiten Matteo Ricci, der perfekt Chinesisch gelernt und sich die Verhaltensregeln der Notablen angeeignet hatte, zu einem Kulturbotschafter zu werden. Laínez überwachte diese Bestrebungen sorgfältig und förderte sie; gerade hier zeigte sich seine tiefreligiöse Gesinnung. Andere Jesuiten bemühten sich um Äthiopien. Aber es scheint, dass sie die dort ansässigen Christen, so wenig wie jene in Indien, als Glaubensbrüder anerkannt hätten – im Grunde mussten alle diese Völker zum Papst "bekehrt" werden. Die missionarische und bildungsbeflissene Tätigkeit der Jesuiten wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht Laínez auf vornehme Art gelungen wäre, einen mündlich erlassenen Befehl des Papstes auf die Übernahme des regelmässigen Chorgebets zuerst freundlich zu relativieren und nach dessen Tod sofort kirchenrechtlich unerheblich erklären zu lassen.

Dieser dicke Band ist von lauter Spezialisten geschrieben; aus der Schweiz beteiligten sich neben Paul Oberholzer SJ, der mehrere Artikel beisteuerte, Volker Reinhardt, Mariano Delgado, Niklaus Kuster und Urban Fink. Bewundernswert ist die Energie des Schweizer Herausgebers, alles zusammenzustellen und punktgenau vorzulegen; wer sich bisweilen bei der Lektüre von den vorausgesetzten Kenntnissen verlassen fühlt, findet im Internet (und oft auch in einem anderen Kapitel) Trost und Auskunft. Die gründliche Darstellung dieses bescheidenen, aber wichtigen Lebens inmitten seiner Zeit und Umwelt war notwendig, um Laínez Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er war ja nie vergessen, vieles war schon aus den Quellen aufgearbeitet worden, aber eine umfassende Sicht drängte sich auf. Hier liegt sie vor. 

 

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).