Das Recht Gestorbener

Endet die Würde des Menschen mit dem Tod? Und was geschieht mit den Körpern von Verstorbenen, insbesondere von Opfern der Gewalt? Luise Metzler1 wirft in ihrer Dissertation einen besonderen Blick auf die Menschenwürde und auf das Recht Gestorbener, nämlich das Recht auf Bestattung. Dieses scheint gemäss Metzler so selbstverständlich (vgl. etwa Gen 23, das Begräbnis Saras), dass Vorschriften dazu in der Tora nur für Grenzfälle formuliert sind, wie sie der Tod von hingerichteten Verbrechern oder Kriegsopfern darstellt. (vgl. 32) In Dtn 21,22 f. findet sich dazu die Weisung JHWHs: "Wenn an jemandem eine Schuld ist, auf der die Todesstrafe steht, und er oder sie wird hingerichtet und an einen Baum gehängt, so lasse den Leichnam nicht über Nacht im Baum hängen. Begrabe ihn unbedingt noch am gleichen Tag, denn er ist ein Fluch der Gottheit" (Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache).

Die Übersetzung der Stelle in der "Bibel in gerechter Sprache" macht darauf aufmerksam, dass ein über Nacht am Galgen hängender Mensch etwas mit Gott macht. Er ist gemäss dieser Übersetzung ein "Fluch der Gottheit". Die Einheitsübersetzung weist demgegenüber in eine andere Richtung, wenn dort zu lesen ist: "… denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter". Luise Metzler zeigt den Hintergrund dieser Stelle auf (vgl. 33–38): Ein Hingerichteter soll nicht über Nacht am Baum hängen bleiben, weil er von Tieren angefressen und so geschändet werden kann. Damit aber wird Gottes Ehre (Gottes "Gewicht", kabod) vermindert, das heisst, Gott selbst entwürdigt. Die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, auch eines Hingerichteten, reicht über den Tod hinaus. Einen Leichnam nicht zu bestatten, sondern den wilden Tieren auszusetzten, ist eine Entwürdigung Gottes.

Im Gegensatz zu bisherigen Übersetzungen lautet Metzlers Übersetzung der Stelle daher:

"… dann darf deren Leiche nicht über Nacht an dem Holz bleiben.

Du sollst sie unbedingt noch am selben Tag begraben.

Denn Aufgehängte sind eine Entwürdigung der Gottheit."

Dieses Recht auf Bestattung gilt also für jeden Menschen. Die Bestattung von Toten ist ein Liebeswerk in der jüdischen Tradition, weil jeder Mensch auch nach dem Tod Ebenbild Gottes bleibt, ganz besonders auch die Opfer von Gewalt, von Hungersnot und Krankheit. "Sichtbar, aber auch verletzbar ist Gott besonders in den Hilflosen, in den Bedrängten, in denen, die Unrecht und Gewalt erleiden (…). Denn Gott will die Würde ihrer Ebenbilder nach dem Tod gewahrt wissen, auch durch eine angemessene Bestattung, sogar für VerbrecherInnen" (37).

Sorgfältig listet die Autorin in Teil II ihres Buches die Begräbnisnotizen der hebräischen Bibel, der apokryphen Schriften und des Neuen Testaments auf. Besonders beeindruckt hat mich die Überlegung, dass auch die Freunde Jesu zusammen mit Josef von Arimathäa gemäss der Weisung der Tora in Dtn 21,22 f. handelten und trotz der grossen Gefahr durch die Römer den gekreuzigten Jesus nach dessen Tod bestatteten. Für die Römer dagegen war es gang und gäbe, die Gekreuzigten tagelang hängen und von den wilden Tieren fressen zu lassen. Die Auferstehung Jesu kann in diesem Kontext unter einem zusätzlichen Aspekt gelesen werden: Gott anerkennt das solidarische und toragemässe Handeln der Jüngerinnen und Jünger (vgl. 109 f.).

Nach der Darstellung von Prophetie und Königtum sowie der bedeutenden Rolle von Prophetinnen in den Samuelbüchern (Teil III) wendet sich Luise Metzler im vierten Teil Rizpa zu. Rizpa war die Mutter von zwei Söhnen Sauls. David liess diese Söhne zusammen mit fünf Enkeln Sauls aus politischen Gründen töten. In 2 Sam 21,1–14 wird Rizpa zur Tora-Lehrerin für König David im Blick auf das Recht Gestorbener auf Bestattung. Anders als Abigajil, die David mit Worten vom Weg der Gewalt abbringt, lehrt Rizpa den König durch ihr Tun. Sie geht mit dem Sackgewand als Trauerkleidung zum Feld, auf dem die sieben getöteten Nachkommen Sauls liegen, und wacht schweigend bei den Toten. Damit stellt sie sich deutlich sichtbar der brachialen Gewalt und der Entwürdigung der Getöteten entgegen. (vgl. 304–310) Rizpas wortloses Tun gemäss der Weisung der Tora (Dtn 21,22 f.) bestimmt in der Folge Davids Handeln. Er lässt die Hingerichteten begraben.

Nachdem David den Getöteten Gerechtigkeit hat widerfahren lassen, ist auch Gott wieder ansprechbar und lässt sich für das unter Dürre und Hungersnot leidende Land erbitten (2 Sam 21,14).

Mit ihrem Buch schenkt Luise Metzler den Leserinnen und Lesern einen neuen Blick auf das prophetische Handeln Rizpas – und damit auf das Bild Davids in den Samuelbüchern. Noch mehr beeindruckt ihre theologische Sicht des Rechts Gestorbener auf Bestattung aufgrund der Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen über den Tod hinaus.

Luise Metzler wurde für Ihre Dissertation am 30. Oktober 2015 in Basel mit dem Marga-Bührig-Förderpreis 2015 für feministisch-befreiungstheologische Arbeiten ausgezeichnet, weil sie für ihre Dissertation mit grossem Engagement die biblischen Traditionen für die Opfer von Gewalt durchkämmt hatte. 

 

 

1 Luise Metzler: Das Recht Gestorbener. Rizpa als Toralehrerin für David [= Theologische Frauenforschung in Europa, Bd. 28]. Münster-Berlin (LIT-Verlag) 2015, 448 S. Die Zahlen in Klammern im Text beziehen sich auf dieses Buch.

Franziska Loretan-Saladin

Franziska Loretan-Saladin

Dr. theol. Franziska Loretan-Saladin ist Lehrbeauftragte für Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.