Kinder Gottes

Fest Allerheiligen: 1 Joh 3,1–3 (Offb 7,2–4.9–14; Mt 5,1–12a)

Die Adressatinnen und Adressaten von 1 Joh ringen mit der Realität einer Spaltung in der johanneischen Gemeinde («Aus unserer Mitte sind sie hervorgegangen …» [1 Joh 2,19]). Dieser Interpretationskonflikt innerhalb der Gemeinde bedeutet für die restliche Gemeinde eine Bedrohung ihrer Existenz, weil zum einen die theologische Überlieferung innerhalb der Gemeinde Missbrauch ausgesetzt war, zum anderen die quantitativen Auswirkungen der Spaltung konkrete, lebenspraktische Konsequenzen provozierten (z. B. Mangel an alltäglichen Ressourcen).

In diese Situation richtet der Verfasser des 1 Joh aus der johanneischen Schule um 100 n. C hr. ein paränetisches und gleichsam mahnendes Schreiben an die johanneische Gemeinde. 1 Joh gilt der Stärkung der johanneischen Gemeinde, indem zugleich der Zusammenhalt in der Gemeinde gefestigt und die Gemeinde gegen aussen geschützt werden soll. Auch wenn 1 Joh keine Briefform erkennen lässt, da Briefpräskript und Schlussgrüsse fehlen und kein Absender genannt wird, stellt 1 Joh einen Brief dar. Denn in seinem Inhalt wird deutlich, dass konkrete Empfängerinnen und Empfängern in einer ganz bestimmten Situation vor dem Hintergrund einer geteilten Geschichte angesprochen werden. 1 Joh will den Adressatinnen und Adressaten Verstehenshilfe für das Hören und Verstehen des Johannesevangeliums sein, dessen Verfasser zur gleichen Schule gehören.

In diese Situation hinein sagt 1 Joh 3,1–3 der johnneischen Gemeinde Gotteskindschaft zu. Gott schenkt den Glaubenden seine Kindschaft, d. h. ein ausserordentliches Näheverhältnis. Die Formulierung «Kinder Gottes» geht zum einen auf den Prolog des JohEv zurück, wo in Joh 1,12–13 das Kind- Gottes-Werden und das Gezeugt-Werden aus Gott miteinander verbunden werden. In 1,12–13 wird denjenigen, die den «logos», d. h. den in Jesus Christus menschgewordenen Gott, aufnehmen, zugesagt, dass sie aufgrund ihrer Aufnahme des «logos» zu einem Leben als Kinder Gottes bevollmächtigt werden und dass sie ihre Existenz von Gott her ableiten. Diese Zusage ist zusammen mit dem Nikodemusgespräch in Joh 3 zu sehen. Dadurch wird deutlich, dass damit die Taufwirklichkeit (und zugleich die Taufkonsequenz) angesprochen sind.

Das Fundament der den Glaubenden in 1 Joh 3,1–3 unter Bezugnahme auf den Johannesprolog zugesagten Gotteskindschaft stellt die johanneische Rede von der Immanenz dar, d. h. von dem Eins-, aber doch Verschiedensein von Vater und Sohn, von dieser so eng wie nur vorstellbaren Beziehung von Vater und Sohn. Dabei handelt es sich um ein in der Dynamik gedachtes, beziehungsorientiertes Gottesverständnis, aus dem sich ein ebenfalls beziehungsorientiert angelegtes Zugehen Gottes auf den Menschen ergibt. Nicht nur wurde der «logos» unter uns Fleisch und zeltete unter uns (Joh 1,14), sondern die Menschen können «Kinder Gottes» (Joh 1,12) werden, ja: «Wir heissen Kinder Gottes, und wir sind es» (1 Joh 3,1). Hier wird eine Entwicklung von der im Johannesprolog zugesagten Möglichkeit und Basis im Gezeugt-Werden von Gott hin zu einer Benennung als Kinder Gottes und Feststellung des Status als Kinder Gottes sichtbar. Letzteres umfasst eine neue Identität für die Glaubenden, die auf der Liebe Gottes basiert. Der Liebe von Eltern gleich schenkt die Liebe Gottes den Glaubenden Leben. Die Liebe Gottes zeichnet auch den Rahmen für diese neue Identität, die sich an Jesus Christus orientiert. Denn Kinder haben ihr Leben vor sich, und damit eröffnet sich ihnen auch die Möglichkeit, die in der Gegenwart ergangene Zusage in der Zukunft zu realisieren. Diese präsentische Eschatologie, in der die Vollendung der Gotteskindschaft noch aussteht, kommt in 1 Joh 3,1–3 nicht nur in der Nennung bzw. Feststellung der Gotteskindschaft zum Ausdruck, sondern auch in der Prophezeiung der Schau Gottes: «denn wir werden ihn sehen, wie er ist».

1 Joh im jüdischen Kontext

Zum anderen ist die Formulierung «Kinder Gottes» – Joh 1,12–13 und 1 Joh 3,1–3 – vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition zu lesen. «Ihr seid Kinder des Herrn, unseres Gottes» steht Dtn 14,1 für das Bundesvolk Israel. Im Jubiläenbuch wird die Bundesformel der jüdischen Bibel aufgegriffen: «Und ich werde ihnen Vater sein und sie werden meine Kinder sein. Und sie alle werden genannt werden Kinder des lebendigen Gottes. Und es werden sie kennen alle Engel und alle Geister. Und sie sollen sie kennen, dass sie meine Kinder sind und ich ihr Vater in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und dass ich sie liebe. » Gleichzeitig fällt auf, dass im 1 Joh 3,1–3 nicht von den «Söhnen Gottes» die Rede ist. Letztere Formel war in der jüdischen Bibel geläufig. 1 Joh reserviert jedoch den Titel «Sohn Gottes» für Jesus Christus. «Kinder Gottes» (tekna) in 1 Joh 3,1 hebt sich jedoch ab von der sonst im Brief verwendeten Anrede «Kindlein» (teknia) und darf daher als Hoheitstitel für die Glaubenden bezeichnet werden. Dieser steht in der jüdischen Tradition, bezeichnet aber hier eine präsentische Realität.

Wie beim JohEv und bei 1 Joh und den anderen beiden Johannesbriefen wird die enge Verbindung und Nähe zur jüdischen Tradition deutlich sichtbar. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die johanneischen Schriften. Sie lässt auf eine Verortung der johanneischen Schule und Gemeinde innerhalb der jüdischen Tradition schliessen, die sogar den Verdacht zulässt, ob die johanneische Schule und Gemeinde nicht noch als eine Strömung in der innerjüdischen Auseinandersetzung über die Frage nach dem wahrem Judentum zu betrachten wäre. Zumindest kann in 1 Joh wie in den anderen johanneischen Schriften die Betonung der Achtung vor den Wurzeln in der jüdischen Tradition und im Respekt vor dem Gemeinsamen festgehalten werden. Damit verbunden erweist sich gleichzeitig die klare Markierung der Differenz zur jüdischen Tradition.

Heute mit dem Verfasser des 1 Joh

Als Perikope, die zum neutestamentlichen Kanon gehört, im liturgischen Gebrauch der Kirche zum Einsatz kommt und die Adressatinnen und Adressaten des 1 Joh bis heute im Blick hat, werden Christinnen und Christen als Kinder Gottes angesprochen. Auch heute werden sie in ihrem Dasein als Kinder Gottes bestätigt. Damit verbunden ergeht auch an sie der Auftrag, dem Geschenk der Gotteskindschaft gerecht zu werden und als Kinder Gottes zu leben. Jesus Christus als Sohn Gottes dient dafür als Vorbild. Die Liebe Gottes zu seinem Sohn und zu den Menschen, die aufgrund des Christusgeschehens in der Taufe aktualisiert ist, ermöglicht nicht nur die Gotteskindschaft der Christinnen und Christen, sondern lässt die Glaubenden auch getragen sein und das Vertrauen spüren, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein. C hristinnen und Christen sind nicht allein Kinder Gottes, sondern die Gotteskindschaft teilen Christinnen und Christen mit Jüdinnen und Juden. Mit seinem Volk Israel hat Gott einen Bund geschlossen, der gilt und nicht aufgelöst worden ist. 1 Joh 3,1–3 will eine Einladung sein, darüber nachzudenken, was diese gemeinsame Gotteskindschaft bedeutet und welche Konsequenzen dies für die religiöse Praxis und für das Leben von Christinnen und Christen und Jüdinnen und Juden hat.

 

Peter G. Kirchschläger

Peter G. Kirchschläger

PD Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger ist Visiting Fellow an der Yale University (USA) und Forschungsmitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.